Bernhard von Clairvaux äußerte die Vermutung, Gott sei vielleicht deshalb Mensch geworden, damit er tatsächlich barmherzig sein konnte, misericors. Ein Gott im Himmel hätte nie persönlich ein miserum cor, ein tatsächlich, nämlich existenziell „armes Herz“ haben können. Darum sei er in Jesus „armherzig“ geworden, bis zum Tod am Kreuz.
Unser heutiges Wort „Barmherzigkeit“ ist vom althochdeutschen bi-armen abgeleitet. Das ließe sich so deuten: Wo zwei „armherzige“ Wesen zusammentreffen, entsteht unwillkürlich „Bi-armherzigkeit“, Barmherzigkeit also. Damit wird die Seligpreisung der Bergpredigt zur Beschreibung einer selbstverständlichen Erfahrung: „Selig die Barmherzigen, denn sie finden Barmherzigkeit.“ Gleich zu gleich geselle sich bekanntlich gern. Das ist der Weg zur Erlösung; offensichtlich sogar für Gott.
Bernardin Schellenberger aus: „Von Achtsamkeit bis Zuversicht“ (Herder, Freiburg 2015)