Neun ReformthesenWie sich der christliche Glaube erneuern kann

Die Kirche muss sich ständig an Haupt und Gliedern reformieren. Das forderte schon Augustinus. Martin Luther hat vor 500 Jahren seine Thesen veröffentlicht. Auch wir haben Vorschläge für das Glaubensleben, damit die christliche Botschaft die Menschen in einem modernen Lebenshorizont erreicht.

These 1: Die Kirche braucht eine Sprachoffensive – nach innen und nach außen.

„Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott“ (Joh 1)

Gott und Sprache hängen aufs Engste zusammen. Es ist das Wort, das Wirklichkeit schafft. Von den Worten der Kirche werden immer weniger Menschen angesprochen. Somit ist weniger Gott in der Welt. Gerade die Amtsträger müssen eine Sprache finden, die aufgeklärte Menschen existenziell ergreift. Eine Sprache zugleich, die eine breite Basis hat und ebenso von Menschen außerhalb des kirchlichen Milieus verstanden werden kann. Die Kirche muss dazu zur Meisterin der Übersetzung werden. Sie muss ihre Tradition so gut verstehen, dass sie diese nicht nur ohne Bedeutungsverlust, sondern mit einem Bedeutungsgewinn in unserer Zeit neu sagen kann. Sie muss zugleich Überkommenes (Floskeln, die über Unkenntnis hinwegtäuschen sollen; Formeln, die aufgrund von Gedankenleere, Interesse- und Leidenschaftslosigkeit heruntergebetet werden; Riten als leere, bedeutungsverlorene Alibihandlungen) abwerfen, sofern die Kirche das Gemeinte nicht in zeitgemäßer Sprache plausibel machen kann.

Der naturwissenschaftliche Horizont mit stets atemberaubend neuen Erkenntnissen prägt nachhaltig das Leben, Denken und Fühlen. Mit dem Wissenszuwachs verändert sich auch die Sprache, das Sprechen. Der Mensch muss seine Sprache stetig weiterentwickeln, auch religiös. Er braucht ein Gespür dafür, dass es verschiedene Sprachräume und Sprachebenen gibt. Dass Sprache lebendig ist – und nicht aus in Stein gemeißelten Sätzen besteht. Dass Sprache prozesshaft ist – und nicht formelhaft statisch. Dass Sprache nur als etwas Organisches Kraft entwickelt und nur so zu Gottes Atem wird. Dass zum Beispiel die bloße Information etwas anderes ist als eine existenzielle Ansprache, die den Menschen in seinem Selbstverständnis wandelt. Die Kirche muss Menschen befähigen, theologische Fragen und Aussagen von naturwissenschaftlichen oder historischen Sätzen zu unterscheiden, damit sie wieder einen Sinn für Symbole, Bilder und Erzählungen entwickeln.

Die wissenschaftliche Theologie muss dazu vorarbeiten. Anstatt sich nur noch auf einer akademischen Metaebene mit sich selbst oder mit anderen Wissenschaften auf Basis von Detailwissen auszutauschen, muss sie sich darauf besinnen, dass sie eine Wissenschaft eigener Art ist, die die Grundlagen für die Sprachbefähigung des Glaubens zu schaffen hat: Welche Bedeutung hat Sprache? Welche Sprachprozesse laufen ab? Wie lassen sich zentrale Begriffe des Glaubens (Auferstehung, Person, Glaube, Sünde, Sühne, Sakramente) sprachlich so erschließen, dass sie ein Schatz fürs Leben und Sterben sind und nicht nur Wortgeklingel im akademischen Elfenbeinturm?

Im Zentrum jedes kirchlichen Tuns muss das Verstehen der göttlichen Botschaft stehen. Diese muss den Menschen ihre existenziell wichtigen Fragen erschließen helfen und Antworten bieten, abhängig vom kulturellen Verstehenshorizont jedes Einzelnen. Auch das Unsagbare muss als solches reflektiert und benannt werden.

These 2: Die Kirche muss verdeutlichen, dass die Bibel Gotteswort in Menschenwort ist.

„Da antwortete der Herr dem Ijob und sprach: Wer ist es, der den Ratschluss verdunkelt mit Gerede ohne Einsicht?“ (Ijob 38)

In allen Bereichen der Kirche, im Gottesdienst, in der Katechese und Seelsorge, bei offiziellen Anlässen und im Privaten, sollte ein Verständnis der Bibel vorherrschen, das den Erkenntnissen der Wissenschaft und einem aufgeklärten Weltbild Rechnung trägt. Dabei gilt es, die historisch-kritische Exegese ernstzunehmen und wirklich durchzubuchstabieren, dass die Bibel Gotteswort in Menschenwort ist. Das heißt, sie atmet Gottes Geist, transportiert die Botschaft seiner Liebe zu den Menschen. Doch die biblischen Autoren sind Schriftsteller, die komponieren und korrigieren. Sie sagen etwas über Gott, Christus und die Welt in den Worten ihrer Zeit. Unser Erfahrungshorizont ist ein anderer, neuzeitliche Skepsis und den Zweifel eingeschlossen. Die biblischen Texte gewinnen an Autorität, wenn in der Verkündigung deutlich wird, dass verschiedene Perspektiven und Widersprüche nicht Lügen sind, sondern Versuche, der Wahrheit ein Gesicht zu geben.

Ferner ist zu bedenken, dass viele Inhalte der Bibel und des Glaubensbekenntnisses auch Ergebnisse theologischen Streits sind und dass politische und wirtschaftliche Verwerfungen und Machtkämpfe Einfluss auf ihren Inhalt nahmen. Ein fundamentalistisches Verständnis der Heiligen Schrift, ein Wortwörtlich-Nehmen ihrer Texte entspricht in etwa dem rigiden Verständnis des Koran, wenn es heißt, jedes Wort sei direkt von Gott so diktiert worden. Der Glaube kann in der Moderne nur bestehen, wenn er den Früchten der Aufklärung Rechnung trägt. Magische Elemente wie die Vorstellung der Bibel als buchstabengetreues Wort Gottes – ebenso wie Reliquienkult und Wahnvorstellungen visionärer Erscheinungen – sind aufzugeben. Gleichzeitig müssen die Glaubenden bereit sein, sich auf mühsame Textarbeit einzulassen. Die Bibel ist mehr als der Buchstabe – aber ohne Buchstabe, Wort und Satz verkümmern die Anschauung und die Fähigkeit zur Einsicht. Mehr Bibel lesen heißt: mehr die Bibel studieren. Statt in den Schrank gehört die Heilige Schrift auf den Tisch – und auf den Bildschirm.

These 3: Wir brauchen mehr Gott und weniger Kirche.

„Ich bin der ich bin“ (Exodus 3)

Die Suche des Menschen nach Herkunft, Sinn und Ziel seiner Existenz geht auch in der Moderne und Postmoderne weiter. Was die Religionen „Gott“ nennen, ist der archimedische Punkt dieser Suche – selbst wenn die Sprache nicht an das heranreicht, was Gott genannt wird. Deshalb muss die Gottesfrage ins Zentrum rücken. Wer oder was ist Gott? Was bedeutet in diesem Zusammenhang Person? Welche Bedeutung haben relationales und prozesshaftes Denken, um sich Gott anzunähern?

Niemand hat Gott je gesehen, auch der Frömmste nicht. Daran erinnern das Johannesevangelium und der erste Johannesbrief. Doch im Kirchenleben wird oft so getan, als ob Prediger und Zuhörer wüssten, wie Gott ist, was er will und wie er sein wird. Paulus wusste es laut Apostelgeschichte besser. Auf dem Athener Areopag entdeckte er einen „Altar des unbekannten Gottes“, den die nachdenklichen frommen Leute für das Geheimnis reserviert hatten, das ihnen nicht zugänglich war. Zu diesem unbekannten Gott bekennt sich Paulus: Die Menschen sollten diesen Gott suchen, „ob sie ihn ertasten und finden könnten; denn keinem von uns ist er fern. Denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir; wie auch einige von euren Dichtern gesagt haben: Wir sind von seiner Art“ (Apg 17,28). Im Christentum ist eine Neubesinnung auf das Lob des unbekannten Gottes notwendig. Einzig der unbekannte Gott ist Gott – und kein Götze. Als Hilfe steht den Glaubenssuchenden Christus vor Augen, vom Kolosserbrief als Ikone des unsichtbaren, unbekannten Gottes bezeichnet: Mystik statt Mythos.

Die Kirchen drehen sich zuviel um sich selbst, und die Medien berichten vor allem über Papst, Bischöfe, Landesbischöfinnen oder Laien-Prominente. Jesus aber hat keine Kirche gegründet. Er hat Neugierige und Leute, die mit dem religiös Gewohnten unzufrieden waren, in seine Freundschaft mit Gott gebracht. Christsein ist kein Besitz, sondern ein mühsamer existenzieller Weg der Gottsuche auf den Spuren Jesu Christi. Ohne Kirche als Institution und Gemeinschaft, ohne die Ahnen im Glauben gibt es keine christliche Überlieferung. Doch im Kern wächst der Glaube von innen her. Kirche kann für die Gottesgeburt im Menschen als Hebamme assistieren. Gebären muss jeder selbst. Das Lebensglück heißt Gott, nicht Kirche.

These 4: Ein neuer Sinn für Liturgie ist nötig.

„Tag für Tag verharrten sie einmütig im Tempel, brachen in ihren Häusern das Brot und hielten miteinander Mahl in Freude und Lauterkeit der Herzen“ (Apg 2)

Gemeindliche Feiern, Predigten, Gesänge und die Spendung der Sakramente sind oft erschreckend blutleer und abstoßend oberflächlich. Wenn Liturgie die Feier des Geglaubten ist, lässt dies auf einen Mangel des Geglaubten schließen. Die Inhalte des Glaubens müssen neu erschlossen werden. Dann kann für das Geglaubte mehr Raum geschaffen werden. Die sonntägliche Eucharistie, das Abendmahl sind Zeichen der Vergegenwärtigung der Auferstehung Christi. Jeder Sonntag ist Ostern. Das sollte in der liturgischen Feier zum Ausdruck kommen. Auch experimentelle Liturgien sind notwendig. Um die Liturgie moderner und zeitgemäßer zu machen, genügt es allerdings nicht, amateurhaft billig zeitgenössischen Moden hinterherzulaufen. Vielmehr bedarf es einer Aktualisierung, die der Würde und Substanz der Tradition in neuer Weise gerecht wird.

Viele Riten leiden unter Routine. Das bloß Traditionelle mag Menschen erbauen, die nur noch selten in die Gottesdienste kommen. Dann suchen sie etwa bei Taufe, Erstkommunion, Konfirmation oder Trauung das von ehedem Gewohnte. Es soll als feierlich-folkloristische Beigabe das Familienfest schmücken. Dieser rein traditionalistische Ritualismus tötet. Glauben lebt in Bewegung. Daher muss Liturgie unbequem sein wie die menschliche Unruhe, aufmüpfig wie die Sehnsucht, laut wie die Verzweiflung, still wie die Erwartung, widerborstig wie Leben, Leiden, Tod und Auferweckung Christi. Es braucht Gottesdienste, in denen Menschen lernen können, achtsam zu sein, zu staunen, zu beten und vor allem – wirklich zu feiern: angesichts des Todes die Auferstehung, das ewige Leben, die Neuschöpfung der Unsterblichkeit inmitten der Sterblichkeit. Gottes Ja zum Leben ist gottesdienstlich und sakramental hineinzuspiegeln in Herz und Kopf, in die Sinne, in die Seele – mit den besten Kräften der Kunst, der Musik, der Dichtung und ebenso der wissenschaftlichen Erkenntnisse der Gegenwart.

Der religiös Suchende wünscht sich zudem eine Liturgie, die ihn nicht in eine Gemeinde-Ideologie zwangskollektiviert. Er wünscht sich gottesdienstliche Möglichkeiten zu kleinen Fluchten, Räume zum Verweilen, Schauen, Träumen, stillen Flehen in einem schweigenden bloßen Dasein vor Gott, vor dem Mysterium des Ewigen. Die Liturgie muss in ihren verschiedenen Formen etwas im Menschen zum Klingen bringen und Gotteserfahrung ermöglichen.

These 5: Christsein ist politisch.

„Siehe ich mache alles neu, spricht der Herr“ (Offb 21)

Christsein hat als Haltung Auswirkungen auf die persönliche Lebensführung. Dazu gehört die Option für die Armen, auch das Erheben der Stimme für die Schwachen, die sonst nicht gehört werden, und das Eintreten für eine solidarische Gesellschaft. Denn das Christentum ist keine Wellnessveranstaltung zur Erzeugung bloß privater Glücksgefühle. Für mehr Behaglichkeit hat sich Jesus nicht ans Kreuz schlagen lassen. Sein Reich ist nicht von dieser Welt, aber es verhält sich nicht gleichgültig gegenüber dem Seufzen der bedrängten Kreatur, dem Leiden der Menschen und großer Teile der Menschheit. Blinde sehen, Lahme gehen, Aussätzige werden rein. Die frühen Christen verehrten Christus als guten Hirten, der für die kranken und schwachen „Schafe“ sorgt. Er war – so ein heutzutage fast vergessener Name – der Heiland, also einer, der heilt. Dieser heilende Heiland-Glaube ist wiederzuentdecken als Befreiungsglaube für das Seelische genauso wie für das Körperliche. Das schließt den geschundenen Körper ganzer Völker, Klassen, Gesellschaften und Nationen ein.

Dass sich allerdings – fast nur – in christlichen Gesellschaften Demokratie entwickeln konnte, ist ein Zeichen der Hoffnung. In einer Welt des Massenelends und unerträglicher Gewalt bleibt die soziale Frage eine zutiefst religiöse Frage. Im Antlitz Christi scheint das Antlitz der Verdammten dieser Erde auf. Die vorrangige Option für die Armen gründet für Christen in der vorrangigen Option für Christus. Was die Menschen – ob gläubig, andersgläubig oder nichtgläubig – den Geringsten getan haben, das haben sie Christus getan. Der religiöse Christus ist immer der politische Christus.

Damit sich der Christ als Christ frei, selbstbewusst und kraftvoll in die Gesellschaft einbringen kann, muss die Erschöpfung, die sich in teils leeren Kirchen, in einem teils lahmenden Gemeindeleben und in der allgemeinen Bedeutungslosigkeit der Theologie zeigt, auf der Grundlage der neu gewonnenen hermeneutischen Kompetenz in christlichen Inhalten analysiert und überwunden werden. Welche Methoden gibt es, Trägheit zu überwinden? Dazu muss die Kirche Räume schaffen, in denen Gärungsprozesse stattfinden können. Menschen müssen kreativ sein, um die christliche Botschaft mit ihrem Leben zusammenzubringen. Rückzug kann hilfreich sein. Wer ins Schweigen findet, kann auch ins Sprechen und ins Schöpferische gelangen.

These 6: Die Kirche muss sich demokratisieren.

„Grüßt den Andronikus und die Junia, die zu meinem Volk gehören und mit mir zusammen im Gefängnis waren; sie sind angesehene Apostel und haben sich schon vor mir zu Christus bekannt“ (Röm 16)

Die katholische Kirche – wie auch die orthodoxe – kann sich nicht länger der vollen Partizipation der Frauen in allen Ämtern verweigern. Die in den Menschenrechten verankerte Geschlechtergerechtigkeit muss auch in der Kirche vollumfänglich umgesetzt werden. Jesus hatte Jüngerinnen und Jünger. Die Kirche wurde von Apostelinnen und Aposteln inspiriert, bewegt und geleitet. Dennoch meinen Kirchenleitungen immer noch, auf die Charismen der Hälfte der Menschheit in wichtigen Ämtern verzichten zu können. Das „Argument“ „Jesus war ein Mann“ ist ein äußerliches und nicht hinreichend, um Frauen zu benachteiligen. Wenn Jesus kein Brillenträger war – dürfen deshalb Brillenträger keine hohen Ämter übernehmen? Es genügt nicht, Frauen mit Ämtern zweiter Wichtigkeit wie dem neu zu suchenden Diakoninnenamt zu vertrösten. Daher: Zugang für Frauen zu allen kirchlichen Ämtern!

Der Wettstreit der Meinungen und echte Wahlen mit anschließender Handauflegung des Beauftragten gehörten von Anfang an zum Leben der Urgemeinde. Irgendwann ging das verloren zugunsten eines monarchischen Amtsverständnisses. Der immer noch magisch assoziierte Weihe-Charakter des priesterlichen Amtes ist zu hinterfragen. Priester und Pfarrer stehen Gott nicht notwendigerweise näher als Laien. Es braucht die Stärkung des synodalen Elements in der Kirche. „Zentralregierungen“ können nicht bis ins Kleinste alles regeln, es braucht Subsidiarität. Die unteren Ebenen brauchen mehr Rechte, um die Belange zu regeln, die nur sie betreffen. Das gilt für die Bischofskonferenzen im Verhältnis zu Rom und für die Gemeinden im Verhältnis zu ihren Bischöfen. Es ist ein Fehler, den Sachverstand und die Fertigkeiten der Laien ungenutzt zu lassen – zumal auch Amtsträger fehlbar sind. Nutzen wir den Glaubenssinn des gesamten Volkes Gottes – auch für die Möglichkeit, verheiratete Gemeindepriester einzusetzen gemäß der älteren Tradition, die in den Ostkirchen bis heute bewahrt ist.

These 7: Die Zukunft des Christentums ist ökumenisch – oder gar nicht. Die Ökumene bedarf der Taten – nicht nur der Worte.

„Ihr aber seid der Leib Christi und jeder Einzelne ist ein Glied an ihm“ (1 Kor 12)

Angesichts der zunehmenden Vernetzung der Welt und angesichts der Weite des Denkens moderner Menschen ist es überfällig, dass sich das Christentum als Einheit versteht und präsentiert. Der gemeinsame Glaube an Jesus Christus sollte genügen, um alle kirchentrennenden Hürden zu überwinden. Wer an den historisch gewachsenen Gräben festhalten will, soll dies für sich tun – er soll jedoch nicht andere davon abhalten können, jene Spaltung im täglichen Glaubensvollzug zu überwinden. Kirchen und Gemeinden sollten prinzipiell jedem Christen offen stehen. Christen sollen sich untereinander nirgends ausschließen dürfen. Begreifen sie sich nicht als gemeinsames Volk Gottes auf dem Weg, so werden sie in den Erstarrungen und Verkrustungen bleiben, in denen sie jetzt schon gefangen sind. Die babylonischen Gefangenschaften der Kirchen müssen daher aufhören.

In theologischer Kleinarbeit haben die ökumenischen Pioniere hinreichend theoretisch geklärt, was substanziell zu klären ist, und erklärt, was nicht auf einen Nenner gebracht werden muss. Nur wurde vieles davon vergessen oder torpediert. Im Glaubensverständnis von Katholiken untereinander, von Evangelischen untereinander oder von Orthodoxen untereinander gibt es oftmals erheblich größere Unterschiede als zwischen Christen verschiedener Konfession. Was etwa verbindet einen volkstümlich-traditionellen Wunderglauben mit einem aufklärerisch-intellektuellen Gottesverständnis? Das Christliche hat Zukunft, wo Menschen das Christuszeugnis glaubwürdig leben. Geist schafft Leben. Das Christentum ist eine Religion der Wahlverwandtschaft im Geist, nicht einer soziologischen Zufallsverwandtschaft durch Hineingeborensein in eine bestimmte Gruppe. Es gilt – wie längst vielfach praktiziert –, an der Basis Scheuklappen abzubauen und mit den eigenen Füßen den Pfad der Ökumene zu betreten. Wer die Einheit in der Vielfalt der Geistesverwandtschaft will, wird sie finden. Christen, habt Mut, euch ökumenisch des eigenen Verstandes zu bedienen!

These 8: Das Christentum muss mit allen Religionen gemeinsam danach streben, die Vernunft zum Leuchten zu bringen, die dem Frieden dient, und Fanatismus zu bekämpfen.

„Prüft alles und behaltet das Gute“ (1 Thess 5)

Die Universalität Gottes legt es nahe, dass es auch außerhalb der Kirche Heil gibt. Das Christentum soll sich daher im Vertrauen auf wahrhaft fromme und rechtschaffene Menschen in anderen Religionen und auch außerhalb dieser (Atheisten und Agnostiker) weltweit für die Versöhnung von Glaube und Vernunft einsetzen und alles dafür tun, Fundamentalismus und religiösen Fanatismus mit den Mitteln der Vernunft und Humanität zu bekämpfen. Die Religionen sind aufgerufen, stärker als bisher ihre Gemeinsamkeiten herauszustellen, etwa die der Goldenen Regel, die es in den meisten Kulturen gibt. Gemeinsames Ziel muss es sein, die Menschheit voranzubringen, frei zu machen; religiös gesprochen: innerhalb der unterschiedlichen Traditionen zum befreienden Glauben an Gott zu führen. Das triviale Konkurrenzdenken zwischen den Religionen muss überwunden werden. Dies würde Fundamentalisten schwächen und die Attraktivität der Menschen guten Willens erhöhen. Der Wettstreit der Argumente zur gegenseitigen Bereicherung und zur Läuterung von Fehlentwicklungen soll jedoch sein.

Die Spannung zwischen religiösem Provinzialismus („Nur wir sind gerettet“), religiösem Universalismus („Alle sind gerettet“) und religiöser Gleichgültigkeit („Alle Heilswege sind irgendwie wahr“) lässt sich nicht völlig auflösen. Orientierung sollte sein, dass Gott tatsächlich diese Welt gewollt hat und dass er befindet, seine Schöpfung sei gut. So kann die religiöse Vielfalt nur gottgewollt sein. Wenn Christen Christus lieben und ihn als universalen Logos bekennen, bedeutet das nicht, andere herabzusetzen. Vielmehr kann eine tiefere Christusmystik in modernem Gewand helfen, den Christus in allen Menschen – auch in anderen Religionen – zu erkennen, ohne das Eigene geringzuachten. Nicht alles ist gleich, nicht alles ist wahr, aber das Wahre verträgt es, auch Ungleiches auszuhalten und das Besondere zu lieben. Für die Freiheit und die Weite hat uns Christus frei und weit gemacht. Daraus lässt sich ableiten, dass Mission, wie sie vor allem bei Christen und Muslimen substanziell zur Dynamik der Religion gehört, einzig durch Überzeugen und in Freiheit und Achtung gegenüber der Geisteshaltung der Gesprächspartner geschehen soll. Es gilt die Weisheit: Wo auch immer wir ankommen, ist Gott immer schon verborgen zugegen.

These 9: Es ist Zeit für ein Glaubenskonzil.

„Die Apostel und die Ältesten traten zusammen, um die Frage zu prüfen“ (Apg 15)

Die dramatische Glaubenskrise im Christentum weltweit und in allen Konfessionen hat einen wesentlichen Grund darin, dass es das Volk Gottes „unten“ wie die Kirchenleitungen „oben“ allzu lange versäumt haben, geistig und geistlich, rational wie emotional den religiösen Anschluss an die moderne Welterfahrung zu gewinnen. Spätestens die neuzeitliche Freiheits- und Aufklärungsgeschichte mit der von den Wissenschaften beschleunigten Entmythologisierung alter Erzählungen ließ frühere Glaubensweisen brüchig werden. Der Glaube fragt nach dem Verstand, aber er fragte zuletzt nicht gründlich genug.

Das Leben verändert sich erheblich schneller als einst, als es genügte, alle hundert bis zweihundert Jahre ein Konzil oder eine große Synode zu veranstalten. Der heutige sensationelle Fortschritt der Human- und Naturwissenschaften etwa war beim Zweiten Vatikanischen Konzil der katholischen Kirche vor einem halben Jahrhundert noch nicht einmal ansatzweise zu ahnen. Seit damals haben Gesellschaften, Kulturen und Privatleben einen radikalen Transformationsprozess erlebt – von der Emanzipation der Frau über die neue Gestaltung der Beziehungen, der Sexualität bis zum Zusammenbruch mythologisch-magischer Sichtweisen. Das hat die Welt-, Gottes- und Glaubensbilder sowie die sakramentalen Verstehenshorizonte tief getroffen. Die Christenheit braucht wieder ein großes Konzil, ein wahrhaft ökumenisches Konzil, so wie die bedeutendsten Konzilien des ersten Jahrtausends Glaubenskonzilien waren, die sich mit dem Gottes- und Christusverständnis befassten. In einem heutigen Glaubenskonzil müssen Konzilsväter und Konzilsmütter aus allen Lebensbereichen mitarbeiten, vor allem aus den innovativsten, aus verschiedensten Berufen, Wissenschaftler unterschiedlichster Richtungen, bedeutende Künstler. Sie sollen nicht nur als Berater wie zum Alibi ein wenig angehört werden. Vielmehr sind sie in die Entscheidungsprozesse bis hin zur Beschlussfassung einzubinden.

Konzilien sind keine Alleskönner. Aber sie können in epochalen Glaubenskrisen wie der jetzigen helfen, Blockaden und Beratungsresistenzen abzubauen. Es geht nicht um gefällige Anpassung an einen Zeitgeist, sondern um Weiterentwicklung, um Entwicklung von religiösem Zeitgeist. Es geht darum, das Gottes- und Christusereignis im Geschichtsprozess einer evolutiven Welt zu deuten und für die existenzielle Sehnsucht moderner Menschen zu öffnen.

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