Man reibt sich verwundert die Augen: ein theologisches Buch zu Karl Marx – bald dreißig Jahre nach dem Zusammenbruch kommunistischer Herrschaft in Osteuropa?! Der Verlag zeigt Mut, und das zahlt sich aus. Der Theologe Bruno Kern beweist in seinem Essay zur Religionskritik von Marx, dass sein Thema gerade jetzt aktuell ist: Zum einen kann das Christentum in der Auseinandersetzung mit der Religionskritik von Karl Marx lernen, worauf es den Kirchen ankommen sollte. Die Glaubensgemeinschaft sollte (auch) eine historisch und gesellschaftlich wirksame befreiende Praxis leben, anstelle, wie heute wieder häufiger zu beobachten, lediglich Rückzugsort für die Versehrten und Geschädigten eines zeitgenössischen Turbokapitalismus zu sein. Zum anderen kann der christliche Glaube mit der Marx’schen Analyse der wirtschaftlichen Verhältnisse sich „Rechenschaft über seine Hoffnung“ ablegen: auf eine Umkehrung aller Unterdrückung und Verdrängung zu setzen.
Das Buch ist unzeitgemäß, aber es kommt nicht zur Unzeit: Manche Perspektiven, die der Autor mit Sensibilität für die veränderten historischen Zusammenhänge gegenüber den Hochzeiten des Marxismus entwickelt, entfalten unmittelbare Prägnanz, sie leuchten ein. In dem Maße, in dem es Marx – nicht dem Marxismus und den sozialistischen Systemen in seiner Nachfolge – um eine Humanisierung menschlicher Existenz ging, kann er Dialogpartner für Christen sein, die ihre eigene welthafte Berufung an diesem Denken schärfen können.