Ein wütender Martin Luther nagelte 95 Theokraten an eine Kirchentür.“ Das kann herauskommen, wenn Studenten in der Prüfung versuchen, die Stichworte ihrer Vorlesungsmitschrift zu sinnvollen Sätzen zu verbinden. Joseph Leo Koerner, der Kunstgeschichte unter anderem in Harvard, London und Frankfurt am Main unterrichtet, zitiert den absurden Satz beispielhaft. Denn das Mitschreiben der Vorlesung war mühsam, wenn der Hörsaal verdunkelt war, damit man an die Stirnwand zwei Bilder nebeneinander projizieren konnte. So lehrte und lernte man Kunstgeschichte im 20. Jahrhundert, in Neuseeland, Europa, vielerorts. Bei einem solchen Bildvergleich von Caspar David Friedrichs „Kreuz im Gebirge“ mit Lukas Cranachs Wittenberger Kreuz-Predigt-Bild kam die deutende Hand des Dozenten als Schattenriss auf die Leinwand. Bild, Abbildung, Vergleich und Deutung in einem. Aus diesem zufälligen, glücklichen Moment heraus entstand, wie Koerner im Vorwort zur englischen Ausgabe 2004 schrieb, dieses Buch.
Es geht um ein Bild: die Predella des Altars in der Stadtkirche zu Wittenberg, gemalt von Lukas Cranach dem Älteren 1547. Zu sehen ist ein Raum mit Pflasterboden und Quaderwänden, rechts Martin Luther auf einer Kanzel predigend, links Männer, Frauen, Kinder zuhörend, in der Mitte ein Kruzifix. Es ist auf den Boden gestellt wie ein Besen, ohne Befestigung. Der Leib des Gekreuzigten aber, im Maßstab etwas kleiner als die Menschen im Bild, ist nicht geschnitzt oder sonstwie plastisch gebildet, sondern gemalt mit einem weit im Wind flatternden Lendentuch, so wie Cranach jahrzehntelang die Kreuzigung in einer Landschaft gemalt hatte. Das Bild enthält noch mehr Widersprüche, nicht nur den zwischen Skulptur und Malerei, Kunst und Natur. Der Wind im geschlossenen Raum, die Blutbahnen, die am Kreuzesstamm herabfließen, aber den Pflasterboden nicht erreichen. Der Prediger hat den Mund geschlossen, er war 1545 verstorben; seine linke Hand liegt auf einem aufgeschlagenen Buch, die erhobene rechte zeigt auf den Gekreuzigten. Das gemalte Kruzifix steht da wie ein Altarkreuz und ist zugleich Inhalt der stummen Predigt. Mit diesen Widersprüchen lässt uns Cranach sehen, dass „Christi Reich ein hör Reich nicht ein sehe Reich“ ist, so Martin Luther in seiner Predigt zu Psalm 8, 1545. Über der Predella erhebt sich ein Triptychon, in der Mitte das Abendmahl mit Martin Luther im Kreis der Apostel, links eine Kindstaufe, gespendet von Melanchthon, rechts eine Beichte, gehört von Bugenhagen. Auf der Rückseite in der Mitte der Auferstandene als Sieger über Tod und Teufel, darunter die Hölle, links das Opfer Abrahams, rechts die eherne Schlange.
War die Reformation eine Tragödie für die Kunst? So fragt das zweite Kapitel und erinnert an den Tod Albrecht Dürers, Matthias Grünewalds, Albrecht Altdorfers, Hans Holbeins, Tilman Riemenschneiders und anderer führender Künstler zwischen 1517 und 1550. Weil in der Folge Bilder im Kirchenraum auf ihre didaktische Funktion beschränkt wurden, gewannen Texte unter, neben, über und auf den Bildflächen die Oberhand. Das Wort wurde zum Götzen. Die Zunft der Maler und Bildhauer in Straßburg bat 1524 den Rat der Stadt um Unterstützung, da ihr Beruf durch das Wort Gottes überflüssig geworden sei.
Im Kapitel „Aktionen“ zeigt Koerner an Texten von Karlstadt, Zwingli und anderen Bilderstürmern, dass Ikonoklasmus den Glauben an die Macht der Bilder voraussetzt. Sonst könnte man sich die Gewalt der Zerstörung sparen und wie die Nürnberger Lutheraner die Bilder hängen lassen, weil sie keine Götzen sind, sondern nur Bilder („Adiaphora“ = gleichgültig). Zahlreiche Beispiele in Holzschnitten und Texten des 16. Jahrhunderts illustrieren die Kämpfe um den rechten Umgang mit Bildern und – im Kapitel „Kirchenbau“ – um den rechten Ort für das Wort.
Der Unterschied zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes Kirche entscheidet alles: die Gemeinschaft der Gläubigen und das Gebäude. Damit niemand vom Gebäude Heil erwartet, sollte es nur zur Versammlung der Gläubigen am Sonntag geöffnet werden, denn sie allein ist Kirche. Der evangelische Theologe Clemens Bethge sieht das heute anders. Er geht von einer Rezeptionsästhetik aus: Für ihn sind Kirchen „Erlebnisräume der Gottesbegegnung“, versperrte Kirchen aber wie zugeklappte Bücher, die das Lesen des Textes verweigern („Kirchenraum“, Stuttgart 2015).
Die quellenreiche, präzise, wertvolle Studie Koerners handelt von der Reformation in einem Bild, nicht von „Luther und den Folgen für die Kunst“. So hieß eine Ausstellung der Hamburger Kunsthalle 1983, deren Katalog im 41 Seiten starken Literaturverzeichnis fehlt. Koerner konzentriert sich auf die Abgrenzung Luthers von Ikonoklasmus und Calvinismus sowie auf die verschiedenen Richtungen der Reformation in Sachsen, Anhalt, Brandenburg und den norddeutschen Städten (Philippisten, Gnesiolutheraner). Dass er das phänomenale Buch von Arnold Angenendt „Offertorium. Das mittelalterliche Messopfer“ (2013) nicht kennt, ist verständlich, beeinträchtigt aber die Aussagen über die vorreformatorische, katholische Liturgie.