Leib und Seele – zu Lebzeiten nicht voneinander zu trennen, im Sterben voneinander losgelöst: So lautet unser christlich-europäischer Seelenbegriff beziehungsweise der kleinste gemeinsame Nenner des Verständnisses von Seele. Der Innsbrucker Professor für Christliche Philosophie, Psychologe und Psychotherapeut Hans Goller ergänzt diese Sicht. Wenn die menschliche Seele auch unsichtbar und ihre Existenz nicht beweisbar ist, so ist sie doch körperlich spürbar, zum Beispiel, wenn wir vor Angst zittern oder vor Scham erröten.
Unser gesamtes Erleben, Verhalten und Handeln wird vom Gehirn gesteuert, sagen die Neurologen und Psychologen, die äußeres Verhalten und inneres Erleben des Menschen studieren. Aber noch keiner hat in das Innere seines Mitmenschen hineingeschaut. Von dessen Erleben aus Erste-Person-Perspektive haben wir keine Ahnung!
Wo die Seele im Körper zu verorten ist, fragten sich Philosophen von Platon über Aristoteles bis zu Descartes, und der Innsbrucker Histologe Gustav Sauser resümiert: „Hab viele Leichen seziert, aber nie eine Seele gefunden – immer jedoch den Saum ihres Kleides berührt.“ Anscheinend ist – so Goller – durch neurobiologische Forschungen die Suche nach der Seele im Körper zum Abschluss gekommen: Sämtliche Emotionen werden dem limbischen System, dem emotionalen Gehirn, zugeordnet, kognitive und geistige Fähigkeiten sowie deren Synthese der Großhirnrinde, und chemische Botenstoffe im Nervensystem beeinflussen Stimmung, Denken, Fühlen und Erinnern. Aber Goller wäre kein Theologe, wenn er nicht die Vorstellung eines Lebens nach dem Tod im Blick hätte. Eine Antwort unter vielen gibt der Philosoph Peter Strasser: Der Weg des Menschen zu sich selbst sei erst im Jenseits vollendbar – in welcher Form auch immer. Das heißt: Das Rätsel Seele und was mit ihr nach dem Sterben geschieht bleibt weitgehend ungelöst. Das Geheimnis bleibt, was es ist.
Auch für den norwegischen Kulturwissenschaftler Ole Martin Høystad ist der Kern des europäischen Menschenbildes die Vorstellung einer Seele und die damit zusammenhängende Frage: Bleibt nach dem Tod etwas vom Menschen übrig, und wird es im Jenseits weiterexistieren? Im Lauf der rund 3000 Jahre, dem der Verfasser in seiner Kulturgeschichte folgt, hätten „sich in ihrem Drama große Veränderungen, Umdeutung und Metamorphosen abgespielt“. Das heißt, die Seele wird immer wieder neu erfunden und in das gegenwärtige Menschenbild integriert. Deutlich wird dies am Weg, den die antike Seelenauffassung hin zur christlich geprägten geht, die spätestens mit Plotin in der Spätantike beginnt. Bei Homer taucht die Psyche als Lebensatem zum ersten Mal auf: Körper und Seele werden im Tod voneinander getrennt, ja die Seele manifestiert sich erst im Augenblick des Sterbens; im lebenden Menschen existiert sie nicht. Sokrates hingegen sorgt sich bereits um die Seele des noch lebenden Menschen und empfiehlt, man solle stets die Konsequenzen seines Handelns bedenken. Auch die Vorstellung einer beseelten Natur geht auf die griechische Antike zurück: Nach Aristoteles ist die Seele ein Lebensprinzip, das der Natur Leben gibt.
Zunächst in der naturliebenden Romantik wiederentdeckt, hat das Bild der beseelten Natur im Sinne des Aristoteles in unserer Zeit der ökologischen Bewegung entscheidende Impulse gegeben.
Ähnlich wirkmächtig sind die Erkenntnisse von Sigmund Freud, die von ihrer Gültigkeit nichts eingebüßt haben: Nach ihm wirken in der Seele körperliche wie mentale, intellektuelle wie emotionale, sinnliche wie willensbezogene, instinktive wie rationale Kräfte, während das Ich sie mit Vernunft und Verstand zu koordinieren versucht – und zwar als Kompromiss aus gesellschaftlichen Regeln und persönlichen Wünschen. Bestes Anschauungsmaterial für seine Studien fand Freud in der Literatur als der „Bühne der Seele“, zum Beispiel beim großen Seelenschilderer Dostojewski.
Der Autor widmet Franz Kafka, der den seelischen Prozess seiner Hauptfiguren – stets Abbild seiner selbst – unermüdlich umschreibt, ein eigenes erschütterndes Kapitel mit der Schlussfolgerung: „Es ist nicht gleichgültig, unter welchen Bedingungen und wie man zur Welt kommt, und es ist auch nicht gleichgültig, wie man sie verlässt… Wie man lebt, so stirbt man.“
Sowohl belesene Laien als auch Wissenschaftler werden von den beiden lesenswerten Arbeiten profitieren. Während Gollers Buch einem Universitäts-Seminar in Aufbau und Gründlichkeit gleicht, ist Høystads Kulturgeschichte ausführlicher und geht mit Hilfe von Originalzitaten mehr in die Tiefe.