Es ist jedes Jahr dasselbe: Sobald der Sommer sich verzieht, kehren die ersten Lebkuchen in die Geschäfte ein. Ihre Dichte nimmt im Oktober zu, bis das weihnachtliche Sortiment Anfang November seine Fülle erreicht. Bald danach vermag das Ohr sich weihnachtlichen Gesängen schon nicht mehr zu verschließen. Und jeder, der in einer deutschen Innenstadt arbeitet oder wohnt, kann ein Lied von den Weihnachtsmärkten singen, die das Straßenbild für Wochen bestimmen.
Die Kirchen haben in den letzten Jahren eine zweideutige Haltung zu diesen Entwicklungen eingenommen. Auf der einen Seite können sich kirchliche Gruppen und Vereine popkulturellen Einflüssen, wie der faktischen Vorverlegung des Festes in die Adventszeit oder der vorherrschenden Festästhetik (möglichst bunt und glitzernd), nicht entziehen. Auf der anderen Seite haben kirchliche Institutionen eine große Distanz zu den ihrer Kontrolle und Deutungshoheit entgleitenden Weihnachtsbräuchen aufgebaut. Aktionen wie die „Weihnachtsmannfreie Zone“, die ein katholisches Hilfswerk ausruft, reagieren auf einen Verlust des christlichen Profils, der dem Weihnachtsfest drohe.
Sich beim Leben zusehen
So nervig ich manchen weihnachtlichen Kitsch auch finde und so sehr mein Herz dem Christkind gehört – und nicht dem Weihnachtsmann –, muss ich doch bekennen: Was uns in den Wochen vor Weihnachten begegnet, finde ich theologisch interessant. Es führt uns vor Augen, was dem Christentum blüht, wenn seine Entkirchlichung und Entdogmatisierung voranschreiten, wofür derzeit ja alles zu sprechen scheint: eine Transformation religiöser Motivik, die nicht ohne Verluste abgeht, die aber auch nicht das Ende des Christentums einläutet, weil dieses eben mehr ist als seine institutionalisierten oder dogmatisierten Formen.
Der Philosoph Odo Marquard hat darauf hingewiesen, dass „der Mensch immer lebt und sich sozusagen zusieht beim Leben; er ist das Doppelwesen, das immer in der Vollzugswelt und in der Reflexionswelt zugleich lebt“. Was für den Menschen und sein Leben im Allgemeinen gilt, das gilt für den Theologen und seinen Glauben im Besonderen. Er glaubt und sieht sich zugleich beim Glauben zu. Er lebt in der Vollzugswelt der Kirche und baut in der Reflexionswelt eine denkerische Distanz zu ihr auf, ohne sich aus ihr zu verabschieden. Diese Distanz wiederum ermöglicht es, nicht nur sich selbst, sondern auch anderen beim Leben zuzusehen. Schaut ein Theologe anderen, weniger oder gar nicht kirchlich gebundenen Menschen beim Leben zu, kann er allerlei entdecken: Glaube, Unglaube oder irgendetwas Interessantes dazwischen – je nachdem, welche Brille er aufsetzt. Die scheinbar säkularen Weihnachtsbräuche befüllen oft jenen Zwischenraum.
Der evangelische Theologe Jörg Lauster hat seine Kulturgeschichte des Christentums „Die Verzauberung der Welt“ genannt. Diesen Titel finde ich missverständlich. Er spielt antithetisch mit der von Max Weber geprägten, später auch von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aufgegriffenen Formulierung von der „Entzauberung der Welt“. Weber versucht damit, so heißt es in seinem Aufsatz „Wissenschaft als Beruf“, die „zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung“ der modernen Weltsicht zu beschreiben, in der es „prinzipiell keine geheimnisvollen, unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen“.
Der Überschuss der Kultur
Wer demgegenüber die kulturelle Prägekraft des Christentums als eine Verzauberung versteht, erweckt den Eindruck, als stehe das Christentum der von Weber beschriebenen Intellektualisierung und Rationalisierung entgegen, weil es von den geheimnisvollen, unberechenbaren Mächten nicht lassen könne. Das ist bisweilen sicher so, aber nicht notwendigerweise immer der Fall. Auch das Christentum hat entzaubernd gewirkt, indem es weit in die Immanenz alltäglichen Lebens hereinreichende, magische Praktiken zugunsten des transzendenten und damit eher fernen Gottes zurückdrängte. Oder noch verwickelter: Das Christentum könnte (ich sage bewusst: könnte!) durch Verzauberung Entzauberung gestiftet haben. Man denke etwa an die These des Soziologen Hans Joas, dass die moderne Vorstellung der Menschenrechte auf der Idee einer Sakralität der Person beruhe, die der unhintergehbaren Heiligkeit des Einzelnen auch unhintergehbare Rechte zur Seite stelle, durch welche wiederum politische Prozesse, so würden wir wohl sagen, in rationaler Weise normiert werden.
Dieses komplexe Verhältnis von Ver- und Entzauberung vorausgesetzt, lässt sich Lausters Kulturgeschichte gewinnbringend lesen. „Kultur“, so Lauster, „verarbeitet und artikuliert über ihr zivilisatorisches Fundament hinaus einen mit keiner Funktion verrechenbaren Überschuss im Welterleben, sie repräsentiert ein Weltgefühl, das mehr ist als das Sich-Einrichten in der Welt. Das Christentum ist die Sprache eines Weltgefühls, das den Überschuss als das Aufleuchten göttlicher Gegenwart in der Welt versteht.“ Man könnte zugespitzt sagen: Der Mensch lebt weder vom Brot allein noch allein von dem Wort, das aus Gottes Mund kommt. Vielmehr eröffnet sich zwischen den uns nahegehenden Notwendigkeiten des Alltags (wie Essen, Sexualität, Kommunikation) und dem Glauben an den Gott, der diesem Alltag fernsteht und doch von Christen als in ihm gegenwärtig erhofft wird, ein weiter Raum: der Raum der Kultur. Er ermöglicht es dem Menschen, die verschiedenen Aspekte seines Wesens – biologischer, sozialer oder religiöser Art – in eine strukturierte Einheit zu bringen.
Eine solche Ordnung ist aber nicht bloß funktional, sondern durch einen nicht verrechenbaren „Überschuss“ geprägt. Konkret: Der Mensch muss Nahrung zu sich nehmen, um biologisch zu überleben, tut das aber trotz seines technischen Könnens nicht in Form einer nährwertoptimierten „grau-beigen Schlurze“, so eine furchterregende Formulierung aus Jonas Lüschers Roman „Kraft“, sondern meist in einem kulturell geordneten Kontext. Oder: Man kann an die Menschwerdung Gottes auch ohne die Vertonung der Weihnachtshistorie von Heinrich Schütz glauben. Mit der Musik von Schütz wird das Leben im Glauben aber schöner. Diese Schönheit ist jedoch kein Besitzstand des institutionalisierten Christentums – sie ist ein Überschuss des christlichen Welterlebens, der auch außerhalb kirchlicher Mauern bestehen und Ungläubige anrühren kann, ohne sie dadurch zu Gläubigen machen zu müssen. Das dürfte bei Geistlicher Musik wenig umstritten sein, vertont – um im Beispiel zu bleiben – Schütz doch biblische Texte und füllt damit zugleich säkulare Konzertsäle.
Was aber ist von Phänomenen wie dem Weihnachtsmann zu halten? Für viele Menschen personifiziert er, mittlerweile mehr als das Christkind, das Weihnachtsfest und die Gefühle, die sie damit verbinden. Innerkirchlich gilt der Weihnachtsmann bei einigen als unchristlich, gar als antichristlich. Er sei eine Erfindung der amerikanischen Werbeindustrie, die der Konsumstimulation diene und den heiligen Nikolaus verdrängen wolle. Das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig.
Santa Claus oder Santa
In Amerika, von woher die Gestalt, die wir auf Deutsch „Weihnachtsmann“ nennen, wieder zurück nach Europa gelangt ist, gibt es nämlich keine Konkurrenz zwischen ihm und dem Nikolaus. Beide werden dort einfach Santa Claus oder oft nur Santa genannt. Dass Santa nicht mehr als Bischof zu erkennen ist, hat er nicht der Werbebranche des 20., sondern schon der unübersichtlichen, kulturellen Landschaft des 19. Jahrhunderts zu verdanken – einer Zeit, die unsere altertümlich daherkommenden, oft aber recht jungen Weihnachtsbräuche in kaum zu überschätzender Weise zu prägen wusste. Das 2016 pünktlich zum Fest erschienene Buch „Noël – une si longue histoire“ (zu Deutsch etwa: „Weihnachten – so eine lange Geschichte“) der Sozialhistoriker Alain Cabantous und François Walter öffnet einem in dieser Hinsicht die Augen.
Vielleicht hat Santa Claus seine Mitra im orientfaszinierten 19. Jahrhundert verloren, weil man ihm, seiner kleinasiatischen Bischofsstadt Myra entsprechend, eine phrygische Zipfelmütze (oder was man dafür hielt) aufsetzte. Und vielleicht hat sich diese Darstellung dann mit dem englischen Father Christmas, einer frühneuzeitlichen Personifizierung des Weihnachtsfestes, die in den Streitigkeiten mit den weihnachtskritischen Puritanern Verwendung fand, vermischt. Vielleicht erklärt sich aber auch die urtümliche Gesichtsbehaarung Santas durch das Interesse des 19. Jahrhunderts an der nordischen Sagenwelt, deren Götter man sich als stark bebartete, ältere Herren vorstellte, die in nördlich-kalten Regionen wohnen, was auch die Affinität des Weihnachtsmanns zum Nordpol und seine Verbindung zu Rentieren erklären würde. Ganz gleich, welche dieser Hypothesen man am überzeugendsten findet: Der Weihnachtsmann ist ein Gesamtkunstwerk, das keine simple Antithese zum Christentum darstellt, sondern zeigt, wie verschlungen christliche Motive Eingang in scheinbar säkulare Kulturformen finden. Auf diese Transformation christlicher Motivik hinzuweisen, die auch außerkirchlich präsent ist, wäre eine lohnendere Aufgabe, als einen Feldzug gegen den Weihnachtsmann anzuzetteln – eine Fehde, die die Kirche ohnehin verlieren würde, weil der schlittenfahrende Kryptobischof mit Zipfelmütze im Gegensatz zu den Bischöfen mit Mitra, von denen manche auch dicke Schlitten fahren, ein Sympathieträger ist.
Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht mir nicht darum, für den Weihnachtsmann zu werben. Seine mediale Dauerpräsenz macht ihn für mich zu einer Nervensäge. Und Santa Claus kann es, auch wenn er, wie Fred Coots singt, wachsamen Auges „to town“ kommt, nicht mit dem Christuskind aufnehmen. Das kommt nämlich nicht nur in die Stadt, sondern kehrt mit seinem Segen ein in jedes Haus und geht auf allen Wegen mit uns ein und aus – eine in ihrer vordergründigen Naivität und zugleich in ihrer existenziellen Tiefgründigkeit anrührende Aussage. Der Weihnachtsmann kann so etwas nicht bieten. Insofern sind Christen gut beraten, beim Christkind zu bleiben.
Lob des Mehrdeutigen
Aber das fast schon aggressive rhetorische Draufschlagen auf den Weihnachtsmann, das in manchen Kreisen betrieben wird, könnte ein Symptom für einen kulturellen Rückzug in den binnenkirchlichen Raum scheinbarer Eindeutigkeiten sein. Kunst und Kultur, auch in ihren populärsten Erscheinungsformen, sind aber mehrdeutig. Das gilt (Gott sei’s gedankt) für die Kulturformen der Liturgie und des Dogmas; es gilt aber auch für den Weihnachtsmann, der als eine Art Container für die Wünsche, Sehnsüchte und emotionalen Bedürfnisse vieler Menschen dient. Mehrdeutigkeit macht Kultur erst interessant – und je mehrdeutiger, desto interessanter. Wenn die Kirche also auch für Außenstehende oder nur halb in ihr Stehende interessant bleiben will und sich nicht nur als Kleingruppe, sondern als kultureller Global Player versteht, muss sie einen Zugang zu dieser Mehrdeutigkeit finden. Damit ihr das gelingt, hat sie größer von dem zu denken, was ihr fremd erscheint, und auch größer von dem, was sie selbst ist.
Denn wenn der Mensch, der seinen Glauben verstehen will, nicht nur – wie eingangs in Anlehnung an Marquard formuliert – sich selbst und seinen Religionsbrüdern, sondern auch den anderen beim Leben zusieht, entdeckt er vielleicht Phänomene, in denen er emanzipierte Aspekte seiner eigenen Glaubenswelt erkennt und zu deren sinnstiftender Deutung er beitragen kann. Trotz aller Einsicht in die Wichtigkeit der Kirche ist „das Christentum seit seinen Anfängen stets mehr als seine konkreten Erscheinungsformen“, so Jörg Lauster. Was Lauster von den Bildwerken Caspar David Friedrichs oder den Hymnen des Novalis sagt, lässt sich auch von mehr oder minder geschmackvollen, teilweise recht jungen folkloristischen Weihnachtsphänomenen – wie eben dem Weihnachtsmann – zeigen. Sie bewegen sich nicht „auf der Ebene traditioneller christlicher Ausdrucksformen wie das Dogma oder die Liturgie, und doch bringen sie christliche Gestimmtheiten und Haltungen zum Ausdruck“.
Christliche Spuren anderswo
Für viele Menschen stellt Santa eine von ihnen durchaus als diffus-christlich wahrgenommene Personifizierung des Weihnachtsfestes dar. Deshalb kommt er auf religiös indifferenten Grußkarten, die einem amerikanische Universitäten mit dem Hinweis „Season Greetings“ (nicht „Merry Christmas“) schicken, auch nicht vor. Santa ist also für die radikal Säkularen, die eine Weihnachtskarte nicht mehr Weihnachtskarte nennen und sie deshalb mit völlig sinnbefreiten Wünschen für eine gelungene Wintersaison befüllen, zu christlich und für die binnenkirchlich verriegelten Christen zu säkular. Er füllt einen Zwischenraum.
Und nun? Anstatt dogmatisch uneindeutige Weihnachtsbräuche schlicht als unchristlich zu klassifizieren, könnten Christen sich bemühen, die in diesen Phänomenen zum Ausdruck kommenden christlichen „Gestimmtheiten und Haltungen“ zu artikulieren, ihnen eine Sprache und eine Form zu geben. Dass Menschen dafür zumindest – und oft leider nur noch – an Weihnachten offen sind, zeigen die an Heiligabend überfüllten Kirchen, in denen übrigens dieselben Menschen sitzen, die in den Wochen davor wahrscheinlich unzählige Weihnachtsmänner in essbarer oder gedruckter Form verschenkt haben oder selbst geschenkt bekamen. Macht die Kirche, wenn sie zum kulturellen Dolmetscher wird, sich kleiner als sie in Wahrheit ist? Nein, im Gegenteil: Denn erstens verlangt niemand, dass die Kirche ihre eigenen Lehren und Bräuche aufgeben soll – sie verkündet Christus, der in die Welt hinabgekommen, und nicht Santa, der im Schornstein steckengeblieben ist. Christen könnten aber zweitens dem Fest ihrer rettenden Stunde entspannter entgegengehen, wenn sie das meiste, das ihnen in der Vorweihnachtszeit begegnet, nicht einfach als Erscheinungen des Verfalls betrachten, sondern als Transformation von Motiven, die auch ihrer eigenen Tradition entspringen. Und um den vielen Menschen, die auf die Weihnachtsmärkte strömen, die Santa ihre Stiefel rausstellen und von einer weißen Weihnacht träumen, überhaupt etwas Tiefsinniges anbieten zu können, muss die Kirche drittens selbst etwas haben: den Glauben an Christus, den menschgewordenen Gott, der so groß ist, dass er es nicht nötig hat, andere klein zu machen, weil Gott mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnt (Kol 1,19) – eine Fülle, die so voll ist, dass sie überläuft und ihre Spuren auch dort hinterlässt, wo man sie nicht vermuten würde.