Zurzeit wird viel über die Identität eines Landes diskutiert. Was aber ist die Identität einer Stadt? Die meisten Menschen sind sich schnell einig, dass München die Metropole mit Herz ist, voller Hochkultur, Lebensfreude, aber auch bayerischer Gemütlichkeit. Hamburg dagegen gilt als Weltstadt selbstbewussten Bürgertums mit der Weite zum Meer, mit einem Hauch elitärer kultureller Überheblichkeit – Elbphilharmonie –, aber auch mit einer Musical-Volkskultur und der Reeperbahn-Subkultur. Berlin präsentiert sich der Welt als „arm, aber sexy“ und vor allem multikulti. In Frankfurt am Main ist die Hochfinanz zuhause, entsprechend stellt sich die Stadt als durchorganisiert dar und wirkt etwas hochmütig. Und Dresden?
Stadt der Schmerzen
Ein knappes Urteil fällt schon schwerer. Heute ist die Stadt an der Elbe ein Touristenmagnet. Sie hat sich als Kulturhauptstadt Europas beworben – nicht nur wegen ihrer barocken „architektonischen Kostbarkeiten“ und ihrer „hippen Szenekultur“. Daneben ist Dresden auch ein Brennpunkt von bundesrepublikanischen Konflikten und Problemen. Diese Herausforderung teile man wiederum mit vielen anderen europäischen Städten, schreiben die Macher der Kulturhauptstadt-Bewegung auf ihrer Internetseite. Musik, Tanz und Theater: Kultur bedeute aber auch, miteinander streitbar zu diskutieren und trotzdem zusammenzuleben. Dabei will Dresden ein Vorbild sein.
Der Journalist Martin Machowecz beobachtete neulich im Magazin der „Zeit“: „Dresden ist eine Stadt der Schmerzen geworden, des nie verheilenden Risses.“ Nach der jahrelangen Aufregung um Pegida liegen die Nervenenden blank. Der Riss gehe durch Familien, durch Belegschaften, durch Vereinsvorstände. Aber die Stadt lerne gerade, damit zu leben, Konflikte auszutragen und die Wut nicht mehr alles dominieren zu lassen. „Und ein bisschen sind die Leute hier sogar stolz darauf. Darauf, wie gut sie inzwischen diskutieren, einander ausreden lassen.“
Das – wie es häufig genannt wird – Elbflorenz ist in der Tat reich an Kultur. Der sächsische Kurfürst August der Starke begann im 18. Jahrhundert mit dem Umbau seiner Residenzstadt zu einem barocken Gesamtkunstwerk. Ihm war eigentlich eine militärische Karriere zugedacht worden. Weil Kurfürst Johann Georg IV. nach kurzer Regentschaft jedoch überraschend starb, folgte August seinem Bruder auf den Thron. Er führte seinen Kurstaat zu einer wirtschaftlichen und kulturellen Blüte und verschaffte Dresden den Ruf als europäische Metropole, der bis heute nachwirkt. Bei seiner höfischen Prachtentfaltung orientierte August sich am französischen Sonnenkönig Ludwig XIV. und schaute sich dessen verschwenderischen Stil ab. Seinen Wunsch, sich als absolutistischer Herrscher zu präsentieren, erfüllte er sich mit einer regen Bautätigkeit und einer ausgeprägten Sammelleidenschaft. So entstand der Zwinger als prachtvolles Residenzschloss mit Pavillons und großen Parkanlagen. In der angrenzenden Gemäldegalerie finden sich bekannte Werke alter Meister, darunter die „Schlummernde Venus“ von Giorgione und Tizian, Johannes Vermeers „Bei der Kupplerin“ oder Bellottos Ansichten der Dresdener Altstadt. Das Grüne Gewölbe gibt Einblicke in die Schatzkammer des Kurfürstentums. Auch Augusts umfangreiche Porzellansammlung ist zu besichtigen.
Die Brühlsche Terrasse sowie die neue Semperoper entstanden wenig später und sind heute weltbekannt. Das Kurfürstentum Sachsen galt als das „Mutterland der Reformation“, hatte doch der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise den Reformator Martin Luther unter seinen landesherrlichen Schutz gestellt. Um jedoch König von Polen werden zu können, trat August der Starke zum Katholizismus über. Seinen Untertanen sicherte er zu, dass sie ihren evangelischen Glauben behalten dürfen. Dennoch begannen die beiden Konfessionen in Sachsen um die Vorherrschaft zu ringen.
Elbstrand und Feierabendbier
Das zeigt sich auch am Stadtbild der Residenzstadt. Fast zeitgleich entstanden dort zwei große Kirchenbauten: die lutherische Frauenkirche, die der Stadtrat in Auftrag gegeben hatte, und die katholische Hofkirche, deren Bau ein Sohn Augusts angestoßen hatte. Die barocke Hofkirche ist heute die Kathedrale des Bistums Dresden-Meißen. In einer Kapelle im Norden des Kirchenschiffs befindet sich eine Gedächtnisstätte für die Opfer des grauenvollen alliierten Bombenangriffs auf Dresden in der Nacht vom 13. Februar 1945 – ein Trauma, das anhält. Noch zu DDR-Zeiten schuf der Bildhauer Friedrich Press (1904–1990) dafür eine moderne monumentale Pietà aus Meißner Porzellan.
Dresden jedoch auf eine einstige Residenzstadt zu reduzieren, wäre zu wenig. Zwar prägt dieses Selbstbewusstsein noch heute seine Bewohner, das alleine beschreibt das Lebensgefühl jedoch nur ungenügend. Auf einer Länge von rund dreißig Kilometern schlängelt sich die Elbe in weiten Bögen durch die Stadt, gesäumt von breiten Wiesen und einer vielerorts unverbauten Flusslandschaft. Einst war das Dresdner Elbtal Weltkulturerbe; diesen Status entzog ihm die Unesco vor einigen Jahren wegen des Baus der Waldschlößchenbrücke. In der Stadt lädt die Elbpromenade zum „höfischen“ Flanieren ein, zugleich nutzen viele Menschen das Flussufer für ein „proletarisches“ Feierabendbier oder ein Sonnenbad. Die Dresdner Neustadt zeigt sich als lebendiges Viertel mit zahlreichen Kneipen, modernen Kunstgalerien und Läden für ungewöhnliche Raritäten. Es ist auch das Szeneviertel der jungen Generation, insbesondere der vielen Studenten, die unter anderem an der modernen Technischen Universität studieren. In der sächsischen Hauptstadt findet sich auch Deutschlands einziges selbstständiges Operettentheater. Es scheint, als könnte jeder in Dresden seine Nische finden.
Das trifft jedoch ebenso auf die Schattenseiten zu. Auch sie prägen die Identität der Stadt mit. Den Fans des Fußballvereins Dynamo Dresden eilt ein gewalttätiger Ruf voraus. Wenn Dresden zu einem Auswärtsspiel fährt, gibt es meist Ärger. Die Demonstrationen von Pegida bestimmten lange Zeit das Dresden-Bild im Rest der Republik. In ihrer Hochphase 2015 kamen rund 25000 Menschen montags in die Stadt an der Elbe. Demonstranten, die nur ihren Unmut über islamische Zuwanderung, ihre Sorgen um die Zukunft oder ihre Frustration äußern wollten, waren hierbei meist nur eine Minderheit. Lauter waren die dumpfen Pöbler und Rechtsextremen, die mit fremdenfeindlichen Äußerungen auffielen.
Warum eine Bewegung wie Pegida ausgerechnet in Dresden so erfolgreich werden konnte, kann niemand genau erklären. Ob es nun daran liegt, dass nicht alle Menschen gleichermaßen von der Wiedervereinigung profitiert haben, dass sie nach der Wende in einer völlig veränderten Welt neu anfangen mussten, oder daran, dass ganze Generationen den „offiziellen“ politischen Prozess frustriert verlassen haben, weil sie ihre Interessen und Positionen darin nicht vertreten finden? Oder spielt doch auch der starke Verlust des Christlichen in der DDR – und in Sachsen bereits zuvor – eine Rolle?
Versöhnungszeichen Frauenkirche
Die städtische Gesellschaft in Dresden leidet, wie vielerorts in Ostdeutschland, an einem ideellen Vakuum. Die SED-Ideologie ist in der wiedervereinigten Bundesrepublik schnell als unerwünscht und schädlich gebrandmarkt worden, aber ohne Rückhalt in der Religion fehlt eine gesamtgesellschaftliche Haltung, ja Leitlinie. Bis heute habe die Trauer über den Untergang der DDR, die Angst seit den Umbrüchen der Wiedervereinigung keinen Platz in der Gesamtgesellschaft, erklärt Thomas Arnold, Direktor der katholischen Akademie in Dresden-Meißen. Lange füllten die Menschen dieses Sinndefizit durch Materialismus, heute funktioniert auch das nicht mehr. Viele Ostdeutsche, auch in Dresden, suchen auch dreißig Jahre nach der Einheit noch immer nach ihrem Platz in der Gesellschaft.
„Die Kirche kann die Menschen in schwierigen Zeiten begleiten, die politischen Ziele sollte sie aber nicht setzen“, erklärt Sebastian Feydt, Pfarrer der Frauenkirche. Ein sakraler Ort ist für die politische Auseinandersetzung der falsche Platz. Vielleicht war es reiner Zufall, dass sich die Unzufriedenheit, die ganz Deutschland, wahrscheinlich sogar ganz Europa betrifft, gerade in Dresden Bahn brach und von den rechten Gruppierungen dankbar aufgegriffen wurde. Wahrscheinlich war es eine Kombination aus vielen verschiedenen Faktoren. Deuten müssen das die Menschen in Dresden und Sachsen. Vieles wird aus der Gesellschaft herauswachsen müssen, etliche Lektionen haben auch die Politiker gelernt.
Die Teilnehmerzahlen der wöchentlichen Demonstrationen sind inzwischen deutlich gesunken, das Medienecho hat enorm nachgelassen. Damit sind die Probleme aber noch nicht verschwunden. Jedes Jahr nutzen Rechtsextreme aus ganz Deutschland die Erinnerung an die schrecklichen Bombennächte im Februar 1945 für ihre Propaganda. Umso wichtiger war daher auch der Wiederaufbau der Frauenkirche. Dienten die Ruinen einst den Rechten, um die Deutschen als unschuldige Opfer des Krieges zu stilisieren, wird diese Botschaft nun von der neuen Frauenkirche überlagert. Sie steht für Toleranz und Frieden, für die Versöhnung einst verfeindeter Völker.
Auch die Gesellschaft in Dresden hat erst lernen müssen, mit einer offensiven Zurschaustellung neo-nationalistischen Gedankenguts auf demokratische Weise umzugehen. Die Dresdner – nicht alle, aber doch viele – haben sich in all diesen Zusammenhängen am Ende bemüht, das Bild ihrer Stadt wieder geradezurücken. Den rechten Aufmärschen stellt sich seit mehreren Jahren eine breite Front aus verschiedenen gesellschaftlichen Vereinen und Verbänden in Zusammenarbeit mit der Stadt und den Kirchen entgegen. Auch gegen Pegida zeigten die Dresdner Bürger immer wieder Flagge. Von Anfang an gab es Gegendemonstrationen, Gesprächsangebote, Kunstaktionen und Veranstaltungen, die für eine weltoffene Stadt warben. Dresdens Protestkultur hat eine gewisse Tradition. 1989 war die Stadt an der Elbe einer der Orte, an denen die friedlichen Demos gegen die DDR ihren Anfang nahmen.
Dresden hat in den DDR-Jahren viel von seiner ursprünglichen preußisch-protestantischen Prägung verloren. Gegenwärtig bekennt sich in der Stadt nur jeder Fünfte zu einer der beiden christlichen Konfessionen. Es sei nicht so, dass die Menschen in Dresden schlechte Erfahrungen mit der Kirche machten, erklärte der Bischof von Dresden und Meißen, Heinrich Timmerevers, bei einem Treffen mit jungen Journalisten, das von der Katholischen Nachrichtenagentur organisiert wurde. „Sie machen gar keine Erfahrungen.“ Die Kirche war in der DDR nur ein Randphänomen. Das wirkt bis heute nach. Die Gemeinden sind kleiner, familiärer als im Westen. Auch das ist ein Erbe des Sozialismus. Die wenigen Christen mussten gegen den Staat und seine Ablehnung zusammenhalten. Viele Gemeindemitglieder durften wegen ihrer Religionszugehörigkeit nicht studieren. Heute noch tragen diese Menschen die Kirche mit viel Engagement, beschreibt der Bischof die Lage, der selber aus dem katholischen Bistum Münster in den Osten wechselte und hier eine völlig andere Welt kennenlernte. Die Diaspora-Erfahrung heute, wie zu DDR-Zeiten, beflügelt die Ökumene vor Ort. Sowohl der katholische Bischof Timmerevers als auch der evangelische Landesbischof Carsten Rentzing beschreiben das Miteinander der Konfessionen als unkompliziert.
Stadt ohne Gott?
Als der Evangelische Kirchentag 2011 zu Gast in Dresden war, wählte er dazu ein Leitwort aus dem Matthäusevangelium: „Da wird auch dein Herz sein.“ Passend zum Thema war die Stadt voll mit den Herzenlogos. Selten hat ein Motto so gut zur gastgebenden Stadt gepasst. Es war deutlich spürbar, dass die Mehrheit der Dresdner den Massen Menschen mit grünen Kirchentagschals etwas ratlos gegenüberstand. Trotzdem siegte im Gespräch zwischen Einheimischen und Kirchentagsbesuchern auf Dresdner Seite meist die Neugier: Was das für eine Veranstaltung sei? Wie man die Stadt finde? Ob man sich hier wohlfühle? Die Besucher wurden mit Gleichmut akzeptiert und herzlich aufgenommen.
Die Suche nach dem Sinn des Lebens, nach einer Leitlinie bei der Lebensgestaltung, nach einer „übergeordneten“ Orientierung treibe nicht nur Christen um, sondern auch Dresdner ohne Bekenntniszugehörigkeit, erklärte Timmerevers. Umso wichtiger ist es für die Christen, den Kontakt zur Mehrheitsgesellschaft nicht zu verlieren oder gar aufzugeben und auch in einer atheistisch geprägten Stadtgesellschaft präsent zu sein. In einer „Stadt ohne Gott“ mit Gott.
Leser-Tagung in Dresden
Unter dem Titel „Gott? – Mut zur Religion in moderner Gesellschaft“ lädt daher auch CHRIST IN DER GEGENWART am 8. September zu einer Lesertagung nach Dresden ins dortige Kongresszentrum ein – anlässlich des siebzigjährigen Bestehens der Zeitschrift. Wie bei allen runden Jubiläen will die Redaktion „draußen“ feiern, außerhalb des Publikationsortes – und das zusammen mit den Leserinnen und Lesern.
Die Passauer Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig wird über „Die Suche nach Orientierung. Religion – ein Irrweg oder der Weg?“ sprechen, der Münsteraner Theologe Michael Seewald über „Hoffnungslos religiös oder religiös, weil voller Hoffnung? Glaube, Unglaube und das Menschsein des Menschen“. Der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers schildert seine Beobachtungen und Einsichten über Kirche in der säkularen Welt. Der Vortragstitel unseres langjährigen Autors Gotthard Fuchs lautet: „Ich glaube, weil ich bete. Mystik im Alltag“. Zudem gibt es eine Lesung des deutsch-iranischen Dichters SAID: „Die Götter der Freiheit warten“. Christian Heidrich stellt das zum September erscheinende neue CIG-Buch vor: „Gott? Die religiöse Frage heute“. Auch gibt es eine Diskussionsrunde der Vortragenden mit Schülern des St. Benno-Gymnasiums. Ein Grußwort wird unter anderem Staatsminister Oliver Schenk, Chef der Sächsischen Staatskanzlei, sprechen.
Tagungsgebühr: Die Verpflegungspauschale während der Tagung beträgt 22 Euro pro Person. Wir haben in Dresden Hotelkontingente vorreserviert. Vorschläge für Ihre Buchung erhalten Sie nach der Anmeldung. Im Anschluss an die Tagung bieten wir eine Leserreise an, bei der verschiedene Sehenswürdigkeiten in Dresden und Meißen auf dem Programm stehen.
Das Anmeldeformular sowie nähere Informationen zu Tagung und Reise finden Sie auch auf unserer Internetseite www.christ-in-der-gegenwart.de. Unter der Telefonnummer +49 761 2717-259 können Sie gedruckte Anmeldeformulare anfordern und ebenfalls weitere Informationen erhalten. Sie erleichtern unsere Arbeit, wenn Sie sich online (www.christ-in-der-gegenwart.de) anmelden oder das ausgefüllte Formular postalisch zusenden an: Herder Reisen GmbH, Hermann-Herder-Straße 4, 79104 Freiburg oder per Mail an riegel@herder.de, per Fax an +49 761 2717-1259.