Welche Qualität kommt durch die Theosis-Erfahrung ins Leben? Wie sieht der alltägliche Umgang mit Menschen und Dingen aus, wenn man aus der Vergöttlichungserfahrung heraus lebt?
Achtsamkeit: Sich der Gegenwart bewusst sein – das ist die Kunst des Lebens nach der Lehre der Mystiker und Meister aller Religionen. Wenn das Ich zu stark im Mittelpunkt steht, wird man vom Haben und Machen getrieben. Dann lebt man am Leben vorbei. Wenn wir aber erfahren, dass wir in einem göttlichen Vorgang aufgefangen sind, entwickelt sich eine empfangende Haltung. Man erlebt sich mehr und mehr als ein transparentes Medium der verwandelnden Wirkung des Geistes. Immer achtsam zu bleiben, um zu spüren, was der Geist in Bewegung bringt, und so dem Geist Raum zu geben – das macht einen gelassen, aber schöpferisch, entspannt und mutig. „Gott wirkt als Innerster aus dem Innersten auf das Innerste aller Dinge“, so schrieb Meister Eckhart.
Verzichte und genieße!
Innere Freiheit: Das Leben entfaltet sich mit vielen Einschränkungen. Jedoch ist der Mensch auf eine enorme Freiheit ausgerichtet, die letztlich vom göttlichen Geist kommt. Wenn man erfährt, dass der Geist der innere Antrieb ist, dann ist man frei. Wenn aber das Leben von Habgier getrieben wird, ist man ein Sklave seiner selbst. Ein Lebensstil, der von der Theosis-Erfahrung geprägt wird, ist vor allem von Einfachheit gekennzeichnet. „Verzichte und genieße!“, sagen die östlichen Meister. Die Erkenntnis, dass wir zum göttlichen Leben berufen sind, befähigt uns, aus der Konsumhaltung auszusteigen und mit weniger Dingen zufrieden zu leben. „Das Leben eines Menschen hängt nicht von seinem Vermögen ab, mag es noch so groß sein“ (Lk 12,15).
Verbundenheit: Die Vergöttlichung führt zu einer All-Einheitserfahrung, zur Erfahrung, selbst ein Teil dieses göttlichen Welt-Gewebes zu sein. Man sieht die gesamte Schöpfung als eine Theophanie, als eine Christophanie. Meister Eckhart sagte: „Alle Dinge werden lauter Gott.“ Alle Geschöpfe sind tief miteinander verbunden, wie die Äste und Zweige eines Baumes. Der verwandelnde göttliche Geist fließt durch alles wie der Saft im Baum. Alles ist letztlich eins im göttlichen Seinsgrund. Wer mit dieser Erfahrung der Verbundenheit lebt, erfährt einen tiefen Respekt für alle Dinge und Menschen. „Alles ist mit allem verbunden; dies lädt uns ein, eine Spiritualität der globalen Solidarität zu entwickeln, die eigentlich vom Geheimnis der Dreifaltigkeit her kommt“, schreibt Papst Franziskus in der Enzyklika „Laudato si’“.
Wir sind Gott-Gebärende
Barmherzigkeit: Der von Gott durchwirkte Mensch ist vor allem barmherzig – dies ist die Botschaft aller Religionen. Barmherzigkeit ist mehr als Mitgefühl. Mitgefühl ist etwas, was wir erzeugen können. Barmherzigkeit können wir nur empfangen. Der göttliche Liebesstrom fließt durch unser Herz, und wir können ihn nur zulassen. Dann gebiert der Geist eine neue Schöpfung durch uns Menschen. Wir sind nicht bloß von Gott geborene Wesen, wir sind auch Gott-Gebärende. Durch die Theosis-Erfahrung erwachen wir zu diesem kosmischen Geburtsvorgang. Maximos der Bekenner erklärte: „Barmherzigkeit zwingt Gott, Mensch zu werden, und befähigt Menschen, göttlich zu werden.“