Zu den Geschenken Altisraels an die Menschheit gehören die 150 Psalmen. Psalm heißt „gezupftes Lied“: Alle Gegensätze der Welt werden ins Gebet genommen. Uwe Kolbe, einer der wichtigsten Lyriker stellt sich in diese Sprech- und Sprachgeschichte – „auch wenn die Saiten gesprungen / und können ersetzt nicht werden“. Selbst die direkte Anrede „Du“ wird gewagt, und sogar das belastete „Herr“. „Mag das ein Lied nennen, wer will. Der ist nicht allein, der es kann. Gelobt seist du, Niemand.“
Manche Gedichte schreiben biblische Vorlagen originell fort, etwa die Collage zum Bußpsalm 130. Andere wagen den Exodus ins innere Ausland, tastend. „Ich habe keine Ausreden mehr“, heißt es ohne Schonung, aber auch: „Ich hoffe wieder“. Große Worte der Tradition, schon wie verbraucht, werden gewürdigt: Gnade, Wunder, Überschuss. „Schneeblind“ und wie geblendet von Größerem entdeckt sich das betende Ich. Und immer die Unterbrechung, das Fragen – und die Farbe „Weiß“ im Ineinsfall der Gegensätze, „und alle Worte zu dem Schweigen“.
Zum Geleit notiert der Lyriker: „Das sind Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?“ Da hat einer Verlorenes wiedergefunden, Unerhörtes. Er lädt zum Hören ein. Dazu braucht es geduldiges Verweilen bei Sprachbildern und Wortfeldern. Es braucht auch lautes Murmeln und stilles Meditieren. „Im Niemandsland zwischen Verrat und Verkündigung“ (Ilse Aichinger) geht Kolbe den Lesern zur Seite mit der Frage „Hörst du die Stimme?“