Der „Superstar“ der Wirtschaftswissenschaft ist Karl Marx. Anders als David Ricardo oder Adam Smith ist Marx auch heute, zweihundert Jahre nach seiner Geburt, noch in weiten Teilen der Bevölkerung bekannt, obwohl seine Theorie bislang in allen Praxisversuchen scheiterte. Dazu, dass die Erinnerung an ihn so lebendig ist, tragen die vielen Bücher bei, die über den Vordenker des Kommunismus erschienen sind, und die große Ausstellung, die seine Geburtsstadt Trier ihm zum Jubiläum widmet. Viel einprägsamer aber sind Marx’ markante bärtige Erscheinung und seine knackigen Zitate: „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!“
Freiheit für alle Geknechteten – wer will da schon widersprechen? Marx ist zeitlos. 1848 wurde er von der frühen Arbeiterbewegung gegen die Ausbeutung der Industriearbeiter in Stellung gebracht, 1968 beriefen sich die Studentenrevolten auf ihn im Kampf gegen die Autoritäten, und 2007 führten ihn die Kapitalismuskritiker gegen die Finanzkrise ins Feld. „Wie alle großen Kunstwerke veränderte auch seines mit der Zeit den Charakter, so dass es jeder Generation in eigentümlicher Weise als frisch erscheint“, beobachtet der Marx-Biograf Jürgen Neffe („Marx. Der Unvollendete“, C.Bertelsmann, 2017).
Die Logik des „Immer mehr“
Karl Marx wurde am 5. Mai 1818 in Trier geboren, einer Stadt in der preußischen Provinz. Seine Eltern waren wohlhabend und gebildet. Marx’ Vater war gewiss kein Revolutionär, aber liberal im Geist der Aufklärung. Die relative politische Ruhe, in der Marx aufwuchs, täuschte jedoch. Er lebte in einer Zeit voller Umbrüche, was sich in seinem Werk widerspiegelt. Nach dem langen stabilen Mittelalter mit seiner bewährten Logik des Gottesgnadentums und der Grundherrschaft hatten Aufklärung und die Französische Revolution Europa in seinen Grundfesten erschüttert und einen Modernisierungsschub ausgelöst. „Das intellektuell verdichtete Klima gebiert in atemberaubendem Tempo Entdeckungen und Ideen, die bis heute die Welt bewegen“, so Neffe.
Zum Sinnbild des Wandels wurden die Fabriken der industriellen Revolution. Für das Wachstum, das zum neuen Leitbild ausgerufen wurde, war ein Heer an Arbeitern nötig. Der Alltag dieser Proletarier war geprägt von Ausbeutung und Gesetzlosigkeit. Daher gab es schon bald Gruppierungen, die gegen das Elend rebellierten – teilweise auch schon mit einer frühsozialistischen Argumentation für Gemeineigentum an den Produktionsmitteln. Marx kam während seines Jurastudiums in Bonn und Berlin mit philosophischen Kreisen wie den Junghegelianern oder frühen Sozialisten in Kontakt. Nach seinem Abschluss begann er als Journalist für die neu gegründete „Rheinische Zeitung“ zu arbeiten. In dem knappen Jahr, das Marx in Köln verbrachte, wandte er sich verstärkt der Politik zu. Als die Zeitung verboten wurde, ging er nach Paris, wo er seinen Freund und Partner Friedrich Engels kennenlernte, und schließlich nach Brüssel. Auf dem europäischen Kontinent galt die belgische Hauptstadt als letzter halbwegs sicherer Zufluchtsort für kritische Geister, die staatlich überwacht und verfolgt wurden. Marx verbrachte nahezu sein ganzes Erwachsenenleben im Exil.
Marx ging es – wie vielen seiner Mitstreiter – im Kern um die Freiheit des Menschen. Dieser Wunsch und Wille zieht sich wie ein roter Faden durch seine Werke. Für den Bund der Kommunisten verfasste der Vordenker der sich entwickelnden Arbeiterbewegung ein schmales Büchlein, das als „Manifest der Kommunistischen Partei“ in die Weltgeschichte Eingang fand. Darin befasste sich Marx mit der Unterdrückung der Proletarier durch die Bourgeoisie, also der Arbeiter durch die Wirtschaftsbürger. Die Bourgeoisie hatte die alte Feudalherrschaft entmachtet und damit enorme kulturelle Leistungen ermöglicht. Sie schuf aber auch ein Wirtschaftssystem, das sich mit seiner Logik des „Immer mehr“ längst verselbstständigt hatte. Davon profitieren zwar die Fabrikbesitzer, nicht aber die Arbeiter. Diese müssen ihre Arbeitskraft verkaufen und sind so dem Menschsein „entfremdet“. Schlussendlich sind sie mehr Ware als Mensch, was Papst Franziskus in eigener Weise in seiner Soziallehre wiederholt. Der Mensch als Müll: „Diese Wirtschaft tötet.“
900 Seiten Kapitalismuskritik
Der ungezügelte Kapitalismus trägt nach Marx den Keim des Kollapses schon in sich. Wenn das Leid groß genug ist, schließen sich die Unterdrückten zusammen und stürzen die Bourgeoisie, erwartete er. Die Arbeiterklasse erobere die politische sowie wirtschaftliche Macht und vollende den Kommunismus. Diese Utopie faszinierte viele: Aus der bürgerlichen Gesellschaft des Kapitalismus werde eine wahre Gemeinschaft aus freien Menschen. Dem freien Markt stellten Marx und Engels eine geplante Produktion entgegen. Die messianische Verheißung für die ausgebeuteten Arbeiter schließt das Ende aller Entfremdung und Unterdrückung mit ein. Marx erklärte offen, dass die Kommunisten dieses Ziel nur mit einem gewaltsamen Umsturz, einer Revolution, erreichen können. „Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder vereinigt euch!“ Mit diesen berühmten Worten endet das „Manifest“.
Kaum war das Manuskript in der Druckerei, entluden sich die Spannungen in Europa gewaltsam. Die Franzosen stürzten im Februar 1848 ihren „Bürgerkönig“ und riefen die freie Republik aus. Auch in Deutschland und Österreich kam es zu Revolten. Aus den Trümmern sollte eine neue, bessere Gesellschaft erwachsen. „Wie ihre Wiedergänger im 20. Jahrhundert, die 1968er, verstehen sich die 1848er als Systemkritiker, prangern Missstände an, unmenschliche Lebensbedingungen, Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Sie probieren alternative Arbeits- und Lebensformen im Geiste sozialistischer Genossenschaften aus“, so Neffe. Alle Aufstände scheiterten jedoch in einem Blutbad. Marx war ernüchtert: Der richtige Zeitpunkt für eine proletarische Revolution war noch nicht gekommen.
Die Revolutionäre wie auch die einfachen Arbeiter haben Marx’ Werke kaum zur Kenntnis genommen. Dabei gab der kommunistische Denker ihnen die philosophisch fundierte Hoffnung, dass die Menschen die gesellschaftlichen Verhältnisse aus eigener Kraft verändern könnten. Marx war einer der Ersten, die für eine Revolution der Proletarier warben. Bald stieg er zu einem der führenden Theoretiker der jungen internationalen Arbeiterbewegung auf. Wie Marx selbst hatten die meisten Vertreter der verschiedenen sozialdemokratischen, kommunistischen und sozialistischen Gruppen nur wenig direkten Kontakt zu den Arbeitern. Sie sprachen eher über sie als mit ihnen.
Im September 1867 veröffentlichte Marx „Das Kapital“. Das neunhundert Seiten starke Buch ist „eine der bedeutendsten und umstrittensten Schriften, die je ein einzelner Mensch zu Papier gebracht hat“, urteilt Neffe. Ein Vierteljahrhundert, mehr als die Hälfte seines Erwachsenenlebens, hat Marx daran gearbeitet. „Das Kapital“ hat alle Hymnen und Kritiker überdauert, „weil es im Kern nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat. Man kann sogar sagen, dass es erst heute, hundertfünfzig Jahre nach dem ersten Erscheinen, in der Wirklichkeit angekommen ist“, so der Biograf. Es scheint gar, als habe Marx das Buch für das 21. Jahrhundert geschrieben. „Heute ist häufig vom Narrativ die Rede, das mal der Linken fehle, mal Europa oder gleich der gesamten Wertegemeinschaft im Geiste der Aufklärung. Marx hat solch eine Erzählung geliefert, und sie hat nichts von ihrer Gültigkeit eingebüßt… Heute trägt Marx’ Hauptwerk zum Verständnis der ökonomischen Krise bei, ein gern zitiertes Sturmgeschütz der Kapitalismuskritik, die sich zur globalen Mode aufgeschwungen hat, vom Vatikan bis zum Weltwirtschaftforum in Davos.“
Der tiefreligiöse Atheist
Marx beklagte, dass der ganze Reichtum einer Gesellschaft nur noch aus Waren bestehe. Damit kommt er auf die Entfremdung des Menschen zurück: Das Sein verliert sich im Haben. Mit dem Besitz verliert der Mensch sein Wesen. Als erster Theoretiker beschrieb er den Kapitalismus in seiner Gesamtheit und enthüllte das ökonomische Bewegungsgesetz der modernen Gesellschaft. Mit 25 Jahren hatte Marx sich vorgenommen, den Kapitalismus zu entlarven, mit 50 Jahren hatte er es geschafft. „Nur als tiefreligiöser Atheist kann er erschaffen, was manche mit einem rein ökonomischen Werk verwechseln. Einer, der glaubt, dass die Menschheit auch Gott hinter sich lassen kann, sobald sie ihn durchschaut, sieht im Fetisch des Kapitals kein unüberwindliches Hindernis“, kommentiert Neffe die Seite der Marx’schen Persönlichkeitsentwicklung, die auch für seine ökonomische Theoriebildung von Bedeutung war.
In seiner Kindheit erhielt Karl Marx eine religiöse Erziehung. Beide Eltern stammten aus alten Rabbinergeschlechtern, traten dann aber zur evangelischen Kirche über. Marx wandte sich nach der Lektüre der Religionskritik von Hegel und Feuerbach vom Glauben ab. Gott und die Religion waren für ihn etwas, das der Mensch sich selbst geschaffen hat. „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes.“ Es heißt bei Marx tatsächlich „des Volkes“ und nicht „für das Volk“. Diese Formulierung prägte erst später Lenin. Marx hielt die Religion nicht für die Ursache der Entfremdung, sondern sah in ihr ein Symptom. Weil der unterdrückte Mensch nicht sein kann, was er eigentlich ist, schafft er sich einen Gott, der all das verwirklicht. So wie der Kapitalismus hat auch Gott Macht über seinen Schöpfer, den Menschen, erlangt. Wenn der Mensch die gesellschaftlichen Verhältnisse umstürze, finde er zu sich selbst zurück, so die Vermutung, der manche Kommunisten und Sozialisten heute noch anhängen. So werde die Religion überflüssig. Marx verstand sich als Aufklärer gegen jede Art des Aberglaubens. Er lehnte Spekulatives ab, ebenso Utopien in quasireligiöser Verfasstheit. Und trotzdem wurde in der Geschichte nach Marx vieles pure Ideologie.
Auf Marx’ Schultern
Marx war ein widersprüchlicher Denker, wie Neffe im Untertitel schreibt: ein Unvollendeter. Er scheint viele Persönlichkeiten gehabt zu haben, die je nach Situation zum Vorschein traten. Er schätzte seine Frau und behandelte seine Kinder liebevoll. Gegen politische Gegner konnte er aber spitzzüngig und gnadenlos sein. Er strahlte eine intellektuelle Macht aus, die viele anzog. Sein Selbstbewusstsein steigerte sich mitunter bis zur Arroganz. Zeit seines Lebens plagten ihn Krankheiten. Marx ergriff Partei für die einfachen Arbeiter, legte aber zugleich Wert auf einen bürgerlichen Lebensstil, den er sich von seiner schriftstellerischen Tätigkeit eigentlich nicht leisten konnte. Immer wieder musste Engels die Schulden begleichen. Die beiden verband eine enge Freundschaft, gar eine symbiotische Beziehung. In ihren Schriften sind ihre Gedankenwelten kaum voneinander zu trennen. Daher gibt es auch nur die Marx-Engels-Werke beziehungsweise die Marx-Engels-Gesamtausgabe. Marx’ Werk war hochgradig unfertig, teilweise erst nach seinem Tod von Engels aus Notizen zusammengebaut. Von Marx ist der Satz überliefert: „Alles, was ich weiß: Ich bin kein Marxist.“
Den Marxismus hat daher erst die Generation „linker“ Intellektueller nach Marx begründet. Seine Entstehungsgeschichte „lässt sich demnach als die Geschichte vieler individueller Versuche verstehen, mithilfe der Gedanken von Karl Marx die subjektive, kleine Gegenwart in eine objektive, große Zukunft zu transformieren“, schreibt Christina Morina in ihrem Buch „Die Erfindung des Marxismus“ (Siedler Verlag, 2017). Im Mittelpunkt seiner Nachfolger stand die Lösung der sozialen Frage. Marxistische Denker der ersten Generation wie Rosa Luxemburg, Victor Adler, Eduard Bernstein oder Wladimir I. Lenin „zogen aus Marx’ Werk primär ein auf das Hier und Jetzt gemünztes Erkenntnisversprechen, keinen nur auf das Morgen gerichteten Zukunftsglauben“.
Auch Vertreter grundlegend anderer Geistesströmungen nahmen den kommunistischen Vordenker zur Kenntnis. Der „Nestor der katholischen Soziallehre“, Oswald von Nell-Breuning, kam rund siebzig Jahre nach Marx auf die Welt, ebenfalls in Trier. Wegen seiner Kapitalismuskritik aus christlicher Sicht beschimpfte man ihn häufig als Marxisten. Wie Marx sah Nell-Breuning eine Schieflage zwischen den Arbeitern und den Besitzern der Produktionsmittel. Das wollte der Theologe jedoch durch den Staat, starke Gewerkschaften und durch betriebliche Mitbestimmung korrigieren. Auch wenn Nell-Breuning viele kommunistische Gedanken ablehnte – wie etwa Marx’ Religionskritik oder seine Forderung, das Privateigentum abzuschaffen –, so war er sich doch bewusst: „Wir stehen alle auf den Schultern von Karl Marx.“ Und dass es einen realen „Klassenkampf“ gebe, hat auch der Jesuit Nell-Breuning bestätigt.
Der „Marxismus“ fand Anschluss an vielfältige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Debatten. Immer wieder versuchten Staatslenker Marx’ Ideen in die Praxis umzusetzen. Die Faszination für den Kommunismus, der Erkenntnis und Emanzipation, Wissen und Macht versprach, „überdauerte das ‚Goldene Zeitalter‘ des Marxismus, doch sie begegnete uns im 20. Jahrhundert – zum Referenzrahmen diverser Staatsmächte avanciert und sowohl im Antrieb als auch in den Folgen radikalisiert – viel öfter als totalitäre Versuchung denn als humaner Versuch“, urteilt Christina Morina.
Tatsächlich muss man feststellen, dass keines der kommunistischen Experimente der Freiheit des Menschen einen Dienst erwies. Die DDR entwickelte aus Marx’ Ideen einen totalen Überwachungsstaat, die Sowjetunion ermordete im „Klassenkampf“ Millionen von Menschen, und China fand zu einer kommunistischen Form des Kapitalismus, in der die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen den Funktionärskadern, den Wirtschaftsbossen und dem einfachen Volk so groß ist wie in keinem anderen Land der Welt. Noch immer beruft sich Peking jedoch auf Marx und spendierte seiner Geburtsstadt zum Jubiläum sogar eine gut fünf Meter hohe Statue. Kann man Marx aber für den Wahnsinn, den andere in seinem Namen begingen, haftbar machen?
Die Wallstreet und das Kapital
Marx wurde von seinen Gegnern wie der Teufel verabscheut, von seinen Anhängern dagegen als der „Messias der Arbeiter“ verehrt. „Sie haben ihn wie einen Erlöser feiern lassen, seine Schriften aber manipuliert und dann mit einem biblisch anmutenden Unfehlbarkeitsbann belegt“, schreibt Neffe. „Dass sein Name bis heute Ehrfurcht und Furcht hervorruft, verdankt Marx einem perfiden Pakt, den andere in seinem Namen geschlossen haben. Er war ihr Faustpfand, mit seiner Lehre haben sie Diktatur, Gewalt und Unfreiheit begründet, wie er es nie gebilligt hätte.“ Wären einer Welt ohne Marx jedoch Despoten wie Stalin, Ceaușescu, Mao oder Pol Pot erspart geblieben?
Auch Marx’ Verelendungstheorie wurde vielfach kritisiert. Heute kann niemand mehr bestreiten, dass es den Arbeitern in den wohlhabenden kapitalistischen Nationen viel besser geht als zu Marx’ Zeiten beziehungsweise in den sozialistischen Gesellschaften. Diese Sicht blendet aber die Kluft zwischen Arm und Reich aus. Gerade die Konzentration von immer mehr Kapital in immer weniger Händen treibt die Kapitalismuskritiker auf die Straße. Im Zuge der Globalisierung gewinnt das neue Dynamik. Das Kapital hat neben seiner wirtschaftlichen Bedeutung auch ein politisches Potenzial. Und die heutige überdimensionierte, exzessive Finanzwirtschaft drückt die Realwirtschaft oft in den Abgrund.
Das Scheitern des sowjetischen Sozialismus führte dazu, dass die Menschen bald nach Ende des Kalten Kriegs das Totenglöckchen des Marxismus läuteten. Sie riefen mit dem Sieg der freien Marktwirtschaft gar das Ende der Geschichte aus. Marx gehöre der Vergangenheit an. Das erwies sich noch vor Ende des Jahrtausends als Trugschluss. 1997 zitierte der „New Yorker“ einen Investmentbanker mit den Worten: „Je länger ich an der Wall Street war, desto überzeugter wurde ich, dass Marx recht hatte“. Die Finanzkrise des Jahres 2007 riss die Menschheit endgültig aus ihren kapitalistischen Träumen. In jener Zeit erreichte die postmarxistische Renaissance des Karl Marx einen neuen Höhepunkt. Er hatte durch seine lange „Abwesenheit“ viel von seinem Schrecken verloren. Selbst wohlhabende Bürger konnten nun mit dem einst so verrufenen Theoretiker kokettieren. Hatte Marx mit seinem Urteil über den Kapitalismus nicht doch recht gehabt?
Das Internet als Gemeineigentum
Er hatte jedenfalls viele der aktuellen Fehlentwicklungen vorausgesehen und gemahnt, der Kapitalismus werde sich immer weiter beschleunigen und schließlich kollabieren. Im Lichte der Finanzkrise erscheint das plötzlich möglich. Die Anzeichen für einen drohenden Zusammenbruch seien da, erklärt Neffe. Die Ungleichheit zwischen Arm und Reich wächst. Der Konsum nimmt dort ab, wo zumindest im Westen Menschen anfangen, ihr Verhalten zu überdenken. Auch die Reichen investieren nicht mehr, sondern legen ihr Geld lieber sicher an. Um die Wirtschaft anzukurbeln, haben die Zentralbanken die Zinsen auf null gesenkt. So wurde bislang aber nur ein völliger Stillstand verhindert. Marx ist damit nicht widerlegt.
Wie könnte der Weg in ein post-kapitalistisches Zeitalter aussehen? Nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts scheinen eine Revolution und ein Neo-Kommunismus unwahrscheinlich. In einem seiner unbekannteren Werke, dem „Maschinenfragment“, entwirft Marx eine mögliche Zukunft. Angesichts der digitalen Revolution unserer Tage erscheint sie nicht mehr so utopisch wie noch für Marx’ Zeitgenossen. In dieser Vision werden Güter und Dienstleistungen vollautomatisch produziert. Die Arbeiter werden überflüssig und verlieren ihr Einkommen. Damit fehlen dem System aber die Konsumenten. Die Logik des Kapitalismus zerbricht. Nicht umsonst spielen Konzernführer heute mit der Idee des Grundeinkommens.
Die von Marx geforderte Enteignung von Betrieben ist heute nicht mehr undenkbar. Solche Vorstöße treffen vor allem die großen Internetkonzerne. Sie sollen zerschlagen werden, weil sie Infrastruktur monopolisieren, die jeder Mensch benötigt. Was spräche dagegen, Unternehmen, die von der Gemeinschaft profitieren – etwa indem sie ihre Daten verkaufen –, in Gemeinschaftseigentum zu überführen? Wäre das ein erster Schritt zu Marx’ neuer Eigentumsordnung? Konsumenten haben heute eine Macht, die Arbeiter nie hatten, urteilt Neffe. Um diese Macht zu entfalten, müsste nur ein Internetkonzern – oder noch wahrscheinlicher der Staat per Gesetz – den Nutzern eine anteilige Vergütung an dem Erlös der Daten garantieren. Auch das wäre eine Art Grundeinkommen. Die Frage nach einer neuen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist gegenwärtig jedenfalls so aktuell wie ehedem. Ein Kommunismus, wie Marx ihn sich vorgestellt hat, ist reine Utopie. Ein Kapitalismus mit freien Märkten, von dem alle Menschen profitieren, ist es aber auch.