Der Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998), einer der wichtigsten Systemtheoretiker, sagte einmal: „Unfassbare Komplexität ist die Innenansicht der Welt.“ Unsere Wirklichkeit ist vielschichtig, kompliziert, unübersichtlich, verworren. Angesichts der epochalen Herausforderungen an die neue Berliner Regierung, des Islam hierzulande und anderswo, der mühsamen Suche nach Machtbalancen zwischen Washington, Peking und Moskau, der Kriegswirklichkeit in Syrien, im Irak, Kongo oder in der Ukraine oder auch angesichts des Eindringens marktorientierten Denkens in alle Lebensbereiche wäre es an der Zeit, wieder einmal die Frage nach dem einfache(re)n Leben zu stellen – zumal für Christen in der Fasten- und bald Osterzeit. Doch was ist das: das „einfache Leben“? Folgt man Luhmann, sind die vielen Gegenüber in dem System Gesellschaft unberechenbar. Deshalb sei es für den Einzelnen geradezu existenziell, „soziale Komplexität“ zu verringern: mit Vertrauen.
Entscheidung zur Einfachheit
Solchem Vereinfachungs-Bestreben hat das „Philosophie Magazin“ in seiner jüngsten Ausgabe (April/Mai) einen Schwerpunkt gewidmet. Philosophen sind ja nicht erst seit der Antike auf der Spur des gelingenden Lebens. Die Chefredakteurin Svenja Flaspöhler hat drei „wesentliche Herausforderungen“ ausgemacht, die ein „einfaches Leben“ kennzeichnen: zunächst das Üben und der Verzicht. Einfachheit komme nicht von alleine. Es ist vielmehr aktive Entscheidung, die Mühen in der Ebene des Alltags mit einschließt. Die zweite Herausforderung besteht in der „Suche nach Leere“. Wer die Fülle sucht, so die Philosophin, wird nicht zur Einfachheit gelangen. Und: „Nur wer das eigene Wollen von gesellschaftlichen Ansprüchen zu unterscheiden vermag, entdeckt den Kompass für das Wesentliche in sich.“ In diesen drei Säulen des einfachen Lebens sieht die Philosophie-Journalistin nicht nur den Schlüssel zur Verringerung gesellschaftlicher Komplexität, sondern auch den Weg durch das Tor „zu einer neuen Weise, das Leben zu begreifen“.
Auf diese Thematik ist zuletzt auch die Zeitschrift „Psychologie heute“ (März) eingegangen, mit einer Titelgeschichte „Heilkraft Meditation“. Es sei, so der Untertitel, eine Methode, wie „durch Innehalten Körper und Seele“ gestärkt werden. Innehalten? Ist Meditation nicht weit mehr als die Verlangsamung des Denkens und Fühlens? Tatsächlich ist eine Entwicklung festzustellen, in der meditative Angebote an Anziehungskraft gewinnen. Allerdings wird von vielen „Meditation“ als ein Überbegriff verstanden, der der Gestalt einer „eierlegenden Wollmilchsau“ gleicht. Der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme hat (ebenfalls im „Philosophie Magazin“) die Bandbreite skizziert: „Am bekanntesten innerhalb der europäischen Traditionen ist das autogene Training. Man betrachtet seine Hand nicht von außen, sondern spürt in sie hinein. Wichtig sind auch Atemtechniken, wie man sie zum Beispiel vom Yoga kennt. Am Tiefpunkt der Atmung merkt man, dass der Atem wieder von selbst einsetzt. Das ist eine wunderbare Erfahrung, weil man dabei nicht nur den Lebensrhythmus spürt, sondern auch, dass man von diesem Leben getragen wird.“ Zu erwähnen sind darüber hinaus Gehmeditationen, stilles Sitzen, Achtsamkeitsübungen, insbesondere aus östlichen Religionstraditionen, Imaginieren, Zazen oder die ungezählten Angebote in christlichen Exerzitien- und Tagungshäusern. Gernot Böhme spricht beim Thema Meditation von einem regelrechten „Massenphänomen“.
Eine Überprüfung im Internet bestätigt das. Bei Google finden sich beim Stichwort „Meditation“ 250 Millionen Treffer. Eine Umfrage des Portals „Statista“ hatte zuletzt ermittelt, dass nahezu jeder dritte Deutsche täglich oder mindestens einmal wöchentlich sich in Einkehr oder „Meditation“ übt. Bei dieser Umfrage wurde nicht aufgeschlüsselt, worum es sich genau handelt. Und es bleibt offen, ob diese Zahlen tatsächlich zutreffend sind. Aber offensichtlich ist, dass viele Menschen in einem solchen leiblich-seelischen Tun, das mehr oder weniger regelmäßig im Wochenplan seinen festen Platz hat, einen Sinn sehen. Wer sich ein wenig durch das Wirrwarr der Meditations-Massenangebote klickt, stellt fest, dass solche Übungen den meisten Menschen wichtig sind für Selbstoptimierung, mehr Erfolg, auch für mehr Achtsamkeit.
Schmerz in Gehirn und Geist
Die Journalistin und Therapeutin Birgit Schönberger hat in „Psychologie heute“ den „Nutzen“ der Meditation beschrieben und sich besonders der Erforschung ihrer Folgen auf die Gesundheit gewidmet. Ich meditiere, also bin ich – gesund? Die Autorin listet auf, welche wissenschaftlich nachgewiesenen Wirkungen regelmäßige Übungen des Innehaltens und der Achtsamkeit auf das körperliche und seelische Wohlbefinden, auf die Gesundheit haben. Sie beruft sich dabei auf ein Buch der amerikanischen Psychologen Daniel Goleman und Richard Davidson („Altered traits“, New York 2017; nicht auf Deutsch), die ausgewiesene Fachleute in der Meditationsforschung seien.
Meditation, so Goleman und Davidson, beeinflusst nicht nur die Konzentrationsfähigkeit, was seit jeher bekannt war. Sie vermag die Art und Weise zu verändern, wie „wir mit uns selbst, unserem Körper, unserer Gesundheit und anderen umgehen“. Über bildgebende Verfahren der Hirnforschung lässt sich zum Beispiel belegen, dass das Gehirn von Meditationserfahrenen mit Schmerz anders umgeht als das jener Menschen, die nicht meditieren. „Als besonders eindrucksvoll bewerten Davidson und Goleman eine Studie, in der das Schmerzempfinden von Zen-Meditierenden getestet wurde.“ Zen hat seine Wurzeln im japanischen Buddhismus und leitet den Übenden an, im Sitzen oder Gehen den Geist leer werden zu lassen. Ziel ist die Erleuchtung, das Erlebnis der Einung mit dem Kosmos. Laut Davidson und Goleman reagierten Zen-Meditierende wie andere „auf Schmerzreize wie auf neutrale Empfindungen“. Aber sie entwickelten ein anderes Verhältnis zum Schmerz: „Die schienen eine nicht wertende neutrale Strategie im Umgang mit Schmerz anzuwenden“, erklärte Richard Davidson.
Eine mögliche Erklärung dafür lautet: „Im Gehirn steuern zwei unterschiedliche Areale das Schmerzempfinden. Eins ist für die körperliche Empfindung von Schmerz zuständig, das andere für die damit verbundenen Gefühle.“ Wer regelmäßig meditiert, nimmt zwar die Schmerzsignale wahr, reagiert aber mit Gedanken und Gefühlen weniger oder gar nicht darauf.
Birgit Schönberger legt dar, dass regelmäßige Meditation die Ausschüttung des Stresshormons Kortisol nachweislich senken kann. Das Hormon wird mit Bluthochdruck, Fettleibigkeit, Schlafstörungen, Herzerkrankungen in Zusammenhang gebracht und ist auch beteiligt bei Angstzuständen, Stimmungsschwankungen und vielen psychischen Störungen. Kortisol zerstört zudem Hirnzellen, „indem es sie buchstäblich zu Tode stimuliert“.
In jüngerer Zeit sind weltweit etliche Forschungsvorhaben zu Meditation und Gesundheit angelaufen. Das Ergebnis: Achtsamkeitsmeditationen senken Stress, können Depressionen vermeiden helfen und fördern die soziale Intelligenz. Letzteres versucht beispielsweise das sogenannte „ReSource Project“ des Max Planck-Instituts für Kognitions- und Neurowissenschaften in Leipzig nachzuweisen. Erste Ergebnisse der noch laufenden Langzeitstudie wurden in der Fachzeitschrift „Advanced Science“ veröffentlicht. „Die Befunde zeigen, dass schon kurzes, gezieltes mentales Training bei erwachsenen Menschen strukturelle Veränderungen im Gehirn bewirken kann, die die soziale Intelligenz steigern“, erläutert Birgit Schönberger. Meditation „klärt den Geist, beruhigt das Gemüt, bringt in Kontakt mit der Tiefendimension des Lebens und wirkt auf vielen Ebenen heilsam“.
Fürsorglicher innerer Beobachter
Der Psychiater Joachim Galuska, ärztlicher Direktor der psychosomatischen Heiligenfeld-Kliniken in Bad Kissingen, die Meditation gezielt in ihr Psychotherapiekonzept integriert haben, erklärt die Wirkung der Meditation mit dem Anregen des sogenannten „inneren Beobachters“. Man übt sich ein, innerlich auf Gefühle und Gedanken zu achten, um sie an sich vorüberziehen zu lassen. Es ist ein Akt der spürbaren inneren Distanz zum eigenen Ich und zu allem Fremden, das einen bestimmt. „Wir starten die Meditation, indem wir sagen: Finden Sie einen guten Sitz, spüren Sie Ihre Aufrichtung, den Atem. Und dann öffnen Sie Ihr Herz für sich selbst und nehmen Sie eine fürsorgliche Haltung ein, so dass alles, was in den nächsten Minuten auftaucht, mit Wohlwollen betrachtet wird.“
Galuskas Sicht auf die Meditation geht aber weit über die massenwirksame Gesundheitsfrage hinaus. Die funktionale, technisierte Gesellschaft beschränke leider zu häufig Meditation auf eine Methode der Stressbewältigung, so Galuska. Sie sei aber von ihren Ursprüngen her wesentlich mehr als eine Psychotechnik, als eine Ich-Optimierung, wie sie viele heute anstreben „Es geht nicht nur um Stressreduktion, sondern um die Entwicklung einer spirituellen Orientierung, eines Bezugs zu etwas Größerem, eines neuen Sinnverständnisses… In den alten Traditionen wurde Meditation nicht entwickelt, damit Menschen entspannter sind, sondern damit sie einen fundamental anderen Bezug zum Leben bekommen und erkennen, dass es etwas viel Größeres gibt, als das Alltagsbewusstsein uns vorgaukelt.“
Was Galuska in „Psychologie heute“ nicht ausdrücklich sagt: Diese „alten Traditionen“ sind die Religionen und zwar in jener Bedeutung von Religion, wie sie der Benediktiner David Steindl-Rast bereits 1991 in dem aufsehenerregenden Gesprächsbuch „Wendezeit im Christentum“ im Austausch mit dem Physiker Fritjof Capra erläutert hatte. Religion, sagt der anerkannte Kontemplationslehrer, sei vor allem die Begegnung mit dem göttlichen Mysterium, mit dem Sinn. „Wir brauchen uns nur unserer Gipfelerfahrungen zu erinnern. In diesen Augenblicken haben die Dinge Sinn. Hier haben wir etwas, das einer kleinen Erleuchtungserfahrung entspricht. Es ist eine Einsicht in den Sinn des Lebens, noch bevor das zu einem klaren Bild wird. Es ist ein Erleben des Sinnes – wobei Sinn das ist, worin wir Ruhe finden. Wir können in ihm ruhen: ‚Das ist es, das macht Sinn.‘ Haben wir eines dieser ‚Das ist es‘-Erlebnisse, dann ist dies der Kern von Religion.“
Begegnung mit dem Sinn
In der christlichen Tradition wird seit der Urkirche das meditierende Beten, der Weg in die Stille, die Suche nach der Gotteserfahrung als eine solche mystische „Das ist es“-Erfahrung angesehen. Nach David Steindl-Rast bewirkt wahre Meditation, die sich dadurch auszeichnet, dass sie sich dem göttlichen Geheimnis nähert, eine Zentrierung. Der Mensch wird sensibler, einfühlsamer, entwickelt ein Mitgefühl für Menschen, Tiere und die gesamte Schöpfung. Die Kontemplation, die Einkehr in Stille, hat zugleich radikale Folgen. „Man wird sozusagen nackt mit allem konfrontiert, auch mit allem Leid der Welt.“ Eine existenzielle Erschütterung.
Worte können diese Kontemplationserfahrung nur unvollständig wiedergeben. Der Benediktiner Steindl-Rast, der in Amerika auch führend tätig ist im interreligiösen Gespräch, beschreibt in seinem Buch „Ich bin durch Dich so ich“ diesen Prozess der Wandlung so: „Es wird immer stiller, so wie Wasser, wenn es still wird. Dann klärt es sich, und man sieht immer tiefer hinunter. Man kann freier atmen, und es stellt sich so etwas wie ein kosmisches Mitgefühl ein. Man fühlt sich mit allem verbrüdert.“ Meditation in diesem Sinne ist ein Abenteuer der Seele, mit Anstrengungen. Der Weg in die Stille ist keinesfalls einfach.
Joachim Galuska hat darauf hingewiesen, dass in den Zivilgesellschaften derzeit dem raschen äußeren Fortschritt der Ereignisse in Forschung, Digitalisierung und Technik keine gleichartige „innere Kompetenz“ entspricht, um dem äußeren Fortschritt gewachsen zu sein. Er benutzt einen aufschlussreichen Vergleich: „Wir können in den Weltraum fliegen, aber wir brauchen auch die Fähigkeit, den ‚Weltinnenraum‘, wie Rainer Maria Rilke es ausgedrückt hat, zu erforschen. Es braucht ein tieferes inneres Lauschen: Was ist Menschsein? Was geht, was geht nicht? Was ist gut für uns? Das ist das revolutionäre Potenzial von Meditation.“ Letzten Endes ist es für Glaubende und Zweifelnde die innerste Auseinandersetzung mit Gott.