Karl LehmannDer Dolmetscher

Mit jedem Menschen stirbt eine Weltgeschichte. Wie sehr dieser Satz Heinrich Heines zutrifft, zeigt in Großaufnahme das Lebenswerk des Mainzer Kardinals Karl Lehmann, der 81-jährig gestorben ist.

Zunächst habe ich gezögert, mich in gebotener Kürze auf die Begehung einer solch reichen Lebenslandschaft einzulassen. Nur die Tatsache, dass ich Karl Lehmann nicht nur aus Medien und Konferenzen kannte, gibt mir den Mut dazu – und die Tatsache, dass er selber Presse und Journalismus als Medium stets hoch geschätzt und Öffentlichkeit um der Sache willen auch gesucht hat.

Als Karl Lehmann 1967, nach dem Doktor in Philosophie frisch auch in Theologie promoviert, aus Rom nach Münster kam, waren wir dort ein knappes Jahr Assistenten an der katholisch-theologischen Fakultät. Unsere Diensträume lagen nebeneinander, und es gab manchen Austausch – bei gehörigem Respekt meinerseits. Lehmann war nicht nur zwei Jahre älter, er hatte schon den Nimbus eines doppelt promovierten „Überfliegers“, mit brillanter Gedanken- und Gedächtniskraft und immenser Arbeitsdisziplin.

Das „Handbuch der Pastoraltheologie“ – für nachkonziliare Seelsorge so wichtig – war im Entstehen, und ohne die kärrnergleiche Zu- und Mitarbeit Lehmanns hätte Karl Rahner das Unternehmen kaum gestemmt (und manch anderes auch nicht). In diesem mehrbändigen Werk stehen wichtige Aufsätze von Lehmann selbst, die sein enzyklopädisches Wissen belegen. Dieser Blick über den theologischen Tellerrand hinaus blieb für sein weiteres Wirken ebenso kennzeichnend wie sein pastorales Engagement. Gerade 32-jährig, wurde Lehmann 1968 als Dogmatik-Professor nach Mainz berufen, drei Jahre später in sein Heimatbistum Freiburg.

Mainz – Freiburg – Mainz

Dann trafen wir uns persönlich 1983 wieder, als ich die Leitung der katholischen Akademie Rabanus Maurus der Diözesen Fulda, Limburg und Mainz übernahm. In Mainz war Lehmann endlich Bischof geworden, in Freiburg war es dazu nicht gekommen, obwohl viele damit eigentlich gerechnet hatten. Seitdem traf ich ihn, nun einer meiner Vorgesetzten, oft und mindestens zwei Mal jährlich zu ausführlichem Gespräch. Er hörte immer genau zu, nachdenklich, genau informiert und reich belesen, ständig unter Zeitdruck und doch gelassen, mit erstaunlicher Namens- und Detailkenntnis, viele Projekte fördernd und anstoßend, dabei stets zugewandt und herzlich. Regelmäßig kamen freilich auch Personen und Themen ins Gespräch, mit denen ich direkt nichts zu tun hatte.

Spürbar wurden da manche Tücken des kirchenpolitischen Parketts, die Versuchungen der Macht und die Ambivalenz des „Netzwerkens“. Bewundernswert war die keineswegs selbstverständliche Bereitschaft des termingeplagten Bischofs, auch sonst jederzeit ansprechbar zu sein. Einer, der es wissen musste, sagte damals: „Früher war es leichter für mich: Ich machte die Vorlagen, und die Bischöfe unterschrieben. Jeder will jetzt der Mächtigste sein.“

Schaue ich, bewegt und dankbar, auf das vielfarbige Lebenswerk Lehmanns, so bleibt bestimmend: Er hatte Grundsätze und Perspektiven, und wohl deshalb war er ein begnadeter Brückenbauer und Mediator mit langem Atem. Der besondere Akzent dabei war sein entschiedenes Ja zur Gegenwart. Darin zeigen sich Geist und Buchstabe des Zweiten Vatikanischen Konzils. Papst Johannes XXIII. hatte einen „Sprung nach vorn“ gefordert und das auf den Weg gebracht, was dann programmatisch „Aggiornamento“ hieß, Verheutigung. Keine nostalgische Rückwärtsbindung also, keine Träumerei in eine phantasierte Zukunft, nein: Wirken hier und jetzt in den Zeichen der Zeit, stets auch im Gespräch mit den Gebildeten unter den Verächtern des Christentums. Der Grundsatz des damaligen Papstes „Alles sehen, vieles übersehen, weniges verändern“ ist geeignet, den Mittler Lehmann und seine Kunst der Vermittlung zu würdigen.

Mit der Bibel im Wappen

Die Revolution des Konzils besteht ja darin, zwei Kirchen-Konstitutionen geschafft zu haben: eine mit dem Blick nach innen und eine mit dem nach außen. Dieser visionäre Doppelblick kennzeichnet Lehmanns Lebenswerk: ganz in der Kirche und gerade deshalb ohne jede Berührungsangst in der Welt von heute, mit ihr und für sie und deshalb in wechselseitiger Spannung. Dialog, der aus dem Geheimnis der Selbstmitteilung Gottes kommt, ist das Wesen des Glaubens und der Kirche. Hier liegt die Mitte von Lehmanns eindrucksvollem Dienst und Wirken.

Fangen wir beim Herzstück des Christseins an: Glaube und Geschichte, Schrift und Tradition, Glaubensbiografie und Gemeinschaft der Glaubenden. Deren inneren Zusammenhang, deren „Hierarchie der Wahrheiten“ zu verstehen und argumentativ zu erschließen, war Lehmann um der Mitmenschen von heute willen wichtig. Hermeneutik, also Dolmetscherkunde, war das große Stichwort, zum Beispiel bezüglich der Geschichtlichkeit des Glaubens und seiner Dogmen. Der junge Student am Collegium Germanicum in Rom wurde mit einer riesigen und bis heute wichtigen Arbeit zum Denken seines Landsmanns Martin Heidegger promoviert. Ohne die Beachtung philosophischer Denkformen sind Vermittlung und Verantwortung des Glaubens, sollen sie auch intellektuell tragfähig sein, nicht möglich. Bloße Erfahrung bliebe zu einsam und beliebig, und Praxis ohne Theologie wäre stets in Gefahr bloßen Getues. Es braucht den offensiven Austausch mit Philosophien und Wissenschaften. Lehmanns theologische Promotion, ebenfalls umfangreich und inspirierend, hatte einen stark biblischen, exegetischen Akzent, ging es da doch um Geschichte und Gestalt des Osterbekenntnisses. Wenn auch die biblische Detailarbeit beim Dogmatiker Lehmann fortan unterbestimmt blieb, war seine theologische Arbeit beispielhaft geprägt vom Bemühen, den christlichen Glauben mit den Denk- und Sprachformen der Gegenwart zu vermitteln. In seinem Bischofswappen hat er die aufgeschlagene Bibel.

Schier unzählbar sind die vielen Veröffentlichungen; wichtiger noch: seine Schüler und Schülerinnen, mit denen er oft neue Themen und Projekte vorantrieb. Für Lehmanns theologische Perspektive ist auch bezeichnend, dass er die römische Zensur gegen Hans Küng als „rabenschwarzen Tag für die Theologie“ bezeichnete. Dass die beiden sich dann doch im Konflikt um das Unfehlbarkeitsdogma nicht ohne Verletzung trennten, gehört zu den möglichen Wunden theologischer Existenz und kirchlicher Politik.

Trotzdem war Lehmann als Dogmatik-Professor und später ebenso als Bischof ein unermüdlicher Dolmetscher. Das setzt die Kenntnis mehrerer Sprachen und ihrer Grammatik voraus. Möge es doch weiterhin möglichst viel solcher Mehrsprachigkeit auch im Bischofsamt geben, wobei zusammen mit der akademischen Kompetenz die seelsorgliche notwendig ist.

Lehmann war immer ein Mann der Kirche, und zwar der konkreten. Zumal als Vorsitzender der Bischofskonferenz hat er seine Kunst der Vermittlung vielfältig beweisen müssen und bewähren können. Schon in der Würzburger Synode der westdeutschen Bistümer, in der es um die Aneignung des Konzils ging, war er als engster Berater von Kardinal Julius Döpfner eine wichtige Instanz. Das gilt auch für die „Königsteiner Erklärung“ zu Fragen der Ehe- und Sexualmoral, in der die deutschen Bischöfe sich mit seltenem Mut kritisch mit der Enzyklika „Humanae vitae“ von Papst Paul VI. auseinandersetzten. So brauchte es intensive Vorzimmerarbeit von Kardinal Hermann Volk, um 1983 in Rom dann doch die Ernennung Lehmanns zum Mainzer Bischof zu erreichen. Schon 1987 wurde er Bischofskonferenz-Vorsitzender und blieb es bis 2008. Die Würdigung dessen, was er in dieser Zeit in Personal- und Sachfragen, für Einzelne und Gruppen vermittelnd geleistet hat, würde mehr als ein Buch beanspruchen.

„Nachnominiert“

In der Öffentlichkeit recht bekannt wurden zwei Fälle: Die „Kölner Erklärung“ von rund 150 Theologen für Reformen in der Kirche nahm Lehmann zum Anlass für regelmäßige Beratungen mit den Vertretern theologischer Fakultäten. In der schmerzlichen Debatte über die Schwangerschaftskonfliktberatung war auch Lehmann entschieden gegen den Eingriff der römischen Glaubenskongregation. Am Ende freilich blieb Bischof Franz Kamphaus, sein Limburger Mitstreiter in der Kirchenreform, mit dem Widerspruch gegen die römische Anweisung zum „Ausstieg“ völlig allein und auch einsam. Die für Katholiken selbstverständliche Loyalität gegenüber der Gemeinschaft der Bischöfe und dem Bischof von Rom hat eben auch für Ortsbischöfe verschiedene Formen und führt mitten hinein in das Geheimnis der persönlichen Glaubensentscheidung, ihrer Stärken und Schwächen.

In die Abgründe real existierender Kirchlichkeit gehört ebenso, dass Lehmann erst als „Spätberufener“ in das Kardinalskollegium aufgenommen wurde. So sehr misstraute man in Rom seiner Vermittlungskraft. Es bedurfte der Intervention des Oppelner Bischofs Alfons Nossol in Rom, damit Lehmann von Johannes Paul II. „nachnominiert“ wurde. Wie sehr freute Lehmann sich noch darüber, dass Papst Franziskus in Sachen Zulassung wiederverheirateter Geschiedener zu den Sakramenten endlich voranbringt, was er selbst zusammen mit den Bischöfen von Freiburg und Rottenburg-Stuttgart zwanzig Jahre zuvor in Rom erfolglos versucht hatte. Wer die Gabe der Vermittlung hat, muss viel Scheitern aushalten und braucht langen Atem. Den hatte und zeigte Lehmann ebenfalls in anderen heiklen Fragen katholischer Kirchlichkeit, etwa der sogenannten Frauenfrage, die ja mehr noch eine (Kirchen-)Männerfrage ist.

„Dominus Jesus“ regte ihn auf

Schließlich ist auf die immense Vermittlungsarbeit im Ökumenischen hinzuweisen, die mit Lehmanns Namen verbunden bleibt. Auch hier ist er der Fachtheologe und Kirchenpolitiker, und beides im Dienst konfessionsverbindender Eheleute und getrennter Christen. Dabei geht es um das Profil und das Zeugnis der einen möglichst einigen Christenheit in einer vielfach zerrissenen Lebenswelt. Schon seit 1984 arbeitete er führend im Gesprächskreis zwischen Evangelischer Kirche in Deutschland und Bischofskonferenz mit, bald auch zwischen Lutherischem Weltbund und römischem Sekretariat zur Förderung der Einheit der Christen. Im interkonfessionellen Arbeitskreis der Theologen entstanden viele Dokumente, die schließlich zur Verabschiedung jener Augsburger „Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ führten, welche die Gemeinsamkeit des Glaubens gerade im Zentralartikel der Reformation unterstreicht: Allein im Glauben an Gottes stets zuvorkommende Güte ist der Mensch recht und kann gerechtfertigt werden.

Sehr aufgeregt hatte sich Lehmann über das vatikanische Dokument „Dominus Jesus“, das den evangelischen Christen ihr Kirchesein absprach. Dass das Lutherjahr als Christusjahr begangen werden konnte, ist auch Lehmanns Verdienst. Dabei war ihm schmerzlich bewusst, dass Konsensgewinn im bloß Theologischen und Kirchenamtlichen so lange einseitig gelähmt bleibt, solange der ökumenische und spirituelle Hunger der „normalen“ Menschen an der Basis nicht gestillt werden kann. Die Kluft zwischen noch so guten theologischen „Erklärungen“ und dem gelebten Leben wie Glauben ist weiterhin eine ökumenische Not der Kirche(n) und ein Ärgernis. Der Kardinal konnte richtig glücklich sein, als er bei Papst Franziskus miterlebte, wie die unselige Kluft zwischen oben und unten überwunden werden soll und wirklich vom Volk Gottes aus gedacht und gehandelt wird.

Dass der extrem belesene Professor sowie inner- und außerkirchlich gefragte Bischof ein Mann des Volkes war, ist vielfach beschrieben worden. Er konnte feiern und sich feiern lassen, genussfreudig und stets zu einem gewaltigen Lachen bereit. Die Mainzer betrachten ihn liebevoll als einen der Ihren. Er, der Träger des „Ordens wider den tierischen Ernst“, konnte Karneval feiern und im Fußball mit Mainz 05 fiebern. Diese Volksnähe war nicht angestrengt oder gekünstelt. Lehmann lebte nach Kräften mit den „einfachen Leuten“ – gewiss freilich in den Grenzen eines doch kurialen und bisweilen sogar höfischen Milieus. Man war in Mainz stolz auf „unseren Kardinal“.

Duz-Freund von Helmut Kohl

Aber das Bistum litt auch unter der häufigen Abwesenheit des vielfach geforderten und gefragten Bischofs, zumal Delegieren nicht zu seinen höchsten Begabungen gehörte. Manch einer empfand seine Hirtenbriefe dann doch eher als gekürzte Vorlesung oder bloß doktrinale Erläuterung. Das Charisma der punktgenauen Predigt, das sein Limburger Kollege hatte, war ihm nicht gegeben, wohl aber eine vitale Leutseligkeit und die Kraft, in unterschiedlichen Milieus zuhause zu sein. Zur gelebten Menschennähe gehört nicht zuletzt Lehmanns Mut, andere Lebensweisen und Lebenswege nach Kräften zu behüten. Ich kenne manche Priesterkollegen, die heirateten oder sich für das Leben in verbindlicher Beziehung entschieden, die sich vom Kardinal unterstützt und beschützt wussten. Dass es auch andere Erfahrungen gibt, sei nicht verschwiegen. Was kann und muss ein Christenmensch, zumal als Bischof, an Spannungen und Widersprüchen integrieren!

Bleibt noch der Blick auf Lehmanns Gesprächsbereitschaft in Wissenschaft und Kultur, in Politik und Öffentlichkeit. Letzteres war im Zenit seines Wirkens noch nicht so plural wie heute. Der Duz-Freund von Helmut Kohl hatte sich lebhaft an den Wertedebatten der Republik beteiligt. Er folgte unter anderem der Einladung von Gewerkschaften. Er war als Berater in der Politik gefragt. In den Medien war er präsent, völlig frei von jener verbreiteten Begegnungsangst, die viel mit eigener Unsicherheit und also mangelnder Dialogkraft zu tun hat.

„Die Größe eines Menschen zeigt sich darin, wie viele Gegensätze er in sich vereinigt“, formulierte der Kardinal Nikolaus von Kues. So ist Karl Kardinal Lehmann groß und ein Geschenk nicht nur für die Kirche in Deutschland.

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