Wie konnte all das geschehen?“, fragte Lew Kopelew (1912–1997) stellvertretend für eine ganze Generation begeisterungsfähiger Intellektueller. In seinem autobiografischen Band „Und schuf mir einen Götzen“ setzte sich der später ausgebürgerte Germanist mit der Faszinationskraft der kommunistischen Ideologie auseinander: Noch 1932 habe er für Stalin an der ukrainischen „Getreidefront“ Lebensmittel für den Export beschlagnahmt. Kurz darauf fielen dem „großen Hunger“ (Holodomor) weit über vier Millionen Ukrainer, darunter ungezählte Kinder, zum Opfer.
Der Jungkommunist mit ukrainisch-russisch-jüdischen Wurzeln erkannte später, dass er persönlich schuldig geworden war: durch seinen grenzenlosen Glauben an den „neuen Menschen“. Darin liegt auch der Dreh- und Angelpunkt von Gerd Koenens monumentaler Weltgeschichte sozialistisch-kommunistischer Ideen. Die Wurzeln dieses egalitären Projekts legt ihr Autor in der vermeintlich „klassenlosen Urgesellschaft“ (Friedrich Engels) frei. Er entdeckt sie in der wirkmächtigen Sozialform der frühen christlichen Gemeinde. Ihre bahnbrechende Rolle „für die Geburt der modernen Welt“, so Koenen, „lag vielleicht gar nicht so sehr in ihren Lehren…, sondern eher in ihrer sozialen Daseinsweise“. Kommunistische Ansätze identifiziert der Verfasser in Mittelalter und Moderne, zum Beispiel beim Prediger Thomas Müntzer, dem „Utopia“-Autor Thomas Morus sowie im ungeheuren Tugendpathos Robespierres, und er findet sie heute in religiösen Erzählungen, philosophischen Lehren, Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens sowie in literarischen Utopien. Zwanzig Jahre nach dem Tod des russisch-deutschen Brückenbauers Kopelew legt sein einstiger Mitstreiter mit „Die Farbe Rot“ eine der wichtigsten Neuerscheinungen vor. Dass Koenen souverän mit allen Erscheinungsformen kommunistischer Weltanschauung umzugehen vermag, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass der 1944 geborene Historiker als Mitglied des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes selbst ein „rotes Jahrzehnt“ durchlebte, ehe er damit begann, quasireligiöse politische Dogmen infrage zu stellen.
Die Farbwahl Rot
Koenens Werk ist der Höhepunkt seiner Forschungsarbeit. Der Band ist ein Kompendium, das von „Athen und Atlantis“ über den „Religiösen Kommunismus und Kapitalismus“, die Französische Revolution sowie Marx, Engels und Lenin bis hin zur heutigen Bedeutung der KP Chinas sozialistisch-kommunistische Ideen aufspürt, zugleich jedoch deren politische Konsequenzen – etwa im stalinistischen Terror – kritisch beleuchtet. Der riesige, manchmal kaum zu überblickende Wissensspeicher ist aufgeteilt in vier umfangreiche Bücher: „Kommunismus als Weltgeschichte“; „Das Marx’sche Momentum“; „Warum Russland?“; „Der Kommunismus in seinem Zeitalter“.
Gleich im Prolog erklärt der Autor, warum „Rot“ in einem langen Entwicklungsprozess „zur Farbe der volkstümlichen Auflehnung und der proletarischen Rebellion“ werden konnte: „Mit dieser Farbwahl verwies man nicht nur die buntscheckigen feudalen Embleme und Standarten in den Orkus der Geschichte, sondern verwarf auch die trennende Vielfalt der Trikoloren und Nationalfahnen.“ Mit der Farbe Rot, so Koenen, wollten die Sozialisten zur wahren „Menschheitspartei“ werden. Der Rezensent erinnert sich an 1975. Damals erklärte ihm eine Staatsbürgerkundelehrerin die Welt als Wechselspiel von Farbtönen: dass nämlich die „Farbe Rot“ nach der Niederlage der Amerikaner in Vietnam nicht nur in Asien, sondern auch in Afrika und Lateinamerika auf dem Vormarsch sei und dass bereits die Hälfte der Weltbevölkerung dem Roten Stern folge. Der Blaue Planet, so ihr scherzhaftes Resümee, werde den Sojus-Kosmonauten aus ihrer Umlaufbahn im All bald rot erscheinen.
Marx ohne Arme und Beine
Warum konnte der Kommunismus nach dem Erfolg der Oktoberrevolution 1917 mit atheistischem Furor und messianischem Eifer zur größten Massenbewegung des 20. Jahrhunderts aufsteigen? Und weshalb kam es nach dem Triumph des kommunistischen Weltsystems in nur zwei Jahrzehnten zu dessen völligem Verschwinden? Polen – zehn Jahre; Ungarn – zehn Monate; DDR – zehn Wochen; Tschechoslowakei – zehn Tage. Der Frankfurter Historiker begnügt sich nicht damit, das Ende der Sowjetunion auf Michail Gorbatschows fehlgeschlagene Reformversuche zurückzuführen. Er erkennt darin vielmehr auch das Scheitern einer mehr als zwei Jahrtausende alten Menschheitsidee.
Bereits zu Anfang der Darstellung kommt der Autor auf eine zentrale theologische Denkfigur nach der Vorrede des Johannesevangeliums zu sprechen: „Im Anfang des Kommunismus war das Wort. Zumindest darin scheinen die Kommunisten mit ihren Kritikern einer Meinung gewesen zu sein – obwohl sie als historische Materialisten eigentlich jede ‚ideo-logische‘ Interpretation ihres Handelns hätten ablehnen und mit Goethes Faust sagen müssen: Im Anfang war die Tat, die Sache, die Tatsache.“ Warum spielten Wort, Gedanke und Geist für die kommunistische Ideologie eine so große Rolle? Warum erstrebten nicht bloß Lenin, Stalin und Mao, sondern auch der rumänische Diktator Nicolae Ceaușescu die Aura von Großtheoretikern einer zukünftigen Gesellschaft? Koenen gibt darauf eine Antwort, die zu zeigen vermag, dass der Geschichte gemäß sozialistisch-kommunistischer Utopie immer ein säkulares Ziel, ein innerweltliches Telos, vorgegeben sei – und dass diese absolutistischen Herrschergestalten dabei selbst glaubten, an der Spitze der Menschheit zu marschieren. In diesen „Führern zum Kommunismus“, so der Autor, „war das Wort Fleisch geworden“. Weniges habe diese Vorstellung „sinnfälliger verkörpert als der überlebensgroße, sieben Meter hohe und vierzig Tonnen schwere, körperlos auf einem hohen Sockel schwebende Bronzekopf, der am 9. Oktober 1971 in der zu ‚Karl-Marx-Stadt‘ umgetauften alten Industriestadt Chemnitz enthüllt wurde“.
Tatsächlich modellierte der sowjetische Spezialist für solche Monumente, Lew Kerbel, den Begründer des „Wissenschaftlichen Sozialismus“, Karl Marx, als riesigen Kopf ohne Arme und Beine – denn was Bedeutenderes könne man von einem Menschen aussagen, als dass seine Ideen die Welt revolutioniert hätten? Aber möglicherweise zeigte sich schon hier, dass die Ideologie längst dabei war, ihre Bodenhaftung zu verlieren und an der conditio humana zu scheitern.
Zwar blieb die von Marx für die fortschrittlichsten Länder Westeuropas prognostizierte Revolution aus, dennoch machte die kommunistische Gesellschaftsutopie unerwartet Karriere: durch den radikalsten Flügel der russischen Sozialdemokratie (Bolschewiki). „‚Ein strahlendes, fremdartiges Licht‘ habe wie von oben alle geblendet, die bei Lenins Ankunft auf dem Finnischen Bahnhof in Petrograd am 3./16. April 1917 zugegen waren“, zitiert Koenen den später hingerichteten Nikolai Suchanow. Wie aber gelangte der Berufsrevolutionär mitten im Weltkrieg aus dem Schweizer Exil nach Sankt Petersburg? Kurz hatte der Exilant sogar über falsche Pässe und Perücken nachgedacht, dann aber entschloss er sich, mit dem deutschen Kaiserreich zu paktieren: Seine Reise im verschlossenen Eisenbahnwagen über Zürich, Stuttgart, Saßnitz und weiter via Schweden und Finnland gewinnt bei Koenen zu Recht die Bedeutung einer Schlüsselgeschichte des 20. Jahrhunderts. Sie ist eine Epochenzäsur, der Stefan Zweig die letzte seiner „Sternstunden der Menschheit“ widmete.
Der Einbalsamierte
Nichts habe den Triumph der bolschewistischen Gottbildnerei und eines magischen Szientismus so versinnbildlicht „wie der einbalsamierte Lenin in seinem gläsernen Sarg im ägyptischen Totentempel auf dem Roten Platz“, erklärt der Kritiker pseudoreligiöser Höhenflüge. Genau hier, in der Mitte Moskaus, wird damit deutlich, wie unmittelbar das kommunistische Credo zum Religionsersatz mutierte.
Insgesamt ist festzuhalten: Politische Religion, das zeigt Koenen sehr eindrucksvoll, tendiert dazu, sich ideologisch immer höher aufzuschwingen, aber an der realen Beschaffenheit des Homo sapiens zu scheitern. Gerd Koenens über tausend Seiten langer Essay ist eine brillant komponierte und geschriebene Studie. Nicht allein vom Umfang her ein wirkliches Opus magnum.