Der Trend zu immer mehr Individualismus wird von den Menschen zunehmend kritisch beurteilt. Das beobachtet der Kasseler Soziologe Heinz Bude. „Es gibt eine Mehrheit, die heute daran zweifelt, dass der Glaube an den starken Einzelnen eine gute Idee war“, sagte Bude im Interview mit der „Welt am Sonntag“. Die westlichen Gesellschaften hätten in den letzten drei Jahrzehnten den Individualismus und auch den Neoliberalismus hochgehalten. Inzwischen zeige sich jedoch, dass die Welt mit Problemen zu kämpfen hat, die kein starker Einzelner lösen kann.
Inzwischen fühlen sich viele Menschen schutzlos, so der Wissenschaftler. Es gebe eine „große Gruppe“ in der Gesellschaft, die sich um ihre Anstrengungen betrogen fühlt. Dazu gehören ausdrücklich auch „Verbitterte mit einem höheren Bildungsabschluss“, deren Fähigkeiten und Erfahrungen nicht nachgefragt werden. Viele Menschen fühlen sich von der Globalisierung, der Digitalisierung und einer diffusen Sorge vor einer Deindustrialisierung bedroht. Bis in die Mitte der Gesellschaft hinein gibt es das Bewusstsein, „dass wir das Soziale nicht mehr wirklich in den Griff kriegen“. Im Osten kommt das Gefühl der Verlorenheit hinzu. „Die Ostdeutschen spüren, dass Ostdeutschland verrinnt.“
Angesichts dieser Stimmungslage sei bei vielen der „Wunsch, sich einer Gruppe zuzuordnen“, stark gewachsen, stellt Heinz Bude fest. Dies erkläre auch den Erfolg von Rechts- und Linkspopulisten. Von einer künftigen Bundesregierung wünscht sich der Soziologe deshalb, dass sie sich vor allem um die Verbitterten in der Mittelschicht kümmert. Er schlägt einen neuen sozialen Pakt vor, der „Gewinner und Verlierer mit Blick aufs Ganze zusammenbringt“. Niemand wolle in einem Land leben, in dem die mit den tollen Jobs und die mit den miesen Jobs nichts mehr miteinander zu tun haben.