Literaturbericht zum 200. GeburtstagDie vielen Seiten von Karl Marx

Der Gesellschaftstheoretiker aus Trier war immer ein umstrittener Denker – bis heute. Das zeigt sich auch an der Vielfalt neuer Bücher.

Jeder Mensch wirft einen anderen Blick auf Karl Marx. Die Beurteilung des „Erfinders des Kommunismus“ hängt davon ab, ob sich die betreffende Person politisch sozialdemokratisch oder bürgerlich-konservativ einordnet, ob sie wirtschaftlich liberal oder sozialistisch denkt, in welcher Zeit und an welchem Ort sie lebt.

Was hat Marx heute noch zu sagen? Von dieser Frage lässt sich der Journalist Jürgen Neffe (1) in „Marx. Der Unvollendete“ leiten. Immer wieder zieht er seine Erzählstränge bis in die Gegenwart und schreibt Marx’ Ideen im Licht der aktuellen Entwicklungen fort, überlegt etwa, ob Planwirtschaft funktionieren könnte, wenn man Googles Algorithmen darauf ansetzte. Neffe schildert das Leben des kommunistischen Vordenkers ausführlich und wagt dabei – mit viel Sympathie für Marx – auch eine Analyse seiner Persönlichkeit. Er betrachtet die familiären Beziehungen und Freundschaften, sein Engagement in der jungen Arbeiterbewegung und die Wirtschaftstheorien. Trotz der Fülle an unterschiedlichen Aspekten liest sich das Buch sehr angenehm. Auch Marx’ Antisemitismus sowie seinem Verhältnis zur Religion widmet Neffe Raum. Marx kam nach einer wohl religiösen Erziehung als Student durch die Lektüre von Georg Wilhelm Friedrich Hegel zur Religionskritik. Wenn es ein Paradies geben sollte, dann nur auf der Erde. Das zu schaffen war zeit seines Lebens Marx’ Ziel.

Schildert Neffe eher die persönliche Seite von Marx, so legt der britische Historiker Gareth Stedman Jones (2) das Hauptaugenmerk auf die politischen Ideen. Jones verortet Marx ganz in den Zeitumständen des 19. Jahrhunderts. Dieser war kein isolierter Denker, sondern knüpfte an schon bestehende Debatten an und führte sie weiter. Daher widmet sich Jones ausführlich den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Zeit und zeichnet so ein hintergründiges Bild der gesamten Epoche, die zwischen Beharren und Fortschritt, Kapital und Arbeit tief gespalten war.

Mit dem Politiker Marx beschäftigt sich der Trierer Geschichtswissenschaftler Wolfgang Schieder (3) in „Karl Marx. Politiker in eigener Sache“. Marx sah sich in erster Linie als Wissenschaftler. Trotz aller revolutionären Ziele wurde er nur selten selbst politisch aktiv. Er war jedoch Mitglied in verschiedenen Verbänden und nutzte diese, um seine Theorien weiterzuentwickeln und diese den damals gerade entstehenden Arbeitervereinen ins Stammbuch zu schreiben. Schieder zeichnet Marx’ Beteiligung in den Verbänden detailgenau nach. Wer darüber hinaus an der Entwicklung der Sozialdemokratie und der sozialistischen Internationalen Interesse hat, ist mit diesem Buch gut beraten.

Das Erbe des „Cheftheoretikers“

Einen knappen Überblick bietet das Buch „Karl Marx“ vom Berliner Althistoriker Wilfried Nippel (4). Er arbeitet sich chronologisch durch Marx’ Leben und Werk. Die „innere“ intellektuelle Entwicklung des „Cheftheoretikers in der deutschen und internationalen sozialistischen Bewegung“ blendet Nippel vollständig aus. Ihm geht es vor allem um die historischen Fakten, um Marx’ tatsächliches Handeln und Wirken. So gelingt ihm ein vorurteilsfreies und neutrales Porträt. Wegen der Informationsdichte leidet jedoch das Lesevergnügen etwas.

Der Band „Karl Marx“ des Journalisten Dietmar Dath (5) bietet, ebenfalls auf hundert Seiten, den am wenigsten komplexen Überblick. Zwar mutet Daths Sprache gelegentlich wie für ein Jugendbuch gedacht an und ist gewöhnungsbedürftig. Erfreulich ist aber, dass Marx mit langen Zitaten selbst zu Wort kommt. Der Autor schildert – stellenweise aus einer sehr persönlichen Perspektive –, wie mit Unrecht im Kleinen oder in der Gesellschaft umgegangen werden kann und welchen Weg Marx einschlug. Dabei holt er häufig weit aus und erklärt die philosophischen Hintergründe ausführlich und gut verständlich. Historisches und Biografisches kommen kaum vor.

„Die Erfindung des Marxismus“ ist das Thema von Christina Morina (6). Die Historikerin schildert anhand der Biografien von neun Europäern in der Generation nach Marx, wie diese dessen Ideen aufnahmen, weiterentwickelten und umsetzten. Wie Rosa Luxemburg oder Wladimir Iljitsch Lenin spielten sie allesamt eine große Rolle in den verschiedenen gesellschaftspolitischen Kreisen. Obwohl sie die Leben ihrer Protagonisten parallel schildert, behält man erstaunlich gut den Überblick. Christina Morina vermittelt eine Ahnung davon, wieso jeder Mensch, je nach politischem Umfeld, zu einer anderen Deutung von Karl Marx kommt und wie sich daraus die überwältigende Vielfalt in der Arbeiterbewegung herausbildete.

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Neffe, Jürgen (1)

Marx. Der Unvollendete

(C. Bertelsmann Verlag, München, 2. Auflage 2017, 656 S. mit 16 S. farb. Bildteil, 28 €)

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Stedman Jones, Gareth (2)

Karl MarxDie Biographie

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, 891 S., 32 €

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Schieder, Wolfgang (3)

Karl MarxPolitik in eigener Sache

Konrad Theiss Verlag, Darmstadt 2018, 239 S., 29,95 €

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Nippel, Wilfried (4)

Karl MarxReihe: C.H. Beck Wissen

Verlag C.H. Beck, München 2018, 128 S., 9,95 €

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Dath, Dietmar (5)

Karl Marx

(Philipp Reclam, Ditzingen 2018, 100 S. mit 11 Abb. und Infografiken, 10 €)

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Morina, Christina (6)

Die Erfindung des MarxismusWie eine Idee die Welt eroberte

Siedler Verlag, München 2017, 592 S., 25 €

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