Das hier abgebildete Gemälde (Foto in Printausgabe; Anmerk. der Red.) „Grenzen des Verstandes“ (1927, Öl, Wasserfarben und Bleistift auf weiß grundierter Leinwand) deutet an, was den Künstler Paul Klee (1879–1940) seinerzeit am meisten beschäftigt hat: Während an seiner Hochschule zunehmend der technische Fortschritt und die Industrialisierung als Motoren einer neuen Gesellschaft gefeiert wurden, setzte Klee auf Spiel, Intuition und künstlerische Begabung. Altmodische Leitern in gefährlichem Übereinander stehen im gezeigten Werk auf einem durchsichtigen Gebilde perspektivischer Linien. Sie erinnern an Drähte für Strom und Telefonleitungen, wie sie seit den zwanziger Jahren immer mehr in die Landschaft wuchsen. Die in der Mitte zusammenlaufenden und auseinanderstrebenden Linien entsprechen den grafischen Darstellungen, mit denen damals die Pioniere des Rundfunks und des Fernsehens ihre Erfindungen veranschaulichten. Wo führt das hin?
Die Frage, wohin uns Radio und Fernsehen seit 1927 geführt haben, konnte der Künstler damals noch nicht stellen. Er ließ die neueste Technik im unteren Bildteil, die Leitern sind darüber. Aber auch sie erreichen den Kreis oben nicht. Bisher wurde das Gemälde sozusagen in Schwarz-Weiß besprochen, als ob es eine Bleistiftzeichnung wäre. Aber die gesamte Bildfläche ist farbig moduliert, die Linien in Rot und Blau differenziert. Die Farben des Grundes sind mit Bürste und Sieb aufgespritzt, deshalb verteilen sie sich konturlos wie Dunstwolken zwischen einem blassen Blau und Gelbrot. Der Kreis oben in dunklem Braunrot wirft einen blaugrauen Schatten. Die volle Kreisform stellt gerade im Kontrast zu den dünnen Linien etwas Vollkommenes dar, das uns unzugänglich und verborgen ist.
Der Kunsthistoriker Christoph Wagner hat den „Grenzen des Verstandes“ ein schwerwiegendes Kapitel gewidmet. Es findet sich in dem prächtigen Katalog (2,5 kg, ein Schlussstein der Klee-Exegese?) zur derzeitigen Ausstellung „Konstruktion des Geheimnisses“ in der Münchner Pinakothek der Moderne (bis 10. Juni). Wagner deutet die beiden Strahlenbündel als Augen und verweist auf die den Künstler faszinierenden Veröffentlichungen des Schweizer Musikwissenschaftlers und Philosophen Hans Kayser („Orpheus“, 1926; „Vom Klang der Welt“, 1937). Kayser hatte in der Nachfolge des Pythagoras (580–500 v. Chr.) aus Kristallografie und Musikanalyse eine „Harmonik“ entwickelt: Zahlenverhältnisse bestimmen das Sein. Er schrieb: „Alle Versuche, die Probleme der Natur zu lösen, sind eigentlich nur Konflikte der Denkkraft mit dem Anschauen.“ Auf unser Bild übertragen heißt das, die mathematischen Verhältnisse in dem Linienfeld unten weisen auf „Denkkraft“, Berechnung, Rationalisierung, Technik und Industrie hin. Sie erschienen Paul Klee als Grundlage, über die hinaus wir nur mit der schwankenden Leiter der Intuition in die Nähe des verborgenen Vollkommenen gelangen.
1927, als Klee an diesem Bild arbeitete, löste der Schweizer Architekt Hannes Meyer Walter Gropius als Direktor des Bauhauses ab. Meyer erklärte: „Die Grundtendenz meines Unterrichts wird absolut eine funktionell-kollektivistisch-konstruktive sein.“ Das konnte dem Individualisten Klee nicht gefallen. Darum wies er auf „Grenzen des Verstandes“ hin und verließ die Schule. Sechs Jahre später, 1933, fiel das Bauhaus, das eine rationale Bewältigung der Welt erstrebte, einem Ausbruch irrationaler Gewalt, der das ganze Deutsche Reich erfasste, zum Opfer, einer Gewalt, die sich die fortschrittlichsten Mittel der Technik zunutze machte, um so viele Menschen wie möglich zu töten.
Der Maler Paul Klee ist 1879 in Münchenbuchsee bei Bern als Sohn eines Musiklehrers und einer Sängerin geboren. Die Eltern führten ihn zur Musik. Klee wurde ein hervorragender Violinist. Die Großmutter lehrte ihn das Zeichnen. Wie Franz Marc und Rembrandt Harmensz van Rijn war er Calvinist. Nach einem besonders schlechten Abitur ging er nach München, um in der Zeichenschule von Heinrich Knirr Kunst zu studieren – weil die Akademie ihn nicht aufnahm.
Drei Reisen prägten ihn: 1901 nach Italien, 1912 nach Paris, 1914 nach Tunesien. Als Maler, die ihn besonders beeindruckten, nannte er Paul Cézanne, Henri Matisse, Robert Delaunay. Freundschaft schloss er mit August Macke, Wassily Kandinsky und Franz Marc. Nach langer Verlobungszeit heiratete er 1906 die Pianistin Lily Stumpf. Ihr Honorar für Klavierstunden war lange Zeit die Haupteinnahme des jungen Haushalts in München. 1907 kam der Sohn Felix zur Welt (gestorben 1990). 1916 musste Paul Klee zum Kriegsdienst, den er bei den Fliegern in Schleißheim bei München und Gersthofen bei Augsburg verbrachte.
1920 wurde er von Walter Gropius an das Bauhaus in Weimar berufen. Dort war er bis 1926, danach in Dessau tätig. 1929 wechselte er an die Kunstakademie in Düsseldorf. 1933 aus dem Staatsdienst entlassen und als „entartet“ verfemt, emigrierte er in die Schweiz und fand im Haus der Eltern in Bern Zuflucht für sich und seine Familie. 1940 starb er in einer Klinik in Locarno.
Schöpferisches Tun, rational begründet
Seine Lehraufträge veranlassten Paul Klee, seine Vorträge schriftlich niederzulegen. Er veröffentlichte 1923 „Wege des Naturstudiums“ und 1928 „Exakte Versuche im Bereich der Kunst“. Dort lauten die ersten Zeilen: „wir konstruieren und konstruieren und doch ist intuition immer noch eine gute sache. man kann ohne sie beträchtliches, aber nicht alles, man kann lange tun, mancherlei und vielerlei tun, wesentliches tun, aber nicht alles.“ Sein Nachlass, der neben Gemälden und Zeichnungen seine Vortragsmanuskripte enthält, wird im Zentrum Paul Klee in Bern verwahrt.
Klee, der sich selbst 1919 einmal als „Geige spielenden Träumer“ bezeichnete, war ein systematischer Arbeiter, der sich um rationale Begründungen seiner schöpferischen Tätigkeit bemühte. Einige Sätze Klees aus dem von Kasimir Edschmid 1920 herausgegebenen Band „Schöpferische Konfession“ kennzeichnen die Situation der modernen Kunst, Klees Eigenart und die Verwandtschaft von Malerei mit Musik, die auch für Kandinsky, Marc und den Musiker Arnold Schönberg wichtig war.
„Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar…“ Ein Satz, der für Rubens und Rembrandt ebenso gilt wie für Klee, Picasso und Kandinsky, den man aber vor allem zur Verteidigung der modernen Malerei, die auf Abbildung verzichtet, immer wieder braucht.
Weiter heißt es: „Entsteht vielleicht ein Bildwerk auf einmal? Nein, es wird Stück für Stück aufgebaut, nicht anders als ein Haus. Und der Beschauer, wird er auf einmal fertig mit dem Werk? (Leider oft ja.)“
„Kunst verhält sich zur Schöpfung gleichnisartig. Sie ist jeweils ein Beispiel, ähnlich wie das Irdische ein kosmisches Beispiel ist.“
„Die Freimachung der Elemente, ihre Gruppierung zu zusammengesetzten Unterabteilungen, die Zergliederung und der Wiederaufbau zum Ganzen …, die bildnerische Polyphonie, die Herstellung der Ruhe durch Bewegungsausgleich, all dies sind hohe Formfragen, ausschlaggebend für die formale Weisheit, aber noch nicht Kunst im obersten Kreis. Im obersten Kreis steht hinter der Vieldeutigkeit ein letztes Geheimnis, und das Licht des Intellekts erlischt kläglich.“
Diese Zeilen weisen nicht nur durch den musikwissenschaftlichen Ausdruck „Polyphonie“, also Vielstimmigkeit, auf die Verwandtschaft seines Schaffens mit der Musik. Sie sind auch auf die Analyse einer Sonate oder eines Quartetts anzuwenden. Paul Klee spielte oft Streichquartett, in München unter anderem mit dem Großonkel des Verfassers, Fritz Stubenvoll. Er musizierte nicht nur selbst, sondern hörte auch kritisch zu. Von 1903 bis 1912 schrieb er Musik- und Kunstkritiken für Schweizer Zeitungen. Über die „Tannhäuser“-Aufführung in Bern am 13. November 1904 notierte er: „Der Frauenchor sang mit auserlesener Falschheit; beim Aufzug der Gäste zeigte er sich auch rhythmisch unzuverlässig.“
An anderer Stelle heißt es bei Klee: „Die Kunst spielt mit den letzten Dingen ein unwissend Spiel und erreicht sie doch!“ Zu den letzten Dingen, mit denen sich Paul Klee in seinen letzten Lebensjahren beschäftigte, gehören die Engel (vgl. CIG Nr. 9/2013, S. 98). Mehr als hundert Mal hat er Engel gezeichnet, und auch sein letztes Bild zeigt einen Engel. Ob seine Kunst die letzten Dinge erreicht hat, kann der Betrachter nur für sich, subjektiv, entscheiden. „Auf Mensch! Schätze diese Villeggiatur (den erholsamen Landausflug; d. Red.), einmal den Gesichtspunkt wie die Luft zu wechseln und dich in eine Welt versetzt zu sehen, die ablenkend Stärkung bietet für die unvermeidliche Rückkehr zum Grau des Werktags.“