AtomwaffenDie verdrängte Gefahr

Einst gingen Hunderttausende für die Abrüstung atomarer Waffen auf die Straße. Inzwischen gibt sich die Bevölkerung arglos. Welch ein Trugschluss!

Die Meldung ging in den großen Medien fast unter, und kaum jemand scheint sich momentan ernsthaft um das zu sorgen, was Papst Franziskus beunruhigt. Auf dem Flug zu seiner jüngsten Südamerikareise sagte er vor Journalisten anscheinend ohne jeden äußeren Anlass: „Ich habe Angst vor einem Atomkrieg. Ja, ich habe wirklich Angst. Wir sind am Limit. Ein Zwischenfall wird reichen, um einen Krieg zu entfesseln. Deshalb müssen wir die Waffen zerstören und uns für nukleare Abrüstung einsetzen.“

Die Trends weisen allerdings in die entgegengesetzte Richtung: Die Vereinigten Staaten planen – angeblich in Reaktion auf russische Bestrebungen – eine massive Erweiterung und Erneuerung ihres Atomwaffenarsenals. Die neue „Strategie“ ist Anfang Februar, weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit, vom Verteidigungsministerium dokumentiert worden in einem Bericht über die Rolle der Nuklearwaffen für die Sicherheit der Vereinigten Staaten von Amerika. In dem neuen sogenannten Nuclear Posture Review wird die Bandbreite möglicher Szenarien für den atomaren Einsatz erheblich über den bisherigen Rahmen ausgeweitet.

Das geschieht ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Bevölkerung kaum mehr Gedanken über einen Atomkrieg macht. Seit der Auflösung der Sowjetunion, seit dem Ende des Kalten Kriegs haben sich die einstigen Befürchtungen weitgehend zerstreut. Allenfalls rechnete man – im Kontext etwa der Irakkrise – mit der Verwendung chemischer Massenvernichtungs-Kampfstoffe. Damit war auch der „vorbeugende“ Krieg der Alliierten gegen Saddam Hussein in Bagdad begründet worden, gerechtfertigt offenbar mit falschen Erkenntnissen beziehungsweise vorgeschobenen Behauptungen der Geheimdienste.

Nun aber planen Amerika, Russland und China die Modernisierung ihrer atomaren Arsenale und erwägen deren Einsatz für weit mehr Fälle als bisher angedacht. Von den Washingtoner Überlegungen hat neulich die Zeitschrift „Le Monde diplomatique“ berichtet. Unter Barack Obama hieß es noch, die Bedeutung der Kernwaffen für die Militärstrategie müsse verringert, der Bestand in Verhandlungen mit den anderen Atommächten abgebaut werden. In seiner berühmten Rede an die islamische Welt bekannte Obama 2009 an der Kairo-Universität, dass die Vereinigten Staaten auf eine Welt hinarbeiten, „in der kein Land Atomwaffen besitzt“. Man vertraute damals darauf, dass es möglich sei, die Beziehungen zwischen den Großmächten schrittweise zu verbessern, um so einen Atomkrieg zu verhüten. Das aktuelle Dokument sieht dagegen einen neuen – auch militärischen – Wettstreit zwischen den Großmächten. „In unterschiedlichem Maße demonstrieren Russland und China, dass sie die nach dem Kalten Krieg entstandene internationale Ordnung und deren Verhaltensnormen substanziell verändern wollen.“ Als Belege werden die russische Annexion der Krim, das militärische Vorgehen in der Ostukraine sowie chinesische Expansionsbestrebungen mit der Errichtung von Militäranlagen auf Inseln im Südchinesischen Meer genannt.

Der „kleine“ Atomkrieg

Der am Hampshire College in Amherst lehrende Professor für Friedens- und Weltsicherheits-Studien Michael T. Klare weist in „Le Monde diplomatique“ darauf hin, dass bei der Neuformulierung der Atomstrategie nirgendwo auch nur im Geringsten eingeräumt wird, dass auch die USA und ihre Partner keineswegs völlig unschuldig sind an der Verschlechterung der Beziehungen zwischen den Großmächten. „Weder die Ausweitung der Nato auf das Gebiet der früheren Sowjetunion noch das provokative Ausgreifen der USA in den asiatisch-pazifischen Raum werden auch nur erwähnt. Ebenfalls ausgeblendet wird die Tatsache, dass die USA nuklear nach wie vor drückend überlegen sind und massiv in konventionelle und weltraumgestützte Waffensysteme investiert haben.“

Auffällig sei, dass der amerikanische Präsident Donald Trump zwar anderen Staaten, insbesondere China, einen Handelskrieg erklärt hat, indem er bestimmte eingeführte Waren massiv mit Schutzzöllen belegt, aber er habe bisher davor zurückgescheut, Wladimir Putin für die internationalen Wirren der jüngsten Zeit zu kritisieren oder ihm eine Einmischung in die Präsidentschaftswahlen von 2016 vorzuwerfen. Es sind eher führende Militärs, die Obamas „freundlicher Weltsicht“ nie etwas abgewinnen konnten, die aber in dialektischer Weise nun die Chance wittern, ausgerechnet mithilfe der Demokraten jene Gelder bewilligt zu bekommen, die für die Ausweitung der Drohkulisse beziehungsweise Kampfzone notwendig sind. Denn die Demokraten seien darauf aus, „Moskau wegen seiner Wahlkampfhilfe für Trump zu bestrafen“.

Im Hintergrund steht die Befürchtung, Russland könne im Fall des Falles mit taktischen Atomwaffen oder nuklearen Gefechtsfeldwaffen die Gegner einschüchtern und dazu zwingen, einen Krieg nicht eskalieren zu lassen. Wie würde das funktionieren? Russland könnte „leichte“ Atomwaffen mit geringer Sprengkraft bei einem Erstschlag gegen konventionelle Streitkräfte etwa der Nato einsetzen. Der Westen würde sich dann nicht getrauen, die ganze massive Macht des eigenen Arsenals zur kompromisslosen Vergeltung einzusetzen. Also – so die Argumentation – brauche Amerika zur Abschreckung ebenfalls eine Aufrüstung mit atomaren Waffen geringer Sprengkraft, um flexibel, fein dosiert auf einen solchen Angriff reagieren zu können.

Das heißt: Man glaubt daran, im Notfall einen bloß „kleinen“ Atomkrieg führen zu können, ja zu müssen, um der ganz großen Vernichtung vorzubeugen. Dazu müssten zum Beispiel die Trägerwaffen mit kürzerer oder mittlerer Reichweite erneuert beziehungsweise überhaupt erst produziert werden. Diese könnten dann auch bei regionalen Kriegen mittlerer Mächte „begrenzt“ eingesetzt werden, wenn Länder wie der Iran, Nordkorea oder Pakistan – oder Terroristen der Art eines Islamischen Staats – versuchen sollten, kriegerisch anzugreifen.

Ist Putin Herr im Haus?

Der jüngste Flirt zwischen Saudi-Arabien und Israel, zuvor zwischen diesen „Todfeinden“ undenkbar, dient zum Beispiel dazu, für iranische Erweiterungsansprüche mit einer regionalen Allianz gewappnet zu sein. Jerusalem und Riad Seit’ an Seit’ gegen Teheran, mit amerikanischer atomarer Unterstützung für den „Nahbereich“ im Rücken? Ein Szenario, das keineswegs unwahrscheinlich ist: Jedenfalls wird über eine atomare Abschreckung auf kleinstem Raum spekuliert. Sie hat einen hohen, hätte aber keineswegs den höchsten Preis, den der Menschenweltvernichtung.

Nicht klar ist, wie in diesem „Spiel“ des gegenseitigen Aufschaukelns mit „schwächeren“ atomaren Waffensystemen die Macht in Russland einzuschätzen ist. Inwieweit ist Wladimir Putin tatsächlich Herr im eigenen Haus? Steht er womöglich selber unter dem Druck nationalistisch-militaristischer Scharfmacher, die ihn zu Abenteuern wie dem in der Ukraine geleitet haben, um deutlich zu machen, dass Moskau vor nichts zurückschreckt? Putin ist soeben zwar machtvoll als Staatspräsident wiedergewählt worden. Mit seinem Apparat hat er dafür gesorgt, eine demokratische Opposition wie auch entsprechende Medien schon weit im Vorfeld auszuschalten, sie zumindest unter Kontrolle zu halten. Das kann man nicht einmal mehr als „gelenkte Demokratie“ bezeichnen. Nicht bestreiten lässt sich jedoch, dass das russische Volk schlussendlich so abgestimmt hat, wie es abgestimmt hat. Der Wählerwille ist der Wählerwille, auch wenn er dem Westen nicht gefällt. Für die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung sind Stabilität und Sicherheit offenkundig wichtiger als ein demokratisches Spiel nach westeuropäischer Bauart und Bauanweisung, jedenfalls beim Stand der Dinge.

In sechs Jahren aber werden die Karten neu gemischt, wenn Putin nicht mehr antreten darf. Sollte er es mit verfassungsändernden Eingriffen dennoch erneut versuchen – selbst dann ist seine Zeit im Kreml begrenzt. Und was kommt danach?

Ist Putin fromm?

Der Volkswirtschaftler, Jurist und ehemalige Vorsitzende des Ostausschusses der deutschen Wirtschaft Klaus Mangold, einst Vorstandsmitglied bei Daimler, erklärte in der „Badischen Zeitung“: Putin „könnte jetzt die Zeit nutzen, um als Präsident in die Geschichte des Landes einzugehen, der Konflikte beendet und ein nachhaltiges Wirtschaftswachstum schafft. Das erwarten die Menschen auch von ihm. Es gibt auf der einen Seite die Erwartung, dass die Russen sagen: Wir sind wieder wer in der Welt. Aber sie erwarten auch eine Verbesserung ihres persönlichen Wohlstands.“ Die gigantischen Ausgaben für atomare Aufrüstung – wie auch für den Krieg zur Unterstützung Assads in Syrien – wären zur Ankurbelung der Industrie für die eigene Bevölkerung besser eingesetzt.

Auch nicht klar ist, inwiefern die religiöse Motivation von Staatenlenkern Frieden bewahren, sie zumindest vor dem Schlimmsten zurückschrecken lassen kann. Ob Putin selber tatsächlich zuinnerst echt religiös ist, sich als Christ versteht – das wird immer wieder bezweifelt. Warum aber hat er es dann nötig, sich betont bei frommen, liturgischen Akten öffentlich als „Vorbild“ zu zeigen? Alles nur Show? Alles nur Taktik, um die orthodoxe Kirche als Werteagentur im Schulterschluss mit der Staatsmacht um sich zu scharen? Oder steckt dahinter mehr, vielleicht doch eine ernsthafte Botschaft, dass Russland es nötig hat, sich aus seiner religiösen, christlichen, orthodoxen Substanz zu erneuern? Und welche Bedeutung haben in diesem Zusammenhang die seit Papst Benedikt XVI. deutlich verbesserten Beziehungen zwischen der katholischen und der russischen orthodoxen Kirche, so dass es sogar zu einer Begegnung zwischen Franziskus I. und Kyrill I. auf Kuba kam, historisch lange unvorstellbar? Kann die kirchliche Diplomatie in der Friedensdiplomatie doch einige Fäden für ein größeres Gewebe knüpfen? Jedenfalls sieht die mit dem Moskauer Patriarchat verbundene orthodoxe Kirche in der Ukraine durchaus die Ambivalenzen der russischen Intervention und Okkupation. Keineswegs funktioniert das Freund-Feind-Schema so, wie manche im Westen – bevorzugt in liberalistischen Kreisen mit ihrem antiorthodoxen, ohnehin antikirchlichen Affekt – es sich vorstellen.

Vielleicht macht es eben doch einen Unterschied, ob eine politisch führende Persönlichkeit sich vor der gesamten Gesellschaft offen dazu bekennt, an Gott zu glauben – oder aber nicht. Vielleicht hilft die Vernunft des Religiösen, der göttliche Geist im Menschengeist, da und dort doch ein wenig, dem militaristischen Vormachtstreben, der atomaren Versuchung entgegenzutreten, ob dem eines America first, Russia first, China first, Iran first, Saudi-Arabia first…

Macht und Chaos

Die erweiterte Gefahr der atomaren Bedrohung wird im Bewusstsein vieler Bürger verdrängt. Lassen wir uns von einer langen Friedenszeit einlullen? Die Weckrufe aus den Kirchen sollten uns vor naiver Gutgläubigkeit bewahren. Auch die neue Bundesregierung könnte sich stärker für nukleare Abrüstung einsetzen, wie neulich der Trierer Bischof und Vorsitzende der deutschen Kommission „Justitia et Pax“, Stephan Ackermann, bekundete. Die aktuellen Tendenzen zur Modernisierung der Atomwaffen erhöhten die Unsicherheit. Auch erhöht sich das Risiko einer Weiterverbreitung, unter anderem in die Hände von Terroristen, Anarchisten oder sonstigen Rebellen-Gruppierungen, die damit sogar Staatsmächte erpressen können. Die Initiative des Papstes für atomare Abrüstung könnte zumindest unter Christen „die politische Aufmerksamkeit für ein Thema“ stärken, „das allzu schnell von der Tagesordnung rutscht“, so Ackermann.

Niemand vermag zudem sicher einzuschätzen, wie in der Komplexität der algorithmisch-elektronisch vernetzten Welt, in der von Computern gesteuerten Welt auch der atomaren Waffen Turbulenzen wie aus dem Nichts entstehen und sich zum Schlimmsten steigern können. Alle Systeme sind potenziell Chaossysteme. Nichts ist gebannt, am allerwenigsten das Chaossystem der Lust auf Macht.

Kardinal Karl Lehmann hatte das in seinem „Geistlichen Testament“ mit einer gewissen Traurigkeit beschrieben: „Unter zwei Dingen habe ich immer wieder und immer mehr gelitten: Unsere Erde und weithin unser Leben sind in vielem wunderbar, schön und faszinierend, aber sie sind auch abgrundtief zwiespältig, zerstörerisch und schrecklich. Schließlich ist mir die Unheimlichkeit der Macht und wie der Mensch mit ihr umgeht immer mehr aufgegangen. Das brutale Denken und rücksichtsloses Machtstreben gehören für mich zu den schärfsten Ausdrucksformen des Unglaubens und der Sünde. Wehret den Anfängen!“

Christ in der Gegenwart im Abo

Unsere Wochenzeitschrift bietet Ihnen Nachrichten und Berichte über aktuelle Ereignisse aus christlicher Perspektive, Analysen geistiger, politischer und religiöser Entwicklungen sowie Anregungen für ein modernes christliches Leben.

Zum Kennenlernen: 4 Wochen gratis

Jetzt testen