Auch Nichtglaubende, ja betonte Gottesleugner, Atheisten, sagen nicht selten von sich, sie seien „spirituell“. Auf dieses seltsame, vermeintlich widersprüchliche Phänomen hat der Erfurter Religionsphilosoph Eberhard Tiefensee hingewiesen. Er erklärt das so: Spiritualität sei „ein schwer abgrenzbares Phänomen, atheistische (Spiritualität) umso mehr“. Vielfach werde das Bedürfnis nach Spiritualität – auch bei Menschen, die nicht an Gott glauben – unterschätzt. „Im konfessionslosen Osten bezeichnet sich fast die Hälfte derer, die sich selbst als Atheisten deklarieren, als religiös oder spirituell“, so Tiefensee. Es sei nicht richtig, diejenigen, die über ihre atheistische Spiritualität zu sprechen versuchen, als Menschen mit „stammelnden Texten“ abzuwerten. Angesichts des letztlich Unsagbaren sei alle Theologie „Gestammel“.
„Spiritualität“ könne also auch jenseits religiöser Vorstellungen die Lebensqualität positiv beeinflussen, erklärte der Religionsphilosoph. Daher fordere zum Beispiel die Weltgesundheitsorganisation, Menschen auch mit ihren spirituellen Bedürfnissen wahrzunehmen: „Alle Menschen haben ein Recht, bei schwerer Krankheit eine hochqualifizierte Versorgung zu erhalten und auf einen würdigen Tod, frei von erdrückendem Schmerz und in Übereinstimmung mit ihren spirituellen und religiösen Bedürfnissen.“ Also auch da wird zwischen „Spiritualität“ und „Religiosität“ unterschieden.
Das Bedürfnis nach Spiritualität wird im Erziehungs- wie auch im Gesundheitswesen neuerdings stärker beachtet. Angestellte in diesen Bereichen müssten diese Bedürfnisse berücksichtigen. Vor allem in der Palliativmedizin gebe es ein wachsendes Interesse an „Spiritual Care“, also an einer spirituellen Versorgung. Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat bereits 2002 als Wunsch formuliert, dass die Uno-Mitgliedstaaten auch die spirituelle Entwicklung der Kinder fördern.