Alles Glück will Ewigkeit, am stärksten das Glück der intimsten Beziehung. In allen Wertestudien sagen Jugendliche und junge Erwachsene, sie wünschen sich eine stabile Familie als höchstes Gut, eine tragfähige Partnerschaft. Erst an zweiter Stelle kommen die Freunde. Weil so vieles im Leben zerbricht, die Eltern sich trennen, Orientierung schwerfällt, nehmen Jugendliche, kaum dem Kindesalter entwachsen, sexuelle Kontakte auf in der Hoffnung, dass der Partner, die Partnerin bei einem bleibt und mit einem durchs Leben geht. Das erste Glück des Verliebtseins, des Sexuellen zerbricht jedoch fast immer und oft sehr schnell – und belastet die Seele tiefer, als die meisten wahrhaben wollen. Dann beginnt erst recht die Jagd nach dem nächsten Traummann, der nächsten Traumfrau, stets voller Erwartung, irgendwann doch den Richtigen, die Richtige gefunden zu haben – bis in der nächsten Krise die nächste Verunsicherung folgt. Der „Tanz“ der Sehnsucht setzt sich fort. Er endet selbst nicht mit einer Heirat – und womöglich der nächsten und übernächsten. Denn das Unvollkommene, Brüchige, das Versagen kommt ebenfalls niemals an ein Ende.
Warum aber sind die Menschen trotz ihrer starken Beziehungslust immer wieder derart beziehungsunfähig, so dass sie sich manchmal rasch wieder trennen? Warum war es früher anscheinend einfacher, trotz Streits ein Leben lang zusammenzubleiben, es miteinander auszuhalten – bis der Tod scheidet? Behauptet wird, die Ehen damals seien keinen Deut besser gewesen als die heutigen. Das klingt nach Schönfärberei, nach Beschwichtigung der heutigen kritischen Lage. Vor allem, wenn als Argument nachgeschoben wird, die Menschen seinerzeit hätten sich nur deshalb nicht getraut auseinanderzugehen, weil die Frau ohne eigenen Beruf vom Mann abhängig gewesen sei. Die ökonomische Bindung habe einen Zusammenhalt garantiert, der mit der Berufstätigkeit und Emanzipation der Frau hinfällig geworden sei. Womöglich hatten unsere Großeltern und Urgroßeltern aber doch eine erheblich größere Frustrationstoleranz und intensivere Versöhnungsbereitschaft – gerade aufgrund ihres christlichen Glaubens?
Ein entscheidender Faktor für heutige Entfremdung in den Paarbeziehungen ist zweifellos die beruflich geforderte Flexibilität, die erzwungene Mobilität, eventuell weit entfernt vom Partner beziehungsweise vom Wohnsitz der Familie arbeiten zu müssen. Die Doppelbelastung, wenn Mann und Frau beruflich tätig sind oder zwecks Unterhalts der Familie sein müssen, schlägt sich nicht selten in mehrfacher Gereiztheit und Aggressivität in der Zweisamkeit daheim nieder. Die Versuchung, anderswo emotional seinen Ausgleich zu suchen, liegt nahe. Mit der „Pille“ sind die sexuellen Kontakte freizügiger geworden. Niemand muss bei „Seitensprüngen“ Nachwuchs und entsprechende Bindung fürchten.
Nur keine Routine!
Zudem haben sich die Studien- und Ausbildungszeiten erheblich verlängert. Warum soll der Mensch so lange auf Sex verzichten, bis er den richtigen, den festen Partner, die entsprechende Partnerin gefunden hat? Die lange Dauer der „Generation Praktikum“ lädt zu provisorischen Beziehungen ein, verhindert eine verantwortungsvolle Familiengründung. Niemand weiß, was kommt. Und dann schließen sich oft noch viele Jahre mit zeitlich befristeter Anstellung, Teilzeitarbeit, miesen Gehältern und weiteren unsicheren Beschäftigungsverhältnissen an, die eine Lebensplanung im Sinne verantworteter Elternschaft hinauszögern. Der „junge“ Mensch ist gezwungen, sich klugerweise viele Optionen offenzuhalten – bis er darüber alt wird.
Ein nicht mehr ganz neues Phänomen ist, dass sich Paare vermehrt in fortgeschrittenem Alter trennen, nachdem sie schon lange vieles miteinander geteilt, sich bestens kennengelernt, darin aber bis zur Langeweile erschöpft haben. Einst blieben Männer im Krieg zurück, Frauen starben an Kindbettfieber. Der zurückgelassene Partner heiratete erneut. Heute dauern Ehen aufgrund der extrem erweiterten durchschnittlichen Lebenserwartung auf natürliche Weise länger als in der „guten alten Zeit“. So müssen sich die Partner auch länger gegenseitig ertragen in ihren Schwächen. Die lebenslange Einehe stellt höchste Ansprüche ans Miteinander-Auskommen.
Hohe Ansprüche stellen Mann und Frau aneinander inzwischen auch im Beziehungsleben. Nur keine Routine! Aufregend soll es sein, anregend, unterhaltsam. Das sprichwörtliche Anspruchsdenken ist in sämtliche Lebensbereiche eingedrungen mit höchsten Erwartungen an den Sex, an die Liebe genauso wie an den Beruf oder den ökonomischen wie sozialen Status. Aus anfänglicher Zufriedenheit wird je länger je mehr Unzufriedenheit, wenn sich der/die andere nicht in dem Maße daueroptimiert wie vom Diktat der Moden sogar fürs Beziehungsleben vorgegeben. Alles muss ständig ausgehandelt, ausdiskutiert werden. Dabei kann schlichtweg Schweigen und Vergessen auch mal mehr wert sein als Gold.
Anders als im früheren christlichen Zusammenhang werden das Zusammenleben ohne Ehe und Scheidungen gesellschaftlich – selbst kirchlich – nicht mehr sozial geächtet. Es ist entsprechend „ganz normal“, wenn man sich trennt. Besser auseinandergehen als sich ständig gegenseitig nerven, heißt es aus Volkes Mund. Die Sternchen des Unterhaltungsbusiness, die es kaum einige Monate mit ihrem x-ten Ehemann, ihrer x-ten Ehefrau aushalten, werden bewundert und von den Boulevardmedien fast als Vorbilder gepriesen. Wieviel Befreiung aber bringt solche Befreiung?
Ohne kirchliche „Moralkeule“
Angesichts der Mehrheitsmeinung und der Umstände fällt es schwer, die faktisch überall akzeptierte Scheidungs„kultur“ kritisch zu betrachten: als ein nicht nur individuell seelisches, sondern gesamtgesellschaftliches, ja eminent politisches Problem, bei dem dringender Handlungsbedarf besteht. Wie lässt sich Konfliktbewältigung einüben, die Fähigkeit von Partnern stärken, Krisen durchzustehen, Versöhnung und Vergebung zu praktizieren? Familienpolitik sollte viel stärker Präventivmaßnahmen für die Stabilität von Beziehungen erarbeiten, hieß es soeben bei einer familienpolitischen Konferenz in Prag. Die hohen Scheidungszahlen in ganz Europa sowie die sehr vielen davon betroffenen – und nicht selten schwer neurotisierten – Kinder seien eine historisch so noch nie da gewesene Entwicklung, sagte der langjährige Leiter des Wiener kirchlichen Instituts für Ehe und Familie Günter Danhel.
Dabei ist mit einem Trugschluss aufzuräumen, als seien religiöse Menschen gegen Ehekrisen und Scheidungen in jedem Fall besser gefeit als andere. Der Mainzer Bischof Peter Kohlgraf schreibt in seinem neuen Buch über „Vergeben und Versöhnen“ (Grünewald): Die Vermutung, „die Kenntnis der Heiligen Schrift, die Mitfeier der Gottesdienste oder kirchliches Engagement als äußere Kennzeichen einer christlich-religiösen Praxis machten den Menschen zu einem moralischeren Subjekt“, bestätige sich nicht. Für einen Versöhnungsprozess reicht das Wissen nicht aus, „dass Gott dies von jemandem fordert“. Die religiöse Haltung nützt nichts, wenn der Mensch sich nicht innerlich die Bereitschaft zu Versöhnung aneignet. Daher sieht Kohlgraf keinen Sinn darin, sich darauf zu beschränken, mit der „Moralkeule“ zu predigen und Schuld zuzuweisen. Vielmehr solle die Kirche die Herausforderung annehmen und sich noch intensiver mit Beratungseinrichtungen rüsten, die professionell ausgestattet, auf dem Stand psychologischer und psychotherapeutischer Kenntnis, Menschen in krisenhaften Entwicklungen beistehen, sie beraten und begleiten.
Beraten, um zu heilen
Wie überall im Beziehungsleben wird auch in einer Ehe das Problemlösungsverhalten nicht durch Lehre antrainiert, sondern aufgrund von Gemeinschaftserfahrungen, anhand von Vorbildern erfahren und eingeübt. An ihnen kann der Mensch ablesen, wie Vergebung geht, sogar dann, wenn es aussichtslos erscheint.
Kohlgraf ermutigt dazu, die Ehe als einen Lebensprozess zu verstehen, auch sakramental. Anders als es die klassische kirchliche „Eheschule“ nahelegt, ist nicht der Akt der Eheschließung, der kirchenrechtlich im Mittelpunkt steht, was Urteile über die Gültigkeit einer Ehe betrifft, das Entscheidende, sondern wie sich die Ehe als Beziehung entwickelt – oder eben nicht. Meistens sind für heftige Konflikte gar nicht so sehr einschneidende einzelne Kränkungen oder Verletzungen maßgeblich, sondern „die über Jahre sich festsetzenden Verhaltensweisen, die dauerhaft verletzen und belasten“. Die alltäglichen schlechten Gewohnheiten produzieren die Beziehungskrise, die dann nicht selten die Partner sexuelle Außenkontakte suchen lässt.
Kohlgraf wünscht sich, dass die Seelsorge die hohe Bedeutung von Eheberatungsarbeit besser wahrnimmt und ihr Engagement entsprechend ausweitet. Das sei wahre Versöhnungsarbeit. „Dabei ist es mit frommen Worten oder hehren biblischen Gedanken nicht getan, vielmehr geht es darum, die beziehungsfeindlichen Gewalten zu erkennen, Knäuel zu entwirren, eigene Gefühle zu analysieren, Empathie zu entwickeln, den Alltag organisieren zu lernen, eigene und die Motive des anderen einzuschätzen, Misstrauen zu überwinden und neue Ziele gemeinsam zu finden.“
Kohlgraf verweist auf den Psychologischen Psychotherapeuten und Theologen Erhard Scholl: „Es geht … um die Versöhnung mit der eigenen Lebensgeschichte, um den Umgang mit Verletzungen, die Partner sich gegenseitig zufügen: Streit, Abwertung, Kränkung, Entzug der Liebesgefühle, nicht vereinbar scheinende Wünsche, Bedürfnisse und Vorstellungen zu thematisieren… Beratung kann auch dabei helfen, dass der Verletzende wahrnimmt und gegenüber der Person, die er verletzt hat, anerkennt beziehungsweise zum Ausdruck bringt, was er ihr angetan hat. Übernimmt der Verletzende Verantwortung für seine Tat, erfährt die verletzte Person Wertschätzung. So wird Verzeihen möglich, Versöhnung kann gelingen.“ Alle Heilung beginnt mit – wie Kohlgraf es nennt – „Wohlwollen“.
Die religiöse, christliche Perspektive kann den therapeutischen Versöhnungsprozess unterstützen, stimulieren. Denn bei Verletzungen ebenso wie bei Versöhnung wird eine transzendente Dimension berührt, wie der Psychiater und Neurologe Konrad Stauss beobachtet. Wo Vergebung gelingt, klingt in der zwischenmenschlichen Beziehung eine über das Diesseitige hinausweisende Beziehung, bei gläubigen Menschen die Gottesbeziehung an. Kohlgraf: „Anders als die Beichte, die ausschließlich Heilung für den Täter bedeutet, bringt der Versöhnungsprozess die Chance auf Heilung für beide.“ Mit der Therapie kann der Mensch so etwas wie eine sakramentale, heilende Erfahrung machen.
Wenig hilfreich hingegen ist es, wenn sich die Kirche in Beziehungs- und Ehefragen auf Schuldfeststellungen und Schuldvorwürfe kapriziert beziehungsweise wenn sie nur ihre traditionellen naturrechtlichen Sichtweisen vorträgt. Die überwiegende Mehrzahl der Menschen empfindet die klassischen lehramtlichen Aussagen zu Sexualität, Partnerschaft und Familie als lebensfremd und wenig alltagstauglich. Trotzdem bejahen viele „das kirchliche Anliegen von Treue und Liebe in der Partnerschaft“ und teilen durchaus das Ideal der dauerhaften Ehe. An diesem Positiven sei anzuknüpfen. Die Realität darf „vor lauter Idealismus nicht aus dem Blick“ verloren werden, interpretiert Kohlgraf das Anliegen von Papst Franziskus im Nachklang zu den beiden Bischofssynoden über Ehe und Familie. Nicht wenige junge Leute suchen das Ideal, sehnen sich danach, müssen allerdings in zerbrochenen Familienverhältnissen leben. Wenn das Vorbild zur Versöhnung fehlt, fällt es doppelt schwer, sich selber darin einzuüben.
Schulfach Ehekunde
Peter Kohlgraf wünscht sich, dass die Kirche insgesamt die Vergebungs- und Versöhnungsarbeit als eine ihrer wichtigsten Aufgaben, als vornehmste Pflicht erkennt. Auch die Politik ist herausgefordert, Versöhnungsprozesse gerade in den kleinsten, intimsten Institutionen zu fördern, die Gesellschaft und Staat tragen. Den Ehen schenkt sie bislang kaum Beachtung. Stattdessen herrscht der Fehlschluss in Parlamenten wie Regierungen vor, die Ehe sei Privatsache. Dabei ist sie im Gegenteil eminent politisch, als Ursprung und Urgrund jedweden sozialen Verhaltens und Geschehens wegweisend für die Bildung der Gesellschaft, für die Erziehung und emotionale Stabilisierung des Nachwuchses, für die Generationenfolge, den Staatsvertrag, ja für den inneren Frieden und die seelische Gesundheit eines Volkes. Insofern gehört die Arbeit an Konfliktbewältigung, die Sensibilisierung für Beziehungsfähigkeit und Vergebung mitten hinein in den Kanon der schulischen Fächer. Wo wird da die Ehe, das Eheleben neben der Sexualkunde thematisiert? Das darf kein Orchideenprojekt am Rand schulischer Bildung sein.
Die Fähigkeit, anderen zu vergeben, hängt zusammen mit der Fähigkeit, sich selber vergeben zu können, ja sich vergeben zu lassen. Darauf hat neulich am Weißen Sonntag, der von Johannes Paul II. der göttlichen Barmherzigkeit „umgewidmet“ wurde, Papst Franziskus aufmerksam gemacht: Nicht die Schuld, sondern die Scham über eigenes Fehlverhalten sei der erste Schritt zu einer befreienden Begegnung. Im Schamgefühl sieht Franziskus I. eine „versteckte Einladung der Seele“ zur Vergebung. Leben heißt stets von neuem: Vergebung empfangen und weitergeben. Auch das muss der Mensch lernen, von klein auf. Es ist Arbeit, oftmals harte Arbeit.
Auch die Ehe ist Arbeit, ständige Beziehungs- und Vergebungsarbeit. Der christliche Glaube immunisiert nicht gegen Ehekrisen, aber er kann anregen, diese zu bearbeiten und durchzustehen. Ganz so falsch ist die heutzutage etwas frömmlerisch klingende Aussage bewährter christlicher Eheleute von ehedem nicht: dass sie es geschafft hätten mit einem Dritten, mit Gott in ihrem Bunde.