Bye, bye, Transzendenz“. Die Kirchen haben den Himmel vergessen. Stattdessen belehren sie mit irdischen Weisungen die Öffentlichkeit, als außerparlamentarische Werteagentur für den Ruck durch die Gesellschaft. Das Religiöse, Ewige, Gott hingegen haben sie verloren, freiwillig preisgegeben – weil es der Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr gefällt? Politisieren statt beten, Flüchtlingscafés statt Gottesdienste, Klimapapiere statt Volksmission. Sogar Bischofskonferenzen beschäftigen sich inzwischen lieber mit Wärmedämmung, statt Reformen für eine innovative Glaubensentwicklung und mehr qualifizierte Seelsorger in Angriff zu nehmen. Ein seltsamer Perspektivenwechsel, den die Zeitschrift „Cicero“ neulich für eine scharfe Abrechnung nutzte.
Die Autorin, Sophie Dannenberg, Filmwissenschaftlerin und Publizistin, ließ keine Verdächtigung aus, um in einem über weite Strecken polemischen bis süffisanten Beitrag pauschal die diakonischen Aktivitäten und politischen Kirchen-Statements als Ausweichmanöver zu karikieren. Deren Ziel sei es, die Kirchen als gesellschaftlich relevant erscheinen zu lassen. Während der Glaube schwindet, soll Appellmoral die immer gewaltiger klaffende intellektuelle wie geistliche Lücke schließen. Den Abbruch des Religiösen versuchten die Kirchenführer wettzumachen, indem sie dem Zeitgeist hinterherhecheln: Klimaschutz, Genderforschung, Rüstungswahn, Asyl. Kein Thema werde ausgelassen, um zu zeigen, wie sehr man mit der Zeit gehe.
Das soziale Engagement der Kirchen wird in der Tat nach wie vor vom Volk respektiert. Was aber ist mit dem liturgischen, sakramentalen, spirituellen Engagement? Wer geht noch in die Kirche, wer will von Gottesdiensten und Sakramenten noch etwas wissen, geschweige denn von Kreuz, Sünde, Tod, Gericht und Auferstehung?
Die Flüchtlingskrise – so der Verdacht – habe den Kirchen einen gewissen Aufschwung beschert. Zumindest hätten sie sich von der Kleiderkammer bis zum Deutschkurs als unersetzliche Stütze des Staates und vor allem der Regierungspolitik Angela Merkels darstellen können. „Politik wird damit zum Ausdruck eines grenzenlosen Gutseins reduziert. Umgekehrt wird die Verkündigung zur Apologie politischen Handelns.“
Von Seelenrettung zu Weltrettung
Insgesamt beklagt der Beitrag einen Linksrutsch im Kirchenwesen, ganz besonders ausgeprägt auf evangelischer Seite. Als Gewährsmann wird der evangelikale Prediger Ulrich Parzany zitiert: „Die Kirchen haben sich schon immer politisch engagiert. Geändert hat sich, dass die evangelischen Kirchen sich in letzter Zeit überwiegend einseitig rot-grün positionieren. Peinlich ist, dass keine vier Prozent ihrer Mitglieder an ihren Gottesdiensten teilnehmen. Die Kirchen erreichen mit der Verkündigung des Evangeliums die meisten ihrer Mitglieder nicht, wollen aber in der Öffentlichkeit politisch das große Wort führen.“
Die Autorin ergänzt, Jesus habe zwar gesagt: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Inzwischen hingegen sehe es so aus, „als sei die feine Membran zwischen Himmel und Erde durchstoßen. Das Politische tränkt die religiösen Sphären, das Religiöse drängt ins Politische.“ In Anspielung auf verschiedene friedens- und sozialethische Stellungnahmen der bekanntesten evangelischen Kirchenfrau wird das als „Käßmannisierung der Politik“ veralbert. Die Christen haben nach Sophie Dannenbergs Einschätzung vergessen, wer sie sind. „Sie retten keine Seelen mehr, nur noch die ganze Welt.“
Auch in der katholischen Kirche meint die Verfasserin einen Linksrutsch zu erkennen, namentlich in der Person des Münchener Kardinals Reinhard Marx. Er erwecke den Eindruck, er wolle „die Partei, die sich ‚Die Linke‘ nennt, links überholen“, womit sich der Artikel auf eine Aussage des Extremismusforschers Klaus Schroeder bezieht. In der Flüchtlingsdebatte habe Marx sich – mit anderen – zum Fürsprecher und Verteidiger des Handelns der Bundeskanzlerin gemacht. Zwar fällt hier nicht das frühere Reizwort „Merkel-Kirche“, Marx wird jedoch direkt beschuldigt. Er habe die chaotische Grenzöffnung von 2015 „zum Akt des Glaubens“ stilisiert. Und selbst Papst Franziskus habe Deutschland für die Aufnahme der Flüchtlinge gedankt.
Die Migrationsproblematik macht „Cicero“ zum Stein des Anstoßes, um mit den Kirchen überhaupt abzurechnen. Gern wüsste man, ob die Autorin zu den beklagten bloß noch wenigen Prozent gehört, die den sonntäglichen Kirchgang ernstnehmen und das religiöse Bekenntnis zum Christusglauben und zur Auferstehung, zur Transzendenz und zur christlichen Nächstenliebe ablegen. Oder dienen ihr die Frommen, die häufig auch die diakonisch Engagiertesten sind, bloß als Futter für eine Kanonade, die ganz anderes im Sinn hat, als christliche Frömmigkeit und Tatkraft in modernem Kontext zu fördern?
Als theologischer Gewährsmann muss für die „Cicero“-Schelte, festgemacht an der Grenzöffnung für Flüchtlinge, der Pastoraltheologe Hubert Windisch herhalten: „Theologisch nicht korrekt wird dort argumentiert und auch gehandelt, wo die Individualethik Jesu kurzschlüssig in die Sozialethik eines Staates übergeht. Um auf biblischem Fundament staatlich handeln zu können, braucht es einige Schritte im Zusammenhang von Glaube und Vernunft, den sowohl Papst Johannes Paul II. als auch Papst Benedikt XVI. immer wieder betont haben, dem aber der jetzige Papst nicht ganz gewachsen zu sein scheint.“
Ein Papst wollte Entweltlichung
Schlussendlich wird auf die Freiburger Konzerthausrede von Benedikt XVI. verwiesen. 2011 hatte der damalige Papst vor einer Vermischung des Religiösen mit säkularen Interessen und Gewohnheiten gewarnt und eine Entweltlichung, insbesondere der kirchlichen Institutionen, angemahnt. Das nimmt das – wie es sich selbst bezeichnet – „Magazin für politische Kultur“ zum Anlass für einen Rundumschlag gegen die Getauften und religiös wie humanitär Tätigen: Sie hätten „jetzt neue Götter, die wie damals bei den Griechen die Welt besiedeln – den Gender-Gott, den Antirassismus-Gott, den Klima-Gott. Ihre CO-Gesamtbilanz kennen die Kirchen inzwischen wohl besser als das Evangelium.“
Als Christ und Bürger mag man sich über derartige Behauptungen und Unterstellungen ärgern. Sie geben aber Anlass, reale Missstände beziehungsweise Ungleichgewichte zu überprüfen und zu fragen, warum die Wahrnehmung von Kirche derart maßlos einseitig ausfällt, ja warum überhaupt ein solcher Eindruck entstehen kann.
Es beginnt schon damit, dass die private, wenn auch öffentlich geäußerte, politische Meinung prominenter Kirchen-Persönlichkeiten – ob Kleriker oder Laien – offenbar verwechselt wird mit den doch sehr verschiedenen Einschätzungen der Individuen im Volk Gottes. Nicht das Zentralkomitee der deutschen Katholiken, nicht der Evangelische Kirchentag, nicht der Kardinal X oder der Landesbischof Y sind Kirche. Wir sind Kirche – und das selbstverständlich auch im Widerstreit der theologischen wie politischen Argumente und religiösen wie weltlichen Erfahrungen, Einschätzungen, Güterabwägungen sowie Interessen.
Gastfreundschaft mal ja, mal nein
Auf katholischer Seite hat das Zweite Vatikanische Konzil in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten bejaht und betont. Da kann es kein natural gegebenes Besserwissen der lehramtlichen Obrigkeit gegenüber dem „Laien“ geben. Im entsprechenden Abschnitt des Konzilsdokuments heißt es: „Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten verstehen, dass die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen und gestalten muss, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern. Das ist nicht nur eine Forderung der Menschen unserer Zeit, sondern entspricht auch dem Willen des Schöpfers. Durch ihr Geschaffensein selber nämlich haben alle Einzelwirklichkeiten ihren festen Eigenstand, ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Gutheit sowie ihre Eigengesetzlichkeit und ihre eigenen Ordnungen, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode achten muss.“ Das gilt genauso für Ereignisse, die wie die Migrationsbewegungen in gewaltigen Größenordnungen politikwissenschaftlich, rechtswissenschaftlich, kulturwissenschaftlich zu bedenken und nach Maß, Ordnung und Sozialverträglichkeit abzuwägen sind.
Es ist daher schon erstaunlich, wie selbstsicher angesichts dieser komplexen Probleme, deren Folgen niemand wirklich abschätzen kann, ein Kardinal weiß oder zu wissen vorgibt, welche große Zahl an zugewanderten jungen muslimischen Männern einem Staatswesen mit abendländischer Kultur zuträglich sei, während er auf der religiösen Seite abwehrend Reformen blockiert, die gemischtkonfessionellen Familien die gemeinsame Teilnahme an Eucharistie und Abendmahl, also die Gastfreundschaft in der Communio, im Herrenmahl, gestatten würden. Politisch dürfen Grenzen fallen, religiös bleiben sie inmitten der gemeinsamen Hauskirche familien- und ehespaltend errichtet. Zwischen einander fremden Muslimen und Christen gilt fundamental Gastfreundschaft, zwischen im Glauben verbundenen Christen und Christen sakramental nicht.
Zum christlichen Selbstverständnis gehört es seit der Jerusalemer Urgemeinde, caritativ zu handeln, die Werke der leiblichen und geistlichen Barmherzigkeit getreu der Frohen Botschaft zu üben, natürlich auch gegenüber dem – einzelnen – obdachlosen Fremdling, wie es in der matthäischen Endzeitrede Jesu erwähnt ist. Dieser andere Lebensstil als Glaubensstil hat wesentlich zur Überwindung der heidnischen Antike und zur Konstituierung des christlichen Abendlands beigetragen. Dass der „Cicero“-Artikel in seinem Plädoyer für das Spirituelle engagierten Christen ausgerechnet eine Fürsorglichkeit vorwirft, die bereits jesuanisch verankert ist, erscheint grotesk. Wer sich derart besserwisserisch religiös aufschwingt, sollte sich in der Christus-Tradition schon auskennen.
Allerdings geht das Religiöse in Moral nicht auf. Der Glaube an Gott, an die Auferweckung Jesu Christi und die Auferstehung der Toten, an ein Letztes Gericht und an eine Erlösung durch Vergebung der Sünden öffnet noch eine ganz andere Dimension als die des bloßen „Seid nett und gut zueinander“. Wo die Diesseitsvertröstung den Jenseitsglauben verdrängt hat, müssten Lehramt und Theologie sich mehr anstrengen, die Gottesfrage unter den Bedingungen heutiger Welterfahrung plausibel zu machen. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, dass die politische wie soziale Moralisiererei bloß eine Ablenkung von der eigenen Ratlosigkeit und dem Unwillen ist, an die religiöse Substanz zu gehen und ungemütliche Denkwege einzuschlagen, die mit bisherigen Traditionen und klassischen Glaubensvorstellungen brechen, welche sich als nicht mehr tragfähig erweisen. Statt innovativer Theologie kleinmütige Appellethik. Statt Geheimnis des Glaubens Allerweltsweisheiten. Theologie und Lehrautorität auf der Flucht vor ihrem „Objekt“. Oder haben sie – vollauf beschäftigt mit Sekundärem – ihren eigentlichen „Gegenstand“ verloren? Ganz falsch liegt Sophie Dannenberg nicht mit ihrer Vermutung: Wenn das Jenseits ins Gespräch gebracht wird – „das ist schon ein Schock, eigentlich eine Unhöflichkeit“. Womöglich hat der streitbare junge methodistische Theologe Sebastian Moll recht mit seiner Einschätzung: „Viel schwerer als die Verquickung der Politik mit dem Religiösen wiegt der Verlust der Transzendenz. Es ist nicht so, dass die Leute sich nicht mehr danach sehnen. Aber sie erfahren in den Kirchen immer weniger darüber.“
Der Befreiungstheologie sei Dank
Trotzdem ist und bleibt Christsein politisch – allein schon dadurch, dass es die Leiden der Bedrängten aller Art in kritischer Erinnerung wachhält und im Heiland das Heilende messianisch für Seele und Leib erwartet. Das Reich Gottes ist nicht indifferent gegenüber den Welthandelspreisen, wie die Würzburger Synode der westdeutschen Bistümer in den siebziger Jahren formulierte. Laien wie Klerus haben auch die Pflicht zum sich widersetzenden Bekenntnis, zum Status confessionis, wenn das Gewissen der Menschen verblendet, die Gewissensbildung durch menschenverachtende, gottwidrige Propaganda pervertiert wird. Mutige Bischöfe und Theologen haben sich zum Beispiel über die Wiederentdeckung der biblisch begründeten Befreiungstheologie gegen die Totalitarismen von Militärdiktaturen gestellt und damit dem Volk geholfen, sich zu erheben und zu organisieren. Lateinamerika hat dieser Bewegung aus religiösem Geist einen politischen Geist zu verdanken, der nach langen, bleiernen Zeiten brutaler Menschenrechtsverletzungen Demokratisierung inspirierte.
Als Christen „Atheisten“ waren
Andererseits ist es kein Ruhmesblatt fürs Christentum, dass es sich in seinen Meinungsführern immer wieder den jeweils herrschenden Systemen anpasste. Wann wird die Kirche zu einer hörigen, faktischen Staatskirche, ohne offiziell Staatskirche zu sein? Die Versuchung, mit der jeweiligen Macht zu paktieren, ob aus Einsicht oder nur aus Taktik, verschwindet nicht. Das produziert Widersprüche in ein und derselben Glaubensgemeinschaft. So kam die Kirchenführung in Deutschland angesichts der Flüchtlingskrise zu anderen Schlüssen als die in Polen oder in Ungarn im Einvernehmen mit den dortigen nationalkonservativen Regierungen. In Moskau wagt es das orthodoxe Patriarchat nicht, gegen die „gelenkte Demokratie“ des Autokraten Putin aufzubegehren. Die babylonische Gefangenschaft des Reichskirchenwesens ist selbst in einer Epoche ohne „Reich“ keineswegs Vergangenheit. Der Klerofaschismus und die Untertänigkeit der Deutschen Christen gegenüber Hitler sind als warnendes Beispiel nicht vergessen. Aus guten Gründen ist es – zumindest im katholischen Kirchenrecht – Geistlichen verboten, politische Ämter zu übernehmen. In anderen Religionen – ob im islamischen, hinduistischen oder buddhistischen Kulturkreis – dienen sich geistliche Führungen der politischen Macht nach wie vor völlig selbstverständlich an.
Es ist einzigartig dem Christentum zu verdanken, die archaische Einheit von Kult und Politik aufgelöst, die Herrschermacht, die sich als Allmacht vergöttert, entmythologisiert zu haben. Darauf hat der Politik- und Kulturwissenschaftler Hans Maier hingewiesen. Die Entdivinisierung ist bereits biblisch angelegt im völlig anderen Herrschaftsanspruch des Messias und seiner ernüchternden Aufforderung: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes ist.“ Daher beteten die frühen Christen zwar für den römischen Kaiser und das Reich, aber sie lehnten das Kaiseropfer ab. Für den Widerstand mussten die Christen mit Verfolgung, Martyrium büßen. Weil sie den Staatskult verweigerten, waren sie vom Mainstream verachtet als „Atheisten“, so Maier in der Zeitschrift „Die politische Meinung“. Damals begann ein Ablöse-, ein Differenzierungsprozess, der sich mit den Gewaltenteilungskonflikten zwischen Kaiser und Papst im Mittelalter beschleunigte und schließlich geistig die neuzeitlichen Prozesse gegenseitiger Kontrolle und komplexer politisch-juridischer Balancen begünstigte: „Das Politische ist nichts Göttliches. Es wird – christlich gesprochen – zu sich selbst, zu seinen irdischen Zwecken befreit. Seine eigene, nicht mehr mit Religion und Kult ununterscheidbar verflochtene Geschichte beginnt.“
An die Stelle der Anbetung des allmächtigen irdischen Herrschers trat mit dem Christentum das Prinzip Verantwortung. „So musste sich der jeweilige Herrschaftsträger vor seinen Mitmenschen und vor Gott verantworten, da er seine Herrschaft als ‚Lehen‘, als Amt und Auftrag, nicht als willkürlichen Besitz innehatte. Hierin lag die Möglichkeit einer Modifikation von Herrschaft, ihrer Umwandlung in eine Ordnung, in der sich eine allseitige Verantwortlichkeit entwickeln konnte – die Grundvoraussetzung für den modernen Rechts- und Verfassungsstaat.“ Die ehemals vererbte Macht mutierte zum Amt durch Beauftragung, das Amt zum Dienst. Mit der Befreiung der Politik vom Religiösen wurde das Religiöse zu sich selbst befreit, auch wenn es, wie Maier feststellt, immer wieder zu „Regressionen in die mythische Einheit von Kult und Politik“ kam, „zur Leugnung des für die Geschichte nach Christus geltenden ‚eschatologischen Vorbehalts‘. Selbst in der abgeschwächten Form der ‚Zivilreligion‘ rivalisiert diese Tendenz bis heute mit den Kräften christlicher Weltfreigabe.“ Die Geschichte des Christentums ist trotz aller Rückfälle alles in allem eine „Geschichte der fortwährenden Destruktion ‚politischer Theologien‘“.
Statt politisieren evangelisieren
Der entscheidende Schritt gelang allerdings erst dem modernen Verfassungsstaat. „Er schafft klare Verantwortungsräume und Verantwortungszeiten. Er macht deutlich, wer sich zu verantworten hat, in welchen zeitlichen Abständen, vor welchen Instanzen, mit welchen Verfahren der Bestätigung oder Verwerfung. Vor allem: Er zerlegt die Machtausübung und macht sie dadurch der Übersicht und Kontrolle zugänglich. Eine Vielzahl rechtlicher und politischer Verantwortungsfelder entsteht.“
Diesen Prozess komplexer Kontrollmechanismen und der Pluralisierung haben die Kirchen, vor allem jene mit betont steilen Hierarchien, bisher nicht vollzogen. Von daher kommt es immer wieder zum Missverständnis, dass das, was einzelne Kirchenführer als ihre politische Auffassung kundtun, das sei, was „Kirche“ meint und denkt. Kirche aber sind alle Getauften.
Auch „die Kirche“ kann irren, jeder Christ ohnehin. Alle sind Sünder und auf die Barmherzigkeit Gottes angewiesen. Was das Christliche betrifft, müssen die Ungleichgewichte zwischen zuviel Moral und zuwenig Glaube beseitigt werden. Es sollte das Besondere wieder ins Zentrum religiöser Besinnung und Erneuerung rücken: der Christusimpuls, die Sehnsucht nach dem Befreienden, Erlösenden, Göttlichen, Ewigen. Dieses Wesentliche anzuregen, zu inspirieren – dafür ist Kirche da. Die Kirchenleitung wiederum ist qua Amt dazu berufen, die vordringlichen religiösen Hausaufgaben zu machen, Reformen voranzubringen. Da gibt es mehr als genug zu tun.
Seine Autorität gewinnt das kirchliche Lehramt nicht durch Politisieren, sondern durch Evangelisieren, nicht durch Traditionalismus, sondern durch die Tradition innovativer Theologie. Wahrheit kommt nicht von außen, sondern wird erweckt von innen. Wo Religion Religion ist und bleibt, wird sie gewinnen – und die Gesellschaft mit ihr. Christsein jedenfalls war, ist und bleibt politisch, weil Christen stets auch Bürger sind, Staatsbürger, Weltbürger – in Verantwortung vor Gott und den Menschen, nicht von der Welt, aber mitten in der Welt.