Mein Name ist Óscar Arnulfo Romero. Geboren wurde ich 1917, vor genau hundert Jahren, in einem kleinen Gebirgsstädtchen in El Salvador. Meine Familie war arm. Aber ich durfte Theologie studieren, zuerst in San Miguel, dann in Rom. Ich war ein einfacher, etwas ängstlicher Seelsorger. 1970 wurde ich Weihbischof, später Bischof, zuerst in Santiago de Maria, dann bis 1980 in der Hauptstadt San Salvador.
Es war die Zeit der Militärdiktaturen in Lateinamerika. Die Armen hatten keine Rechte und keine Stimme, Kritiker wurden gefoltert und beseitigt. Tiefes Dunkel lag auch über unserem Land El Salvador, das doch den Namen unseres Erlösers und Befreiers Jesus trägt („Der Retter“). Eine Nacht des Schweigens hüllte aber auch meine Kirche ein. Denn viele Hirten hatten nicht die Kraft und den Mut, ihre Herde zu schützen und in Gottes Namen die Rechte der Armen zu verteidigen.
In dieser Situation wurde ich zum zweiten Mal zum Theologen, Seelsorger und Bischof geboren und berufen. Denn ich hörte Gottes Stimme in den Armen: „Habe Mut. Sei fortan wie Johannes der Täufer eine unerschrockene Stimme, die Gottes Herrschaft ankündigt.“
Ein hellwacher Mensch
Zuerst befasste ich mich auf ganz neue Weise mit der Gestalt des Johannes. Sollte der Täufer, dieser Wüstenasket, gekleidet in Kamelhaar und Leder, der wortgewaltige Querulant und Moralprediger mit seinen nicht gerade zimperlichen Worten von der „Schlangenbrut“ nicht nur den Feinden der Kirche, sondern auch uns Christen, Institutionen und auch Amtsträgern etwas sagen wollen? Johannes war ein hellwacher und kritischer Mensch: Selbst als Jesus schon mit seinen Heilungen und Predigten für Furore sorgte, behielt er einen prüfenden Blick. Er wollte letzte Klarheit und ließ deshalb durch zwei seiner Jünger fragen: „Bist Du es, der da kommen soll, oder müssen wir noch weiter warten?“
Die Antwort, die Jesus gab, sagt etwas über die Maßstäbe aus, die Johannes wohl selber hatte: „Blinde sehen, Taube hören, Tote stehen wieder auf, den Armen wird das Evangelium verkündet.“ Das kommende Reich Gottes ist also zu erkennen nicht nur an Worten, seien es fromme Ergüsse oder bürokratische Erlasse und Verordnungen, an der „richtigen“ Theologie oder am systemkonformen Verhalten, sondern an Taten der Liebe, der Befreiung, der Barmherzigkeit, der Zuwendung und der Gerechtigkeit. Der Einsatz für die Armen ist in Wahrheit ein einziger adventlicher christlicher Gottesdienst.
Ich fasste immer mehr Mut und sagte am 17. Dezember 1978 in meiner Adventspredigt – über Radio im ganzen Land zu hören: „Ein Weihnachtsfest, das nicht Fleisch annehmen würde durch das befreiende Handeln Gottes mitten in den tragischen, schmerzlichen und hoffnungsvollen Wechselfällen unserer Realität – ein solches Weihnachtsfest hätte mit dem Christentum nichts zu tun. Gott will doch unsere Geschichte heil machen. Deshalb müssen wir die biblische Botschaft vom Advent auf unsere eigene, traurige Geschichte beziehen. Dort müssen wir Gott begegnen.“
Die Logik der Nachfolge
War ich selber ein Prophet wie Johannes? Ich weiß es nicht. Andere sagten es von mir. Ich hab mich jedenfalls nicht selbst in diese Rolle gedrängt. Es war eine Berufung durch die Armen, die in besonderer Weise Spuren von Gott in sich tragen. Im Innersten habe ich zweifellos das Verlangen verspürt, wenigstens ein kleiner Johannes in der Wüste zu sein. Am 10. Dezember 1978 sagte ich in einer Predigt: „Wer könnte denn endlich meinen Worten die Redegewalt eines Propheten geben, um die Abstumpfung jener zu erschüttern, die vor dem Reichtum auf den Knien liegen, jener, die aus Gold und Geld, aus Macht und Politik unsterbliche Götter machen wollen. Aber das alles wird vergehen. Eine andere Welt ist möglich.“
Wie Jesus selbst geriet auch Johannes mit den etablierten Kreisen der Gesellschaft und der organisierten Religion in Konflikt. Die Legitimität seines Auftretens wurde in Abrede gestellt. Das passierte mir auch. Mächtige Politiker, sogar bischöfliche Kollegen von damals klagten mich in Rom an. Angeblich war ich zu radikal, für einige gar marxistisch angehaucht. Die gute Nachricht für die einen – die Armen – ist immer unbequem für die anderen, die an einer Veränderung kein Interesse haben. Der Tod des Johannes, inszeniert als makabres Spiel der Interessen, liegt in der Logik der Nachfolge. Diese ist unbequem, aber auch befreiend, fruchtbar für andere und für alles, was nach Gottes Logik noch kommen soll. Nur wenn das Weizenkorn in die Erde fällt und stirbt, bringt es Frucht.
Johannes war eine „Spürnase“, ein „Türsteher“, ein „Schwellenheiliger“, der „Vorläufer“ eines anderen, einer neuen Wirklichkeit. Er ist nicht selber der andere, er führt auch nicht selber die neue Wirklichkeit ein, er verweist „nur“ auf sie. Johannes verweist unerschrocken auf das, worauf es an einem bestimmten Wendepunkt der Geschichte ankommt. Er weist vor allem auf den hin, der kommt; oder wie es ein modernes Kirchenlied bei euch ausdrückt: „Worauf es ankommt, wenn er (wieder)kommt.“
Das wird nicht in Erlassen, Dokumenten und Briefen stehen, woher sie auch immer kommen mögen. Entscheidend für die Fruchtbarkeit der Kirche Jesu ist vielmehr die Offenheit für den Geist. Die Offenheit im Umgang miteinander. Die Offenheit für den Ruf zur Umkehr. Der Mut, Grenzen zu überschreiten und Neuland zu entdecken. Die Kraft des persönlichen und gemeinsamen Zeugnisses in der Nachfolge. Die Fähigkeit unserer Kirche, Weisungen zu geben und Initiativen zu ergreifen, welche für andere befreiend, ermutigend, tröstend, aufbauend sind. Die gemeinsame Suche nach dem, worauf es ankommt, damit das Reich Gottes sich mehr und mehr durchsetzt gegen alles, was den Menschen und die Schöpfung erniedrigt. Immer wieder habe ich gesagt, gepredigt und geschrieben: „Mich selber kann man töten, nicht aber die Stimme der Gerechtigkeit und der Hoffnung.“ Diese Hoffnung trägt die Kirche.
Am 24. März 1980 wurde ich ermordet, während der Feier der Eucharistie. Ich weiß mich damit in der Nachfolge Jesu und der des Johannes. Ich bin damit für immer ein Teil des gebrochenen Brotes, das in der Erinnerung an Jesus der Welt Leben gibt und Hoffnung auf Auferstehung.
Ich möchte Euch zurufen, was Václav Havel, der Dramatiker, Menschenrechtler und ehemalige tschechische Präsident, gesagt hat. Für ihn ist Hoffnung eine innere Dimension des Menschen. Sie hat nichts mit Vorhersagen zu tun. Sie ist ein Kompass des Herzens. Im Tiefsten ist Hoffnung nicht die Freude darüber, dass die Dinge gut laufen. Sie ist auch nicht die Investition in ein Unternehmen, das den Weg zum schnellen Erfolg verspricht. Hoffnung ist vielmehr die Fähigkeit, sich für etwas einzusetzen, weil es gut ist, nicht aber, weil es unbedingt Erfolg verspricht. Hoffnung ist alles andere als naiver Optimismus. Sie zieht ihre Kraft aus tiefen Quellen. Aus der Gewissheit nämlich, dass in der Perspektive des Kommenden etwas sinnvoll ist.
Und so bete ich mit Euch allen: Herr, Dein Reich komme, Adveniat regnum tuum. Señor, que venga tu reino, hoy y siempre.