„Kein Alkohol ist auch keine Lösung“, sangen einst die „Toten Hosen“. Immer wieder, so die Punkband, habe sich gezeigt, dass „die ganzen Abstinenzler noch immer die Schlimmsten sind“. In diesem fröhlichen Trinklied könnte mehr Wahrheit stecken als zunächst vermutet. Denn auch Askese dürfe nicht im Exzess betrieben werden, erklärt die Berliner Religionsphilosophin Gesine Palmer. Vielmehr sei der gemäßigte Konsum von Genussmitteln tatsächlich der gesunde Mittelweg. „Zivilisation lebt ganz sicher vom maßvollen Ausbalancieren von Genuss und Zurückhaltung“, sagte sie im „Deutschlandradio Kultur“ – zeitlich passend zu Ostern.
„Von jeher und in allen Kulturen“ hätten sich Menschen bewusstseinsverändernde Substanzen und Rituale gesucht, um es miteinander ein wenig entspannter auszuhalten, so Gesine Palmer. „Menschen und Kulturen unterscheiden sich nicht danach, ob sie süchtig sind, sondern wonach sie jeweils süchtig sind, welche Süchte bei ihnen erlaubt, welche verpönt sind.“ Wenn gegen Genussmittel vorgegangen werde, etwa aus religiösen Gründen, habe das nicht selten ebenfalls Suchtcharakter. Um ein Verbot durchzusetzen, entwickeln die jeweiligen Gesellschaften oder Institutionen eine geradezu „krankhafte Kontrollsucht“. Das aber sei ein kultureller Rückschritt, „die Verhältnisse werden nicht friedlicher, sondern gewalttätiger“.
Dies zeigt sich aus Sicht von Gesine Palmer in aktuellen gesellschaftlichen Diskussionen. „Nachdem das Nikotin erledigt ist, wird der nächsten ‚Droge‘ der Kampf angesagt. Für die eher Konservativen kommen infrage: Kokain, Cannabis und Sex. Für die eher Alternativen: Fleisch-Burger, Autos und Macht.“ Wenn Askese derart exzessiv betrieben wird, führe das zu einer verzerrten Wahrnehmung, so die Religionsphilosophin: „Radikal Aufgeklärte erkennen bereits im Kirchenbesuch einen Opiatmissbrauch, manch frommer Freikirchler dagegen im Besuch von Fitness-Studios eine ungesunde Fixierung auf den eigenen Körper.“
Eine verbissene Askese ist freilich nicht nur ein religiöses Phänomen, hat Gesine Palmer beobachtet. „Es erscheint überall da, wo Leute sich und anderen den gesunden Wechsel von Spannung und Entspannung nicht mehr zutrauen und nicht mehr gönnen.“