Leningrad 1940. Das war keine gute Zeit, um geboren zu werden. Jedenfalls nicht für einen Russen, dem es anscheinend schon in die Wiege gelegt war, einer zweckfreien, nichtpropagandistischen Kunst zu frönen: der Poesie. Sich abseits des verordneten sowjetischen Realismus zu betätigen, das erregte Verdacht. Und Joseph Brodsky (1940–1996) las und schrieb viel. So viel, dass er mit fünfzehn Jahren die Schule wegen schlechter Noten verließ und sich fortan als Hilfsarbeiter über Wasser hielt. Später bezeichnete er diese Entscheidung einmal als seinen „ersten freien Willensakt“. Wie andere hochbegabte Dichter stellte er sich seinen eigenen Lehrplan zusammen: In der Freizeit lernte er unter anderem Polnisch und Englisch, um Czesław Miłosz und John Donne zu lesen. Er übersetzte fremdsprachige Gedichte, um seine Ausdruckskraft zu formen und seinen eigenen Ton zu finden.
Eine „Weihnachtsromanze“
„Es treibt in unbekannter Trauer, / vom Alexander-Park gekommen, / entlang der alten Ziegelmauer / ein nächtges Schifflein, schwach erglommen…“ 1962 schrieb Brodsky diese Verse („Eine Weihnachtsromanze“). Darin beschreibt er einen beklemmenden Nachtspaziergang durch die Stadt, „so grambeladen“, dass sich beim Leser unwillkürlich Erinnerungen an Spionagefilme aus Zeiten des Kalten Krieges einstellen. Es ist – kalendarisch – Weihnachten, doch mehr auch nicht: „…als ob jetzt alles anders wäre, / als würde neues Leben winken, / das Freude, Brot und Ruhm bescherte.“
Mit diesem Gedicht betrat der 22-jährige Brodsky die Bühne der großen russischen Poesie, ein Auftritt, der in der Szene saß: Frank und frei bekannte damals die Grande Dame der russischen Lyrik, Anna Achmatova (1889–1966), dass sie solche Gedichte seit Ossip Mandelstam (1891–1938) nicht mehr gelesen habe.
Die „Weihnachtsromanze“ markiert für Brodsky auch eine ganz persönliche lyrische Tradition. Von 1962 an bis zu seinem Tod 1996 wird er sie beibehalten: jedes Jahr ein Weihnachtsgedicht, „Geburtstagsgedichte für das Jesuskind“, wie er sie selbst nannte. Diesen kindlich-lyrischen Brauch unterbrach er nur für einige Jahre in der Krisenzeit einer zerbrochenen Liebe.
Anfang der sechziger Jahre erregten Brodskys Gedichte im Untergrund-Journal „Sintaksis“ den Anstoß der Obrigkeit und setzten ein „bewährtes“ Reaktionsmuster in Gang: Seine Lyrik wurde zunächst als „pornografisch und antisowjetisch“ denunziert, am Ende stand Brodsky vor Gericht.
Das US-Magazin „The New Yorker“ veröffentlichte in seiner Weihnachtsausgabe 2010 aus dem Prozess einen Auszug aus dem Dialog, der sich zwischen dem Richter und Brodsky in der mündlichen Verhandlung entwickelte. Eine linientreue kommunistische Journalistin hatte ihn auf eigene Faust mitstenografiert. Auf verschlungenen Wegen kam das Transkript in den Westen. Ein selbstbewusster junger Künstler trotzt dem Imperium:
Richter: Und was ist dein Beruf?
Brodsky: Dichter. Dichter und Übersetzer.
Richter: Und wer hat dir gesagt, dass du ein Dichter bist? Wer hat dir diesen Rang zugeteilt?
Brodsky: Niemand. (Nicht konfrontativ.) Wer hat mich der Menschheit zugeteilt?
Richter: Und hast du dafür studiert?
Brodsky: Wofür?
Richter: Um Dichter zu werden? Hast du versucht, eine Schule zu besuchen, wo sie [Dichter] trainieren …, wo sie unterrichten…
Brodsky: Ich denke nicht, dass es von der Ausbildung kommt.
Richter: Wovon denn dann?
Brodsky: Ich denke, es kommt … (ratlos) … von Gott.
In einem Land mit einem ideologisch verordneten Atheismus erinnert sich ein Dichter beharrlich jedes Jahr an die biblische Urszene im Stall von Betlehem. Noch dazu reklamiert er für seine Profession eine Instanz, die es im historisch-kritischen Materialismus gar nicht gibt: Gott.
Mit seinem provokativen Statement handelte sich der auffällige Poet 1964 eine Verbannung in den Verwaltungsbezirk Archangelsk in Nordwestrussland und fünf Jahre Zwangsarbeit wegen angeblich „parasitären Lebenswandels“ ein. Erst auf den anhaltenden Druck internationaler Proteste kam Brodsky nach zwei Jahren körperlicher Schwerstarbeit frei. 1972 wurde er schließlich als erster Schriftsteller der Nachkriegszeit des Landes verwiesen. Brodsky zog in die USA und bekleidete in der Folge mehrere Professuren. Vor allem aber fand er das, was längst nicht jedem Dichter vergönnt ist: eine auch in sprachlicher Hinsicht neue Heimat. Russischen Boden betrat er nicht wieder. Damit entging er dem russischen Stereotyp des zu Lebzeiten geschundenen, nach dem Tod verklärten Dichters.
Das Auge des Sterns
Anlass für Gedichte boten ihm oft ästhetische Begegnungen mit den Großen der europäischen Malerei. Vor allem die italienische Malerei des Mittelalters und der Renaissance hatte es ihm angetan. Kaum im Exil angekommen, habe er sie in Italien wie ein „Süchtiger“ aufgesucht, erinnert sich der Schweizer Slawist und Lyriker Ralph Dutli. „Presepio“, Krippe, so lautet der italienische Titel des Weihnachtsgedichts von 1991, das auch eine Hommage an die westeuropäische Kunst ist. Brodsky reiste immer wieder nach Italien, jedes Jahr im Winter nach Venedig, der Lagunenstadt, die ihm seiner Heimatstadt an der Newa verwandt erschien: Leningrad / Sankt Petersburg. Und dort, in Venedig, ist er auf der Friedhofsinsel San Michele neben Igor Strawinsky und Ezra Pound begraben.
„Weihnachtstage. Die Läden sind voll. / Jeder Mensch ist ein Magier, ein König… / Niemand weiß, wer da kommt, wem er gleicht. / Übersehen ihn die Herzen vielleicht?“ In diesem letzten in Russland geschriebenen Gedicht („24. Dezember 1971“) belässt es Brodsky nicht bei dem lyrischen Aufspüren von Stimmungen und Gefühlen rund um das Fest. Eindrücke, die er oft bissig-satirisch aufspießt – so etwa beim Anblick von mit Geschenken schwer bepackten Menschen: „Jeder Mensch ist sich selbst ein Kamel.“
Aber Brodskys Gedicht bleibt nicht bei reiner Konsumkritik stehen. In dem banalen Einkaufsbummel bricht unversehens etwas hervor, wonach keiner Ausschau gehalten hatte: „Ankunft des Herrn“. In den Schlussversen geschieht die Wendung: „Und schon fühlst du den Heiligen Geist / samt dem Kind. Und du wirst nicht verlegen, / sondern schaust in den Himmel. Und fern, / in der Höhe, erblickst du den Stern.“ Der Stern aber, der fast beiläufig genannte, ist für Brodsky mehr als nur ein Stern. Er ist das „Auge des Vaters“, das über dem Christkind leuchtet und wacht.
Lerne deine Wüste lieben
Der Sohn jüdischer Eltern liebte das Weihnachtsfest. Er war sogar von der Unzertrennlichkeit des Jüdischen und des Christlichen überzeugt – egal wie wenig er der jüdischen Tradition folgte und wie sehr ihn die christliche Weihnacht faszinierte. Aus dieser Freiheit heraus hat Brodsky tiefe lyrische Weihnachtsbilder geschaffen, die „von einem ernsten Dichter am Ende des 20. Jahrhunderts kaum zu erwarten“ waren, wie die Literaturkritikerin Olga Martynova einmal schrieb. Dass Weihnachten „kein zentrales Motiv der Weltliteratur“ sei, es nicht die „literarische Produktivität reizt“, wie der Theologe Georg Langenhorst einmal urteilte, das gilt für Joseph Brodsky nicht. Seine Weihnachtsgedichte sind keine süßen Genrebilder, sie muten dem Leser eine bisweilen harte Konfrontation mit der heillosen Welt zu. Angesichts der Unbehaustheit des Menschen erscheint Gottvater selbst als „Obdachloser im Obdachlosen“, wie es im Weihnachtsgedicht von 1989 heißt. Eine Provokation, aber alles andere als Blasphemie.
Die Wüste in der Welt, das bleibt ein Leitmotiv seiner Weihnachtsgedichte nach der Übersiedlung in den Westen. In einem der schönsten Weihnachtsgedichte, „Wiegenlied“ (1992), legt Maria dem Kind Ratschläge in die Krippe. „Lerne, Sohn, die Wüste lieben“ heißt es refrainartig immer wieder in dem Gedicht. Was auf den ersten Blick paradox heillos erscheint, ist genau betrachtet fein austariert, gezielte Steigerung: „Lerne lieben deine Wüste / in der Nacht / und den Stern, der dieses Düster / leuchten macht.“ Brodsky überblendet zwar das weihnachtliche Betlehem mit dem winterlichen Russland – seine harten Kindheits- und Jugenderfahrungen, die seiner Familie und seiner Dichterfreunde – wie auch mit dem winterlichen Westen. Und doch hält er sich offen für den Funken Hoffnung, einen Lichtstrahl. Illusionslos und skeptisch mit Blick auf den Menschen, dagegen meditativ ausgerichtet auf den ganz Anderen.
„Der Glaube an Gott ist im Norden mager. / Und wenn, dann ist er in jenem Lager, / in dem man uns weichgeklopft, brüllt der Wärter: / ‚Na wartet, es kommt noch härter!‘“ Brodsky lehnte es ab, das Weihnachtsthema lyrisch auszuschlachten. Oder mit seiner Biografie zu kokettieren. Trotzdem schimmert der biografische Hintergrund durch seine Gedichte. Die Erinnerung an unmenschliche Gewalt befördert die Sehnsucht nach einer Familie – wie sie in dem zerbrechlichen Glück der Heiligen Familie vorgeprägt ist, und das ihm persönlich lange Zeit verwehrt war. „Sie waren zusammen. Das Wichtigste aber: / Sie waren zu dritt. Und so wird jede Habe / und Gabe und Gabel seitdem (mittlerweile) / gespalten in mindestens drei gleiche Teile.“ In einem anderen Gedicht heißt es mit Blick auf die Flucht nach Ägypten: „Da waren des Nachts geborgen die drei.“
1987 schließlich erhält der vielfach Geehrte seinen größten Lorbeerkranz, den Nobelpreis für Literatur. Die Begründung ist aufschlussreich: Brodsky erhalte den Preis „für ein literarisches Schaffen von umfassender Breite, geprägt von gedanklicher Schärfe und dichterischer Intensität“. Und, so fährt das Nobelpreis-Komitee fort: „Für ihn ist das Gedicht ein göttliches Geschenk. Die religiöse Dimension seines Werkes ist kompromissloser Natur.“
Kompromisslos irritierend liest sich auf den ersten Blick das Gedicht „1. Januar 1965“. Noch ein Weihnachtsgedicht oder bereits eines auf das neue Jahr? Weit gefehlt. „Die Magier kommen zu dir: / Die Anschrift fehlt. Kein Stern als Zier.“ Dann werden „Schatten“ abgeworfen und Kerzen gelöscht. Eine Trauer hält Einzug, die jeden an seine Todesstunde gemahnt. Doch der Adressat bleibt (scheinbar) unklar. „Du blickst hinauf und sagst nichts mehr, / denn du erkennst: Der Strumpf ist leer.“
Als Brodsky dieses Gedicht schrieb, verbrachte er sein erstes Weihnachten im Arbeitslager. Neujahr, das war das kommunistische Gegenfest zum westlichen (25. Dezember) und orthodoxen (7. Januar) Weihnachten. Es sollte die alten Bilder, Lieder und Texte in den Menschen löschen. Der Dichter nimmt die Ideologen beim Wort und konfrontiert ihr trostlos konzipiertes Fest mit der christlichen Menschwerdung. Bei dem Vergleich bleibt nicht nur der „Strumpf“ zum Fest „leer“. Brodsky war kein dezidiert politischer Poet, seine fein ziselierte Klimax demaskiert aber auch die Inhaltslosigkeit der Machthaber. Die Schlussverse sprechen aus, was bis heute jeder Diktator fürchtet: das freie und aufrechte Individuum, das seinesgleichen nicht über sich stehen sieht. „Man sieht den Himmel und versteht / sich selbst als Gabe – ganz konkret / und ohne Vorbehalt.“
Die Gebrochenheit menschlicher Existenz und eine tiefe Sehnsucht nach dem Glück, beschieden und beschienen von Gott: Dieses poetische Paar taucht auch in Brodskys letztem Weihnachtsgedicht wieder auf. Er befand sich in New York, als er 1995 schrieb: „Ein Stern hat über die Schwelle geschaut. / Doch keiner von ihnen war vertraut / mit der tieferen Ursache dieses Lichts. / Bis auf das Kind – und das sagte nichts.“
Es kommt noch etwas…
Joseph Brodsky, Weihnachtsgedichte (Russisch – Deutsch). Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg (Carl Hanser Verlag, München 2004, 95 S., 14 €)