Auf der „Spiegel“-Bestsellerliste hielt sich zuletzt über Wochen ein als eigener kleiner Band publizierter Aufsatz Hannah Arendts (1906–1975). Geschrieben hatte ihn die deutsche Philosophin 1968 in den USA, wohin die Jüdin nach der Machtergreifung Hitlers ausgereist war. Dass der erst kürzlich in ihrem Nachlass gefundene, fünfzig Jahre alte Text ein derartiges Aufsehen erregt, überrascht. Sein eigentlicher Anlass war ein zeitgeschichtlicher: die Revolutionen der fünfziger und sechziger Jahre wie etwa die Fidel Castros in Kuba.
Ins Zentrum stellt Hannah Arendt, die sich selbst weniger als Philosophin verstand, sondern eher die „Politische Theorie“ als ihr Aufgabengebiet betrachtete, jedoch das Nachdenken über Freiheit. Freiheit setzt für sie dabei ein Zweifaches voraus: zum einen das Fehlen von materieller Not beziehungsweise die „Befreiung“ der Menschen daraus, zum anderen die Möglichkeit, gleichberechtigt am politisch-gesellschaftlichen Geschehen teilnehmen zu können. Frei in einem eigentlichen Sinn ist für die Denkerin nicht derjenige, der frei ist von „ungerechtfertigten Zwängen“, sondern der, der an den politischen Prozessen der Gesellschaft teilnehmen kann. Das macht für Hannah Arendt den „Wesenskern von Freiheit“ aus, die „Freiheit, frei zu sein“: das Recht, „sich am öffentlichen Leben zu beteiligen“. Die Verwirklichung dieses Rechts auf politische Mitbestimmung aber erfordert „Gleichheit“, denn politische Freiheit in diesem Sinn ist „nur unter seinesgleichen möglich“.
Die damit umrissene doppelte Bestimmung von Freiheit prägt für Hannah Arendt auch alle Revolutionen. Sie werden nach ihren Analysen nicht von der Masse „der Geknechteten“ ausgelöst. Am Anfang jeder revolutionären Veränderung stehe vielmehr der „Verfall politischer Autorität“.
Eine Übertragung der Überlegungen Hannah Arendts auf die Situation in der katholischen Kirche eröffnet interessante Perspektiven. So war anlässlich der ersten fünf Jahre des Pontifikats von Papst Franziskus gefragt worden, ob mit dem argentinischen Jesuiten eine „Revolution in der Kirche“ begonnen habe. Werden auf diese Frage die Maßstäbe Hannah Arendts in Anschlag gebracht, ließen sich bei den weltweiten Missbrauchsskandalen der letzten Jahre, bei der inneren Aushöhlung der westlichen und lateinamerikanischen Kirchen und dem darin angedeuteten „Verfall von Autorität“ durchaus die Voraussetzungen finden, die es braucht, damit eine „Revolution“ überhaupt in Gang zu kommen vermag.
Revolutionär im Sinne Hannah Arendts wäre die Umsetzung der in der Kirche nicht gegebenen „Freiheit, frei zu sein“, also die Verwirklichung einer aktiven Teilhabe aller Kirchenglieder an den innerkirchlichen Entscheidungsprozessen. Eine solche „politische“ Verwirklichung der vom Zweiten Vatikanum formulierten theologischen Einsicht in die „wahre Gleichheit aller Gläubigen“ hieße, damit ernstzumachen, dass die Kirche nicht die Kirche der Bischöfe, sondern die Gemeinschaft aller Getauften und Gefirmten ist.