Deutschland war und ist ein Land der Religionsfreiheit. Das erklärte die Journalistin Evelyn Finger in der „Zeit“. „Hier ist Gott nicht nur zum Anbeten da, sondern zum Streiten.“ In anderen Ländern sei das noch immer undenkbar, dabei gehören schon in der Bibel Gott und der Zweifel an Gott zusammen. Die Bibel sei voll von Zweiflern. „Moses, der nicht glauben kann, dass Gott aus dem brennenden Dornbusch zu ihm spricht. Jona, der sich dem Auftrag Gottes widersetzt, weil er ihn für unsinnig hält. Auch die Propheten brüllen ihre Zweifel ins All, und selbst Jesus zweifelt in den letzten Stunden am Vater im Himmel.“ Dieser Widerspruchsgeist sei vielleicht das Beste am Christentum. Denn ohne Zweifel könne es keine Religionsfreiheit geben und auch keinen Religionsfrieden.
Evelyn Finger bedauert, dass in den aktuellen Debatten so wenig vom Wert des Zweifels zu spüren ist. „Allenthalben wird der Glaube gegen Kritik in Schutz genommen. Kaum entbrennt ein Streit über Kreuz oder Kopftuch, über Kirchen- oder Islamreform, ergeht sogleich die Warnung, den Streit nicht zu weit zu treiben“, damit sich die Gläubigen nicht beleidigt fühlen. Mache die Religion Probleme, werde sie vehement verteidigt, aber eine Kritik an der Religion stehe sofort unter dem Verdacht der Religionsfeindschaft, als „verberge sich hinter jedem ‚Aber‘ ein aggressiver Atheismus, der Kirchen sprengen lässt“. Es herrsche eine spürbare Angst vor offener Glaubenskontroverse. Die Religion werde verteidigt, als sei sie ein Wert an sich. „Als komme es nicht darauf an, was und wie einer glaubt, und in welchem Zustand sich seine Glaubensgemeinschaft befindet.“ So war es, als 2010 die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche ans Licht kamen, so ist es auch, seit sich radikalislamische Anschläge mehren. „Jeder Kritiker ist gleich ein Feind.“
Gott, wenn er denn existiere, sei nicht von dieser Welt und bleibe für den Menschen folglich ein Geheimnis. Auf jenseitige Fragen könne es keine diesseitigen Antworten geben. „Rechthaberei in Glaubensdingen ist der Kern gefährlicher religiöser und damit politischer Konflikte, sie passt nicht zur Religionsfreiheit. Die Rechthaber vergessen, wie mühevoll diese Freiheit errungen wurde, wie lange es dauerte, bis ein aufgeklärtes Gottesbild erlaubt war.“
Die deutschen Kirchen haben nach heftigem Widerstand die Religionsfreiheit akzeptiert. Dem Islam stehe das noch bevor, und es helfe nicht, wenn man ihn von Kritik verschont. Die Christen sollten darauf achten, dass ihre Kritik nicht selbstgefällig ist, aber nicht jede Kritik an einer fremden Religion ist automatisch selbstgefällig. „Dafür haben sie ihr Recht auf Selbstkritik zu hart erkämpft.“ Seit Martin Luther diene diese Kritik der Reform des Christentums. „Wer Gott ernst nimmt, muss eigenständig über ihn nachdenken.“