Der Judaist Johannes Heil im InterviewWas hilft gegen Antisemitismus?

Juden in Deutschland erleben vermehrt Hass, fürchten tätliche Angriffe. Was läuft falsch? Was hilft dagegen? Fragen an Johannes Heil, Rektor der Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg.

CHRIST IN DER GEGENWART: Die Öffentlichkeit ist aufgeschreckt über die Zunahme antisemitischer Vorfälle, die auch die soeben veröffentlichte Polizeistatistik belegt. Statistisch nicht erfasst werden kann die Veränderung im gesellschaftlichen Klima.

Johannes Heil: Es gibt in jüngster Zeit eine massive Enthemmung, was das antisemitische Reden beziehungsweise Hetzen gegen Juden betrifft. In der Forschung ging man immer davon aus, dass fünfzehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung zumindest einzelne Grundaussagen des Antisemitismus oder allgemein der Fremdenfeindlichkeit teilen. In der Öffentlichkeit waren diese Stimmen aber bis vor einigen Jahren kaum zu hören. Heute hat sich der Stammtisch globalisiert. Vorurteile und Judenhass sind auch nicht mehr nur in randständigen Medien zu finden, sondern treten oft offen zutage. Schmähbriefe werden mit vollständigen Absenderangaben geschickt. Sie können sich als Jude kaum mehr im Internet oder in sozialen Netzwerken bewegen, ohne dass sie auf Verschwörungstheorien bezüglich des Judentums oder auf direkte antisemitische Verleumdungen treffen.

Verändern die digitalen Medien letztlich mehr als nur die Form der Kommunikation?

Ich fürchte tatsächlich, dass kulturelle Kompetenzen wegbrechen oder zumindest nicht mehr richtig entwickelt werden. Dazu gehört vor allem die Fähigkeit, verschiedene Stimmen wahrzunehmen und Argumente zu gewichten. Für mich ist es durchaus plausibel, dass das auch etwas mit den digitalen Medien zu tun hat. Früher haben Kinder Bauklötze sortiert und dadurch womöglich eine Ahnung bekommen, wie man im Leben überhaupt Dinge ordnen kann. Wenn sie nur über einen Bildschirm wischen, lernt sich das vielleicht nicht so leicht. Stattdessen gibt man sich mit einfachen Antworten zufrieden und kreist letztlich nur um sich selbst. Dieser Trend zur Selbstgenügsamkeit, zur Selbstbezogenheit macht mir Sorge. Damit erstirbt ja auch der Sinn für das Religiöse. Da müssen wir wirklich aufpassen, dass wir uns nicht in persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklungschancen blockieren lassen.

Das betrifft den gesellschaftlichen Umgang insgesamt. Aber warum sind immer wieder speziell Juden das Ziel rassistischer Angriffe?

Weil sie gewissermaßen das eingeübte Beispiel für Ausgrenzung sind. Das Judentum mag sich seit der Antike noch so sehr gewandelt haben, aber es stand seiner Umwelt stets als Minderheit gegenüber. Das zeigt im Übrigen, dass es bei Antisemitismus in der Sache eigentlich gar nicht um das Judentum geht. Antisemitismus sagt vielmehr etwas über die Gesellschaft aus, in der er artikuliert wird. Es geht um Selbstdefinition: Man will das Mehrheitliche, das Hegemoniale positiv bewerten, und dazu wird das andere als negativ definiert. So etwas verläuft immer auf Kosten einer Minderheit.

Aber ist es nicht völlig irrational und absurd, dass deshalb „Jude“ als Schimpfwort auf Schulhöfen verwendet wird?

Wie gesagt: Dahinter steht kein erworbenes Wissen über Juden, es geht nicht einmal um das Judentum an sich. Stattdessen wird der Begriff völlig aus dem ursprünglichen Zusammenhang gelöst. Wenn jemand auf dem Schulhof die Hackordnung neu ordnen will, neue Grenzen ziehen will, benutzt er dazu Begriffe, die dafür funktionieren. „Jude“ und auch „Opfer“ erfüllen diesen Zweck. Sie bedeuten übersetzt: „Du gehörst nicht dazu.“ Wenn man so etwas als bloßes „Spiel“ betrachtet, verharmlost man es. Wenn ein jüdischer Schüler das mitbekommt, empfindet er es natürlich als massiven Übergriff, als Gewaltakt. Noch schlimmer wird die Sache, wenn sie nicht sanktioniert wird oder gar der Eindruck entsteht, die Gesellschaft nehme das hin. Bei der letzten Verleihung des Echo-Musikpreises an ein Rapper-Duo, das mit antisemitischen Texten provoziert, haben die Reflexionssysteme fast völlig versagt. Es ist einfach zu wenig, wenn man erst hinterher auf die Idee kommt, dass das keine Auszeichnung verdient.

Etwas Neues hierzulande ist der sogenannte importierte Antisemitismus. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, hat darauf hingewiesen, dass muslimische Flüchtlinge und Migranten oft aus Kulturen stammen, „in denen der Hass auf Juden und die Intoleranz ein fester Bestandteil sind“.

Das gibt es, ja, und es ist richtig, es so deutlich zu benennen. Wichtig ist aber auch, dass danach niemand pauschalisiert. Sie finden in diesen Ländern natürlich genauso Menschen, die die Wirklichkeit differenziert wahrnehmen. Das erleben wir hier an der Hochschule selbst mit muslimischen Studierenden. Positiv gewendet, könnte man daher sagen: Wir haben die Chance, dass sich bei uns, unter freiheitlichen Bedingungen ein europäischer, ein deutscher Islam entwickelt. Ein Islam, der die hiesigen Standards einer demokratischen Gesellschaft genauso akzeptiert, wie das die Kirchen und die jüdischen Gemeinden tun. Das Potenzial ist da.

Wie sehen Sie denn das Verhältnis der Kirchen zum Judentum?

Es hat da einen wunderbaren Prozess der Annäherung gegeben. Dies wurde zwar unglückseligerweise erst angestoßen nach 1945, als die Kirchen ihre Mitverantwortung an der Schoah, insbesondere deren Vorgeschichte, bekannten. Doch seither gab es eine ausgesprochen positive Entwicklung, die katholischerseits in der Erklärung „Nostra Aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils gipfelte: über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen. Insgesamt gab es einen unvorstellbaren Fortschritt bei der wechselseitigen Wahrnehmung und Anerkennung.

Das waren jetzt aber vor allem Erinnerungen. Ist der jüdisch-christliche Dialog auch heute noch ein Aktivposten?

Im Wesentlichen scheinen die Verantwortlichen begriffen zu haben, dass die Religionen heute im selben Boot sitzen. Der Raum des Religiösen in der Gesellschaft verändert sich, das heißt konkret: Das Bewusstsein für das Jenseitige, für das Heilige geht verloren. Dass es so etwas wie Religion gibt, nehmen viele Zeitgenossen nur deshalb wahr, weil sonntags die Geschäfte geschlossen haben – und darüber ärgert man sich. Das hat sich für mich beispielhaft an der Beschneidungsdebatte vor sechs Jahren gezeigt, als Sachargumente im Netz rasch von genereller Religionsschmähung überdeckt wurden. Damals war man auf jüdischer Seite auch sehr dankbar, die Kirchen im Einsatz für die Religionsfreiheit an der eigenen Seite zu wissen. Was den jüdisch-christlichen Dialog und auch den Trialog vor Ort angeht: Da ist es tatsächlich eine bleibende Aufgabe, immer wieder für die nötige Dynamik und Qualität zu sorgen.

Inwiefern?

Ich gebe Ihnen zwei Beispiele. Es gab Ende 2015 und dann 2017 Erklärungen orthodoxer Rabbiner, in denen erstmals die Christen als Partner bezeichnet wurden. Die Dokumente wurden letztes Jahr Papst Franziskus überreicht. Diese Erklärungen kann man vor dem Hintergrund der Geschichte nur als revolutionär bezeichnen: Erstmals äußern sich nicht nur die immer schon dialogorientierten liberalen Juden über die Christen, sondern orthodoxe Rabbinerkonferenzen definieren eine Haltung zum Christentum und äußern den Wunsch nach Zusammenarbeit. Doch vielerorts, selbst in manchen Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit, sind diese Texte gar nicht bekannt. Man sieht deshalb auch nicht den Ertrag des Dialogs.

Und das zweite?

Das ist ein Negativbeispiel. Während wegweisende Äußerungen wie jene der orthodoxen Rabbiner vor Ort vielfach untergehen, kursieren in den Gemeinden andere, fragwürdige Dokumente wie etwa das „Kairos-Papier“ palästinensischer Christen von 2009. Es setzt sich kritisch mit der israelischen Besetzung der Palästinensergebiete auseinander, deutet diese theologisch und erhebt politische Forderungen. Aus der Sicht der palästinensischen Christen mag eine solche Wortmeldung verständlich und auch diskutabel sein. Dass aber das „Kairos“-Dokument vom Ökumenischen Weltrat der Kirchen übersetzt und verbreitet wird, dass man es sich gewissermaßen zu eigen macht, kann ich nicht nachvollziehen.

Bei dem zweiten Beispiel spielt der Nahost-Konflikt hinein. Da tun sich die verschiedenen Flügel in der Kirche auffallend schwer. Man findet kaum eine differenzierte Position. Warum ist das so?

Ich will den Kirchen nicht reinreden, wie sie mit ihren Flügeln umgehen sollen. Aber manchmal wünscht man sich schon, dass die Dinge differenzierter betrachtet werden. Oft trägt man theologische Argumente allzu schnell in politische Zusammenhänge hinein und beansprucht eine unglaubliche Deutungshoheit. Einseitigkeiten finden sich dabei tatsächlich in alle Richtungen. Es gab etwa bis in die achtziger Jahre hinein kirchliche Positionen, die mit dem Staat Israel fast so etwas wie Heilserwartungen verbunden haben. Das musste fast zwangsläufig zu Enttäuschungen führen. Heute gibt es eher das Gegenteil. Bei manchen Äußerungen der kirchlichen Friedensbewegung Pax Christi frage ich mich schon, ob man sich da von der Israel-Boykott-Bewegung vereinnahmen lässt. Ein anderes Feld sind die Verhandlungen des Vatikan mit den Piusbrüdern. Diese Gruppierung lehnt ja „Nostra Aetate“ nach wie vor ab. Es wäre hilfreich, wenn es da eine deutliche Klarstellung seitens des Vatikan gebe, dass dieses Dokument nicht mehr verhandelbar ist.

Zurück zum Ausgangspunkt unseres Gesprächs. Was hilft gegen Antisemitismus?

Bildung, Bildung, nochmals Bildung. Ich spreche mich für eine Bildungsoffensive auf allen Ebenen aus. Allen muss klar sein, dass sich diese Gesellschaft verändert, sich pluralisiert. Da braucht es wechselseitige Lernprozesse von allen Seiten. Verschiedenheit darf nicht von vorneherein als etwas Negatives gesehen werden – sonst klappt es mit der Pluralität nicht. Wir haben in Deutschland, in der Mitte Europas, immer noch die Chance, nicht die Fehler zu machen, die andere schon gemacht haben. Wir haben zum Beispiel nicht die Frontstellungen, wie es sie in den Vorstädten in Frankreich gibt, wo man die Dinge nur schwer wieder einholen kann. Wir haben noch die Möglichkeit, dies anders zu gestalten. Das aber ist nicht allein Aufgabe der Politik. Wir alle müssen unser Land gestalten. Das fängt wirklich bei jedem Einzelnen an. Die Verantwortung dafür kann man nicht abschieben an die Politik, die Gewerkschaften, die Kirchen… Die Selbstverantwortung jedes Einzelnen für die Gesellschaft ist der entscheidende Schlüssel.

Das Gespräch führte Stephan Langer.

(Das vollständige Interview finden Sie hier)

Johannes Heil

Der Historiker Johannes Heil wurde 1961 in Frankfurt / Main geboren. Nach der Promotion in Frankfurt bei Johannes Fried habilitierte er sich in Berlin am Zentrum für Antisemitismusforschung bei Wolfgang Benz. Dies ist auch sein wissenschaftlicher Schwerpunkt; neben der Beziehungsgeschichte von Christen und Juden seit der Spätantike bis heute. Johannes Heil ist Mitglied der Arbeitsgruppe Judentum der Ökumene-Kommission der deutschen Bischofskonferenz. 2005 wurde er an die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg berufen, deren Rektor er seit 2013 ist. Das Haus wird getragen vom Zentralrat der Juden in Deutschland und der öffentlichen Hand. Derzeit studieren hier 110 junge Leute aus 14 Nationen.

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