CHRIST IN DER GEGENWART: Angesichts der politischen Lage in Russland und der Rolle, die das Land augenblicklich in der Welt spielt, liegt nichts ferner als der Gedanke an ein fröhliches Mega-Event ausgerechnet dort. Darf der Fußball all die Missstände ausblenden, Herr Reif?
Marcel Reif: Dass es im Zusammenhang mit Russland Probleme auf vielen Ebenen gibt, ist kein Geheimnis, und das war es auch nie. Von daher ist es ungehörig und ein Stück weit heuchlerisch, wenn all das genau jetzt thematisiert wird. Wie soll der Fußball Dinge beheben, die die Politik nicht lösen konnte? Gerade auch von den Spielern kann man nicht verlangen, dass sie das richten, was die Fifa mit der Vergabe des Turniers an Russland verbrochen hat. Man kann nur hoffen, dass die Weltöffentlichkeit genau hinschaut – und zwar gerade auch auf die Zustände jenseits der Stadien.
Die Fifa finanziert sich vor allem über die Fernseh-Übertragungsrechte. Wer als Fußball-Fan jetzt einschaltet, unterstützt damit also ein mehr als fragwürdiges System. Der Schriftsteller Ilija Trojanow ruft deshalb dazu auf, kein einziges Spiel anzuschauen. Trotzdem werden wir wohl alle wieder vor dem Fernseher sitzen, oder?
Fußball ist das Spiel dieser Welt. Von meinen Reisen habe ich dazu viele Bilder im Kopf. In Peru habe ich einen Fußballplatz auf 5000 Metern Höhe gesehen: ein holpriger Lehmboden, vier Steine markierten die Tore. Auf den Malediven wiederum ist mir ein Platz begegnet auf minus eins Höhenmeter, die Tore mit drei wackligen Holzstangen zusammengezimmert. Es wird auf dieser Welt immer und überall Fußball gespielt. Und deshalb bin ich auch überzeugt: Die Verbrecher in den Verbänden können sich anstrengen, wie sie wollen. Der Fußball wird stärker sein.
Was macht die Faszination des Fußballs aus?
Da gibt es unzählige Erklärungsversuche. Ich bevorzuge diesen: Beim Fußball kann man sich als erwachsener Mensch immer noch wie ein Kind gebärden, es hat etwas Spielerisches. Und das gilt auch heute – trotz all dem, was an Nebengeräuschen und auch an absurden Entwicklungen zu verzeichnen ist. Fußball ist immer noch ein Spiel der großen Jungs, die sich benehmen wie die kleinen Jungs.
Wie kamen Sie selbst zum Fußball?
Ich habe das sehr früh verinnerlicht. Ich weiß noch, wie ich mit meinem Vater bei uns im Garten gekickt habe. Und dann, schon mit vier oder fünf Jahren, hat er mich zu einem Fußballspiel nach Warschau ins Stadion mitgenommen. Das habe ich nicht vergessen: Wir fuhren mit seinem Motorrad. Ich saß vorne auf dem Tank, weil ich hinten Angst hatte.
Sie sind in Polen geboren. Ihre Familie ging nach Israel, schließlich nach Deutschland, nach Kaiserslautern. Dort, so sagen Sie, hat der Fußball Sie „gerettet“ (vgl. CIG Nr. 22, S. 239), weil Sie sich als Junge, der gut kicken konnte, überhaupt erst integrieren konnten. Später die große Karriere als Sportjournalist, Sie haben sogar den Grimme-Preis erhalten.
Der Fußball hat mir ein schönes Leben ermöglicht. Und es ist ein großartiges, aufregendes Leben, Kommentator zu sein. Ich habe aber auch etwas dafür getan. Ich habe das, was ich gemacht habe, ernstgenommen.
Die Fans spüren, dass im großen Ganzen etwas aus dem Ruder läuft, und dann machen sie es fest am Reporter. An wen sollen sie sich sonst halten?
Doch irgendwann ist das gekippt. Sie haben sich vor zwei Jahren von Ihrer großen Leidenschaft verabschiedet, zumindest vom Reporter-Leben fürs deutsche Fernsehen. Warum?
Das war ein Prozess. Pöbeleien gab es rund um den Fußball immer. Aber der Übergang von Sprüchen zur Androhung von Gewalt, zu diesem Zusammenrotten, das hat eine neue Qualität. Dass da etwas gekippt ist zwischen dem Publikum und mir, das hat auch mit Facebook und Twitter zu tun. Es ist ja schon viel gesagt worden über soziale Medien, über die Anonymisierung von Äußerungen, über das gegenseitige Aufschaukeln in der Masse. Auch heißt es immer, dass jetzt die Benachteiligten oder die Abgehängten zu Felde zögen gegen die Privilegierten, die Eliten. Und vielleicht ist es ja so, dass ein Kommentator in den Augen von ein paar Leuten im Stadion auch ein Vertreter der Eliten ist, einer vom Bezahl-Fernsehen, die Stimme eines rein ökonomischen, kommerzialisierten Fußballs. Die Fans spüren, dass im großen Ganzen etwas aus dem Ruder läuft, und dann machen sie es fest am Reporter. An wen sollen sie sich sonst halten? Aber irgendwo hab ich aufgehört, das zu interpretieren und zu analysieren. Stattdessen habe ich für mich gesagt: Dieses Ausmaß an Hass, das kann ich nicht mehr. Das hat für mich mit Fußball nichts mehr zu tun.
Gibt es noch Fußball, den Sie gerne schauen?
Spaß macht mir die Schweizer Liga, wo ich inzwischen als Fernsehexperte arbeite. Da spielt sich alles noch in für mich fassbaren Dimensionen ab, sowohl ökonomisch als auch hinsichtlich des Brimboriums, was darum gemacht beziehungsweise nicht gemacht wird. Und ansonsten gucke ich meinen Söhnen gerne zu bei jeder Sportart, die sie ausüben, beim Fußball besonders.
Das Gespräch führte Stephan Langer.
Unter dem Titel „Nachspielzeit. Ein Leben mit dem Fußball“ hat Marcel Reif seine Autobiografie veröffentlicht, mit klugen Einschätzungen über den Fußball (Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017).