Gescheiterte RegierungsbildungDie Parteien-Arroganz

Schwarz-Gelb-Grün: Das war noch nie da in Berlin. Nach der Bundestagswahl versprachen sich Politik-Experten von einer solchen Dreier-Regierungskoalition ein innovatives Projekt. Nach dem Scheitern der Sondierungsgespräche sind viele Bürger empört. Spielt man so mit dem Schicksal der gesamten Republik?

Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland hat in Artikel 21 die Aufgabe der Parteien klar bestimmt und ihnen zugleich eine Grenze gezogen: Sie „wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit“. Das heißt: Sie sind nicht die Herren des Volkes, sondern Diener des Souveräns. Sie sollen helfen, die Demokratie zu sichern, die Geschicke eines Staatswesens zu lenken. Parteien sind also nicht zum puren Selbsterhalt da. Deren Abgeordnete sollen einzig in Verantwortung vor ihrem Gewissen als Repräsentanten aller Bürger – und nicht als Untertanen bestimmter Klientelen – parlamentarische Verantwortung übernehmen, die Stabilität der Gesetzgebung gewährleisten und so für das Gemeinwohl, für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Sicherheit sorgen.

Institutionen neigen dazu, sich im Lauf der Zeit zu einem sich selbst erhaltenden System zu verfestigen. Dann schielen sie vor allem und immer wieder auf den eigenen Vorteil. Bisher gehörte es zum demokratischen Stil der Bundesrepublik, dass oberste Parteifunktionäre im Fall des Falles Staatsinteressen vor die Parteiräson stellen. Das scheint nicht mehr der Fall zu sein, seit FDP-Chef Christian Lindner selbstherrlich den Dialog über eine Regierungsbildung mit CDU, CSU und den Grünen aufkündigte. Nach den zähen Verhandlungsrunden scheint allerdings auch mancher andere Beteiligte froh zu sein, auf diese Weise den „Schwarzen Peter“ losgeworden zu sein und nun die „Hände in Unschuld waschen“ zu können.

Es heißt, die Sondierung sei vor allem an mangelndem Vertrauen gescheitert. Allerdings war schon am Abend der Bundestagswahl deutlich geworden, dass die dank Leihstimmen aus Ruinen wiedererstandene FDP unter ihrem Chef neue Stärke markierte und wenig Lust bekundete, eine Koalition mit Grün einzugehen. Wer die Körpersprache der Protagonisten beobachtete und deren Worte ernstnahm, konnte ahnen, dass es mehr um das Wohl der Partei geht als um das Wohl des Volkes.

Den ersten Akt dazu spielte allerdings die SPD mit ihrem Spitzenkandidaten Martin Schulz. Nach der herben Niederlage und dem massiven Schwund der Stammwählerschaft gab man sich in erster Linie protzend, mimosenhaft beleidigt über den Liebesentzug, statt an die übergeordnete Pflicht zu denken, für stabile Regierungsverhältnisse zu sorgen, selbst wenn einem die Mitarbeit in einer insgesamt keineswegs erfolglosen großen Koalition nicht durch Prozentpunkte gedankt wurde. Das larmoyante Verhalten der SPD-Größen war und ist kein Ruhmesblatt für die ehemals mächtige, selbstbewusste, staatstragende Sozialdemokratie. Was ist nur aus ihr geworden? Ein Verein – um ein orientalisch-biblisches Bild aufzunehmen – von „Klageweibern“?

Profilierungssucht – Profillosigkeit

Auch die Bundeskanzlerin Angela Merkel, die mit ihrer Taktik des Schweigens und vielen politischen Kehrtwendungen als „Liebling der Nation“ bisher zahlreiche pragmatische Erfolge feiern konnte, scheint in den Sondierungsgesprächen keine glückliche Hand gehabt zu haben. Bei jedem Geschäft von Geben und Nehmen gibt es „Identitätsmarker“, die zu akzeptieren anderen zuzumuten ist, damit der betreffende Partner nicht sein Gesicht – seine Eigenheit – verliert. Für dieses Zurückstecken auf Gegenseitigkeit scheint der Wille gefehlt zu haben. Allerdings wurden die konkreten Gründe, die für den Abbruch der Sondierung den Ausschlag gaben, nicht genannt. Der Bürger wurde – auch das ist typisch – über die wahren Fakten zunächst nicht aufgeklärt. Alles blieb wolkig, vage. Womöglich ist die aktuelle Profilierungssucht der Parteien auch eine Art Übersprungsreaktion, die Folge ihrer Profillosigkeit und Austauschbarkeit.

Für Angela Merkel ist der gescheiterte Versuch, eine neuartige Koalition zu schmieden, eine persönliche Niederlage. Erstmals in ihrer politischen Karriere ist sie krachend gescheitert mit der üblichen Taktik, Führung durch unaufgeregten Pragmatismus zu erlangen, auch wenn sie das auf die bekannte Weise überspielt und sich gelassen stark gibt, bei Neuwahlen wieder antreten möchte. Angeschlagen ist sie. Aber das war sie schon, seit sie entgegen ihrer Gewohnheit „nach Bauchgefühl“ einen unkontrollierten Zustrom von Flüchtlingen zugelassen und mit ihrem Vorpreschen der Europäischen Union die Handlungsgrundlage für ein gemeinsam abgestimmtes Vorgehen entzogen hatte. Das brachte nicht nur Parteifreunde gegen sie auf, sondern entfremdete sie vor allem der Schwesterpartei CSU, was sich nun auf die Vier-Parteien-Verhandlungen nachteilig ausgewirkt hat. Anscheinend war die Frage des Familiennachzugs insbesondere auch für Kriegsflüchtlinge mit Bleiberecht nur auf Zeit ein besonders kritischer Punkt. Für die CDU bringen wahrscheinlich selbst Neuwahlen keine sichere Ernte. Der Aufstieg der „Alternative für Deutschland“ hatte der Union gerade in der bürgerlichen Mitte Substanz entzogen, die für stabile Mehrheits- und Koalitionsverhältnisse notwendig ist.

Erhebliche Teile der Bevölkerung sind empört, dass sich vermeintlich bewährte demokratische Parteien plötzlich als unfähig erweisen, sich zu einem für die Republik möglicherweise innovativen Experiment einer Dreierkonstellation auf Bundesebene zusammenzuraufen. Das Versagen könnte sich rächen mit Stimmenentzug oder neuer Politikverdrossenheit. Gerade die jüngere Generation wirkt distanziert gegenüber einem politischen Spiel, das Seriosität vermissen lässt. Politikverdrossenheit nährt sich aus Parteienverdrossenheit. Und die entsteht durch Parteien-Arroganz. So viel Arroganz wie jetzt war selten.

Statt Milieu Klientel

Aber auch die Massenmedien tragen ihren Teil Schuld daran. Sie haben sich häufig mit ihren täglichen fast schon hysterischen Aufgeregtheiten auf Partei-Personalpolitik und Postengeschachere kapriziert, statt der Komplexität parlamentarischer Sachpolitik und entsprechender Gesetzgebungsprozesse Rechnung zu tragen. Worum geht es inhaltlich substanziell? Was sind die wirklich großen Zukunftsfragen, die über das Schicksal der Republik entscheiden? Das sollte wieder in die Mitte des Diskurses rücken.

Mit der Pluralisierung der Parteienlandschaft ist nicht wirklich Vielfalt in die politische Arena eingezogen, sondern eher Beliebigkeit und Verwirrung. Ratlos, unschlüssig blieben viele Bürger bis zuletzt, wen sie wählen sollten. Die Bereitschaft zum Wechselwählen war noch nie so groß wie heute. Der Einzelne wägt inzwischen spontan nach je aktueller Nützlichkeit ab. Er bevorzugt das, was momentan seinen Sonderinteressen entgegenzukommen scheint. Gewählt wird nicht politisch, sondern privatistisch. Je mehr Parteien aufkamen, desto mehr hat das eine egomanische Klientelpolitik befördert. Natürlich soll jede Partei um die Gunst der Bürger werben. Doch schwindet mit der Aufsplitterung und stetigen Auflösung der einstigen Volksparteien der Blick für den ganzen Horizont, jenseits der bloßen Eigeninteressen. Jede Partei konzentriert sich fast ängstlich bedacht auf ihre Stamm-Klientel. Um das zu bedienen, werden Nebenkriegsschauplätze zu Hauptschauplätzen stilisiert. So hatten Grüne, Linke, FDP und SPD kurz vor der Bundestagswahl auf extrem populistische Weise – erpresserisch gegen die Union – versucht, damit zu punkten, dass sie in einem Hauruckverfahren die sogenannte Ehe für alle durchboxten. Angela Merkel ließ sich das gefallen, gab klein bei, um nicht selber eine „moderne“ Klientel zu verprellen. Wenn alle Parteien nach dem Verlust ihrer angestammten Milieus jetzt nur noch nach Klientelen Ausschau halten und Themen auf die Tagesordnung hieven, die diesen gefallen, wird das auf Dauer die Demokratie populistisch ruinieren.

Die Macht, ja Übermacht der Parteien hat sich als Ohnmacht geoffenbart. Bis Redaktionsschluss war nicht erkennbar, wohin die Reise geht. Das Trauerspiel von Schwarz-Gelb-Grün mit dem vorausgegangenen SPD-Trauerspiel einer grundlegenden Koalitionsverweigerung wirkt dem Vertrauensschwund jedenfalls nicht entgegen. Die Bewährungsprobe haben die „Bewährten“ nicht bestanden.

Besser: Mehrheitswahlrecht

Die bundesdeutsche Parteiendemokratie hat sich in eine echte Krise katapultiert. Das könnte Überlegungen befördern, ein anderes Wahlsystem zu bevorzugen, das für klare parlamentarische Mehrheiten sorgt. Das Verhältniswahlrecht scheint bei allzu vielen relativ kleinen Parteien nahe beieinander eher Lähmung zu begünstigen. Da kann nur ein Mehrheitswahlrecht Abhilfe schaffen, wie es andere demokratisch vorbildliche Nationen, etwa Frankreich und England, vorexerzieren. Gewählt ist jene Persönlichkeit, die in ihrem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält. Schluss mit dem Listen-Posten-Gefeilsche! Zwar sind bei derartiger Abstimmung die relativ größeren Parteien bevorzugt. Aber wer ist noch wirklich groß? Selbst CDU und CSU haben Federn lassen müssen. Auch beim Mehrheitswahlrecht haben attraktive(re) Kandidaten der Kleineren ihre Chance, wenn Routineabgeordnete einen „Schuss vor den Bug“ erhalten sollen oder einfach mal ein Wechsel als notwendig und wohltuend erscheint. Schon jetzt kommen wichtige Bürgermeister und Oberbürgermeister aus den Reihen der Grünen, wenn sie die Bevölkerung mehr überzeugen als die Strategen der Etablierten.

Parteien sollen durch Programme dem Populismus entgegenwirken, nicht maßgeschneiderte Wahlvereine für bestimmte (Kanzler-)Kandidaten sein. Wo aber die Programmatik und damit Berechenbarkeit, Stabilität, Kontinuität sowie eine gesunde institutionelle „Trägheit“ verloren gehen, wie es die CDU unter Angela Merkel nach mehreren Kehrtwendungen vorgemacht hat, gewinnen die Menschen den Eindruck, es sei eh alles egal. Auf nichts sei Verlass. Ein Mehrheitswahlrecht, das die Persönlichkeitswahl stärkt, würde helfen, Nähe zu den Repräsentanten des politischen Systems aufzubauen, was auch den Parteien zugutekäme. Allerdings ist eine derartige Revolution, ein solcher Bruch mit bundesrepublikanischen Gewohnheiten kaum vorstellbar, jedenfalls nicht, solange die Größeren von der Aura zehren, Volkspartei zu sein.

Staatsräson vor Parteiräson

Noch nie hatte der deutsche Bundestag so viele Abgeordnete wie jetzt. Das gibt ihnen Gelegenheit zu beweisen, dass sie nicht willfährige Vollstrecker der Winkelzüge ihrer Parteioberen sind, sondern Verantwortungsträger des ganzen Volkes. „Parteisoldaten“ gibt es genug. Parlamentarier dagegen sollen dem Souverän dienen. Dazu sind sie beauftragt. Der Wähler will kundige Gesetzgeber und eine zuverlässige Regierung. Die kann er allerdings nicht wählen, bloß eine Partei. Koalitionen werden dann von den Parteien ausgehandelt, selbst wenn das, was dabei herauskommt, keineswegs dem Willen eines jeden entspricht, der eine der beteiligten Parteien bevorzugt hat.

Trotzdem führt an Koalitionen kein Weg vorbei. Notfalls braucht es Allianzen von Abgeordneten mit Authentizität und Mut, die dem Eiertanz der Parteiräson nicht folgen, die sich deren Arroganzprinzip widersetzen, indem sie einzig ihrem Gewissen gehorchen. Dann hätte sogar eine Minderheitsregierung eine Chance, mit Ministern aus verschiedenen Parteien oder Parteilosen, wie es in anderen demokratisch bestens erfahrenen Ländern, zum Beispiel Dänemark, Schweden oder Spanien, üblich ist und funktioniert. Einen Versuch wäre es in der aktuellen Situation der Bundesrepublik wert, zumindest für eine Übergangszeit, bis die Parteien wieder zur Besinnung kommen. Die Arbeitsfähigkeit eines solchen Provisoriums der Exekutive wäre gegeben, wenn sich demokratisch gesinnte Parlamentarier eigenständige Entscheidungen als Legislative zutrauen, wenn sie wirklich Verantwortung übernehmen, mehr Demokratie wagen für den Staat, das Volk, die Gesellschaft. Diese drei stehen über der Partei.

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