Fußball ist groß. Wie groß, das war erst vor einigen Wochen wieder zu beobachten. Die deutschen Nationalspieler Ilkay Gündogan und Mesut Özil hatten sich mit Recep Tayyip Erdogan fotografieren lassen. „Für meinen Präsidenten, hochachtungsvoll“, schrieb Gündogan sogar auf das Trikot, das er dem türkischen Staatschef schenkte.
In anderen Zusammenhängen hätte man das Ganze wohl mit dem Hinweis auf das unzulängliche politische Bewusstsein zweier junger Leute abtun können. Doch das geschah gerade nicht: Die öffentliche Aufregung war riesig. Über Parteigrenzen hinweg tadelten Politiker die Foto-Aktion der beiden Starkicker, selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier wurde eingeschaltet. Und nicht nur Boulevardmedien diskutierten, ob Özil und Gündogan überhaupt zur Weltmeisterschaft nach Russland mitfahren dürften. Viele fragten, ob die Spieler wirklich mit voller Überzeugung zu Deutschland stehen.
Der Vorgang macht deutlich: Fußball ist eine Angelegenheit von höchster Wichtigkeit, von nationaler Bedeutung. Um es mit dem „Spiegel“-Journalisten Lothar Gorris zu sagen: „Man sollte die Kraft des Spiels nicht unterschätzen, erst recht nicht, wenn es das einzige nationale Heiligtum zu sein scheint, das in diesen wilden, unruhigen Zeiten übrig geblieben ist und auf das sich alle einigen können.“
„Ist Fußball politisch?“, fragte unlängst die Landeszentrale für politische Bildung in Freiburg bei einer Diskussionsveranstaltung. Das war rhetorisch gemeint, eher als These, weniger als Frage. Aber man muss es vielleicht ein wenig anders formulieren: Fußball ist und bleibt ein Spiel, bleibt Sport. Daher hat er zunächst einmal nichts mit Politik zu tun.
Das letzte große Lagerfeuer
Doch Fußball ist eben nicht irgendein Spiel, sondern eines, das unzählige Menschen fasziniert, egal wie alt sie sind, wo und wie sie leben. „König Fußball regiert die Welt“, hatte 1974 die deutsche Weltmeister-Mannschaft gesungen. Von dieser Regentschaft, um das Bild aufzugreifen, wollen etliche profitieren, gerade auch diejenigen, die – anders als „König Fußball“ – tatsächliche Regierungsverantwortung tragen. Staaten reißen sich darum, eine Weltmeisterschaft auszutragen, um ihr Image aufzubessern. So ließ es sich Deutschland 2006 einiges kosten, die WM-Endrunde als „Sommermärchen“ zu inszenieren. Die Welt sollte erfahren, dass man hierzulande „zu Gast bei Freunden“ sein kann. Inwieweit für die WM-Bewerbung sogar Regeln und Gesetze gebrochen wurden, wird derzeit juristisch geklärt. Aktuell hofft Wladimir Putin, dass die negativen Schlagzeilen über Russland – unter anderem wegen der Annexion der Krim, der Parteinahme im Syrien-Krieg – vom Glanz des Turniers überstrahlt werden. Und so kommt dem Fußball, ähnlich wie Olympia, am Ende doch eine politische Dimension zu, er kann zum Gegenstand von Politik werden. Heute diskutiert man: Darf man in Russland antreten? Oder vier Jahre später in Katar? Oder müsste man nicht ein Zeichen setzen und zuhause bleiben – der Menschenrechte wegen?
Fußball wird – bewusst oder unbewusst – mit Bedeutung aufgeladen. Der Skandal um Özil und Gündogan war ja gerade deshalb ein solches Politikum, weil er mitten in der aufgeheizten Debatte um Integration und Identität hierzulande aufkam. Er traf den Deutschen Fußball-Bund (DFB) an einem wunden Punkt. Denn seit einigen Jahren wird einiges unternommen, um „die Mannschaft“ – unter dieser Marke firmiert das Nationalteam neuerdings – als fröhlich-bunte Multikultitruppe darzustellen. Die Geschichte, die so erzählt werden soll, lautet: „Unsere“ Spieler mögen ihre Wurzeln überall auf der Welt haben – sobald sie den Deutschland-Adler auf der Brust tragen, sind sie ein tolles Team, das Großes schaffen kann. Letztlich geht es sogar um ein noch größeres Narrativ, nämlich nicht nur um den Erfolg auf dem Rasen, sondern in dieser Gesellschaft überhaupt. Die Botschaft soll in etwa lauten: „Jeder kann es hier schaffen, jeder bekommt seine Chance. Die Jungs von ‚der Mannschaft‘ machen es vor.“ Aber lädt man dem Fußball mit solch einer Erzählung nicht eine zu große Verantwortung auf? Muss das nicht scheitern? Das Bild hat jedenfalls Risse bekommen.
Wenn man dagegen dem nachgeht, was Sport realistischerweise ist und leisten kann, bleibt immer noch eine Menge übrig. Zweifellos kann er Menschen zusammenbringen. DFB-Präsident Reinhard Grindel formulierte es im Interview mit der Monatszeitschrift „Politische Meinung“ so: Fußball ist „in der globalisierten und digitalisierten Welt das letzte große Lagerfeuer, um das sich alle Schichten der Gesellschaft versammeln“.
Gerade jungen Leuten kann ein Mannschaftssport wie Fußball Werte vermitteln, vor allem wenn sie ihn selbst betreiben. Der frühere Fernsehmoderator Marcel Reif schreibt in seinen überaus lesenswerten Erinnerungen „Nachspielzeit“ (Köln 2017): „Ich würde nicht pauschal behaupten, dass jeder Sport eine Schule fürs Leben ist, die Egoismen in Individualsportarten können draußen eher schädlich sein. Aber was man lernt, wenn man in einer Mannschaft steht, das bleibt.“ Kinder, die mit Einwanderern im selben Team spielen, entwickeln ein Gefühl dafür, in erster Linie den Menschen zu sehen, den Mitspieler. „Alle Menschen sind gleich. Großer Satz“, so Marcel Reif: „Aber in einer Mannschaft beginnt er zu leben… Wenn man den Ball im Mittelfeld verliert und hinten steht einer und bügelt das aus – das sind Momente von Solidarität, die vergisst man nicht, vielleicht vergisst man sie nie.“
Rettung auf dem Rasen
Es ist berührend zu lesen, wie Reif die verbindende Kraft des Fußballs selbst erfahren hat. Geboren in Polen, sein Vater Jude, zog die Familie zunächst nach Israel, dann nach Kaiserslautern. Dort war der junge Marek, wie er eigentlich heißt, zunächst sehr unglücklich: Obwohl er acht Jahre alt war, musste er in die erste Klasse zu den Sechsjährigen gehen. Und selbst die sollte er noch wiederholen, weil er zu wenig von der deutschen Sprache verstand. „Meine Rettung war – und ich sage dieses sehr bewusst – der Fußball. Rettung. Jedes andere Wort wäre zu schwach“, erinnert sich der heute 68-Jährige. Marek konnte gut Fußball spielen. „Zu behaupten, dass der Ball mir damals schon gehorcht hätte, wäre maßlos übertrieben. Aber anderen gehorchte er weniger. Alle wussten, es war besser, mich in der Mannschaft zu haben.“ So erlebte der unglückliche Junge, dass er wichtig war, angenommen wurde – auch wenn er sonst Schwierigkeiten hatte. „Wer in der Schule abgelehnt wird, für den ist der Fußballplatz wie ein Erholungsheim, in dem er all das erlebt, was er sonst nur herbeisehnt.“
Vermutlich ist es groß und wertvoll genug, sich immer wieder dieser sozialen Funktion des Sports zu erinnern. Alle weitergehenden Versuche, die Faszination des Fußballs zu entschlüsseln, können nicht wirklich überzeugen oder sind sogar widerlegt worden. So sagen manche, der Fußball sei deshalb derart beliebt, weil die Regeln so einfach sind und jeder irgendwie kicken und mitreden kann. Im Zweifel werden schon zwei Jacken, die man auf den Boden legt, zum Tor. Und auch einen Ball braucht es nicht, notfalls spielt man mit Tannenzapfen oder einer zusammengeknüllten Zeitung. Doch müsste, wenn das stimmt, nicht zum Beispiel auch Tauziehen unheimlich populär sein? Da versteht auch jeder, worum es geht, das Sportgerät ist ähnlich einfach. Doch die Tauzieh-Weltmeisterschaft – ja, die gibt es wirklich – wird nicht live im Fernsehen übertragen. Und bei allem Respekt: Selbst wenn das der Fall wäre, würden wohl nicht Millionen Menschen einschalten.
Andere meinen, die Popularität des Fußballs liege an der Spannung. „Die Leute gehen ins Stadion, weil sie nicht wissen, wie es ausgeht“, hat Sepp Herberger, deutscher Weltmeister-Trainer von 1954, einmal gesagt. Aber ist dies heute wirklich noch gegeben? Bayern München ist gerade mit einem Vorsprung von 21 Punkten auf den Zweitplatzierten deutscher Meister geworden. 21 Punkte! Das bedeutet: Theoretisch hätten sie an sieben Spieltagen gar nicht erst antreten müssen und wären trotzdem vorne gewesen. In anderen Ligen sieht die Tabelle ähnlich aus, und auch bei einer Weltmeisterschaft läuft es vergleichbar ab. Oder zweifelt jemand daran, dass am Ende einer der üblichen Verdächtigen den Titel holt? Deutschland, Brasilien, Spanien, Argentinien …
Der spielende Mensch
Hat die Faszination für den Fußball vielleicht doch Gründe, die komplexer sind, tiefer gehen? Im aktuellen „Philosophie Magazin“ erklärt der Philosoph Wolfram Eilenberger, der Sport sei gewissermaßen eine Metapher für das Leben. Im Sport hänge beispielsweise vieles vom Zufall ab. Genau das aber habe „sehr viel mit dem Drama zu tun …, als Mensch zu existieren.“ Fußball mache deshalb deutlich, dass der Mensch „ein Geworfener“ sei. Ja mehr noch: Fußball bringe „alle anthropologischen Grundfragen“ zur Sprache: „Was ist der Mensch? Wie ist ein Einzelner mit seiner Gemeinschaft verbunden?“
Steckt all das wirklich im Fußball drin? Oder ist dieser Ansatz nicht doch zu gekünstelt? Ähnlich wie die These, das Treten als menschliche Grundkonstante zu begreifen, beginnend mit dem Embryo, der sich auf diese Weise im Mutterleib bemerkbar macht. Wenig überzeugend sind auch die sexuellen Lesarten des Fußballs. Ein Tor im Traum sei das Symbol für die Vagina, heißt es im esoterisch angehauchten „Lexikon des Unbewussten“: „Ein Tor schießen bedeutet Sex machen und Spaß daran haben.“
Solche Überlegungen scheinen müßig und führen jedenfalls zu keiner zufriedenstellenden Antwort. Letztlich kann all das die Faszination des Fußballs nicht erklären. Er bleibt, theologisch gesprochen, ein Geheimnis. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, schrieb Friedrich Schiller. Nun ist Fußball sicher kein „heiliges Spiel“, wie Romano Guardini die Liturgie bezeichnet hatte. Aber womöglich hat er, in Abstufungen, Anteil daran? Die Sprache deutet darauf hin: Vom „totalen Fußball“ schwärmen seit den siebziger Jahren die Fußball-Romantiker, vom perfekten Spiel.
Kommerz und Zuversicht
Dieser Glutkern des Fußballs ist heute massiv bedroht. Das wurde in den Medien zuletzt hinlänglich beschrieben. Die Kommerzialisierung ist vielleicht die größte Gefahr. Das begehrte Gut wird finanziell immer mehr ausgepresst: noch mehr Spiele, noch mehr Fernsehübertragungen … Auch die Gewalt wird der Fußball nicht los, vielleicht weniger in der ersten und zweiten Liga, aber verstärkt in den Amateurklassen. Hat das wirklich gar nichts mit dem Fußball zu tun? Dann sind da noch die Themen Doping, der psychische Druck auf die Spieler, das Männerbündische, der nach wie vor verbreitete Schwulenhass, auch der Rassismus.
Weniger schlimm scheint dagegen die Bedrohung, dass Menschen den Fußball allzu wichtig nehmen. Kirchenleute warnen gerne davor, dass Fußball zur Ersatzreligion werde. Aber ist das wirklich ein reales Problem? Da möchte man mit Margot Käßmann antworten: „Wenn ich nicht weiter weiß oder krank bin und sterbe, hält mir dann der FC Schalke die Hand, tröstet und begleitet mich? Da verlasse ich mich doch lieber auf den Gott der Bibel, der bei mir ist in guten und in schlechten Zeiten.“ Man darf annehmen, dass die meisten Menschen das am Ende ebenso sehen.
Die anderen Herausforderungen wie etwa die Kommerzialisierung scheinen drängender. Der Fußball läuft tatsächlich Gefahr, seine Seele zu verlieren, weil Funktionäre ihn immer mehr ausschlachten wollen. Bislang hat das „große, große Spiel“, so Freiburgs Trainer Christian Streich, zwar stets sein Geheimnis bewahren können. Aber Marcel Reif warnt in seinem Buch wohl nicht zu Unrecht vor den Geschäftemachern mit ihrer Profitgier: „Sie machen das ganz offenbar immer so weiter, die drehen an der Schraube und drehen und drehen.“ An dieser Stelle falle ihm immer ein alter Handwerkerspruch ein, so Reif: „Nach fest kommt ab – wenn die Schraube überdreht ist, bricht sie.“ Diese Gefahr ist heute mit Händen zu greifen. Genauso real ist aber auch die Zuversicht: „Die Verbrecher in den Verbänden können sich anstrengen, wie sie wollen. Der Fußball wird stärker sein. Der Fußball kann Menschen retten.“ Es ist zu hoffen, dass Marcel Reif Recht behält.
Hinweis: In einer früheren Version des Artikels hieß es - wie in anderen Medien auch-, dass Ilkay Gündogan die doppelte Staatsbürgerschaft hat. Inzwischen hat der DFB erklärt, dass dies nicht der Fall ist.