Es muss finster sein, damit man sehen kann. Die Lampen in der neoromanischen Johanneskirche sind gelöscht, das Gotteshaus liegt fast ganz im Abenddunkel. Nur im Altarraum brennen Kerzen, auch Kreuz und Tabernakel am Hochaltar sind beleuchtet. Dann erscheinen sie plötzlich: Buchstaben überall, von fünf Projektoren in die Finsternis geworfen. In unterschiedlichen Geschwindigkeiten sinken sie von der Decke herab, gleiten an den Kirchenwänden nach unten. Das ist die Installation „Lightfall“ (Fallendes Licht) des Schweizer Künstlers André Bless. Eine gute Woche lang war sie jetzt in Freiburg im Breisgau zu sehen.
M – E – N – S – C – H … Die Reaktion dürfte bei vielen Besuchern ähnlich sein: Sie versuchen als Erstes, die Buchstaben zu Worten zusammenzufügen. So sind wir, suchen Orientierung im Chaos, Sinn auch in diesem Kosmos der fallenden Lichter. Es braucht eine Weile, doch dann gelingt das Lesen der gewissermaßen kopfüber nach unten fallenden Buchstaben erstaunlich gut. W – E – L – T … T – R – O – S – T … Manchmal ergeben sich Bezüge zwischen den einzelnen Wortsträngen. Dann sieht es so aus, als würden sie sich nicht nur senkrecht nach unten entfalten –, sondern wie bei einem Kreuzworträtsel ebenso waagerecht entstehen, auch wie man es von Anzeigetafeln an Bahnhöfen oder Flughäfen kennt.
Große Worte sind das, poetische Worte. Sie sind so deutungsoffen, dass jeder anderes damit verbinden, hineindenken kann. „Die Begriffe sind völlig wertfrei … Sie drehen sich um Wahrheit, Leben oder Glück“, erläuterte der Künstler. Damit wird deutlich: Mit dem bloßen Lesen und dem Nachsinnen über die Worte erschließt sich „Lightfall“ nur zum Teil.
Die künstlerische Qualität der Arbeit liegt vielmehr in ihrer emotionalen Wirkung, in den vielen Assoziationen, die sie weckt, in den Anfragen an traditionelle Sehgewohnheiten. Wer die Kirche durch das Hauptportal betritt, wird durch die leuchtenden Wortfäden regelrecht zum Altarraum hingezogen. Im Anfang ist das Wort … Kirche des Wortes… Wer mein Wort hört und glaubt … Hier ist das Wort zu sehen!
Unbestritten gibt es viele Worte in der Welt. Besteht die Gefahr, dass sie die Menschen überfluten? Auch die Kirche macht viele Worte. Doch anders als in der Installation – zur Vernissage kamen vierhundert Besucher – „ziehen“ sie bekanntlich immer weniger. Wie kann das Evangelium Gottes, das zum Beispiel in der Sonntagspredigt aufgeschlossen werden soll, Frucht bringen, hundertfach oder sechzigfach oder dreißigfach? Die Erfahrung, im Lichtregen von Sankt Johann zu stehen, lässt auch ahnen: Es müssen offenbar andere Worte sein … Und sie müssen anders vergegenwärtigt werden. So wie auch die Johanneskirche, dem Bamberger Dom nachempfunden, im Licht beziehungsweise im Dunkel von „Lightfall“ selbst nicht wiederzuerkennen ist. Ob auch die Kunst für den Glauben ein gangbarer Weg sein kann? In Freiburg wollten sie das jedenfalls ausprobieren. „Lightfall“ war die erste große Aktion des Arbeitskreises „Kirche und Kunst“ in der Seelsorgeeinheit. Mittelfristig soll sich Sankt Johann als Kunstkirche etablieren.
Wer mag, kann bei der Installation noch einen Schritt weitergehen: in die reine Meditation, in das pure Da-Sein, in eine mystische Gegenwart. „Die Installation zieht in ein Erleben hinein“, sagte Pfarrer Michael Schweiger. Mystik – das griechische Wort myein bedeutet ursprünglich: die Augen schließen, gerade um besser zu sehen. Ganz schließen kann man die Augen bei der Installation natürlich nicht. Aber wer nur dasitzt, die Bewegungen der Wortfäden auf sich wirken lässt und dabei das leuchtende Kreuz in den Blick nimmt, macht eine erstaunliche Erfahrung. Es fühlt sich plötzlich so an, als schwebe man mit dem Kreuz nach oben. Der Betrachter bleibt nicht im Dunkeln, bleibt nicht unten. Aufgefahren in den Himmel …
Zum Abschluss des Kunstprojekts findet am Montag, 13. November, 20 Uhr, im Franziskussaal der Freiburger Pfarrgemeinde Sankt Johann ein Gedankenaustausch statt. Mit dabei sind der Theologe Magnus Striet und die Kunsthistorikerin Angeli Janhsen von der Freiburger Universität. Infos unter www.kunst-johanneskirche.de