Ingeborg Bachmann-PreisAuf dem Altar der Worte

Die Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sind keine „Castingshow“, wie man sie sonst im Fernsehen kennt. Aber gewonnen wird auch hier: Geistiges.

In der Mitte der weißen „Literatur-Arena“ des ORF stand der Lesetisch, ein weißer Altar der Worte, wie aus großen gestapelten Buchseiten. Hier gaben die sieben Autorinnen und sieben Autoren ihren Texten einen Klang, setzten sich dann schweigend der manchmal harschen Kritik der siebenköpfigen Jury aus, die ihnen im Halbkreis gegenübersaß. Neben und hinter den Autoren das Volk, in heiligem Ernst die Texte mitlesend und stets gemeinsam raschelnd die Seiten umblätternd. Und an vielen Bildschirmen die Zuschauer der Live-Übertragung von 3Sat und ORF. Werden in Klagenfurt aufstrebende Autoren auf dem Altar der elitären Literaten-Unterhaltung geopfert? Der Ingeborg-Bachmann-Preis sei zwar die „Mutter aller Castingshows“, gab der Jury-Vorsitzende Hubert Winkels zu. Doch in Klagenfurt werden immerhin keine arglosen Teenager zu Popstars oder Supermodels verramscht.

Den Vorwurf, das Wettlesen gleiche einer jenseitig-weltvergessenen Liturgie, sei Selbstbeweihräucherung der elitären Literatenkaste abseits des Weltgeschehens, wollte man sich bei den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur eindeutig nicht machen lassen. So hielt der bekannte Schriftsteller Feridun Zaimoğlu am Eröffnungsabend eine leidenschaftlich politische Klagenfurter Rede: „Verlassen sind die Armen, verlassen sind die Frauen, verlassen sind die Fremden. Das böse Gerücht hat sie getötet. Sie, die wie die reife Gerste wuchsen, wurden mit der Sense gemäht.“ Zaimoğlu, Sohn türkischer Gastarbeiter, der seit seiner Kindheit in Deutschland lebt, erhielt 2003 den „Preis der Jury“ beim Bachmann-Preis.

Zaimoglus Polit-Rede

In seiner Rede mit dem Titel „Der Wert der Worte“ rief er zu mehr zwischenmenschlichem Verständnis in Zeiten der erstarkenden Rechten auf. „Die Armen erben den Besitz“, sagte Zaimoğlu in Anspielung auf die Bergpredigt. Die Rechten aber wollten ihren Besitz vor den Armen schützen und sagten: „Man muss sie aus unserer Welt schaffen, die Herumtreiber, das arbeitsscheue Pack, das Gesindel. Wer nichts leistet, gehört ausgejätet, er gehört ausgemerzt!“ Frauen wiederum lebten heute „in der größten Lüge des Mannes, dass es seine Bestimmung sei, zu führen, zu lenken und zu herrschen.“ Mädchen und Frauen ordneten sich unter, gäben sich mit dem Mittelmaß zufrieden. Trotzdem würden sie „belogen und gebrochen, sie werden belästigt und geschändet“, sagte Zaimoğlu. „Der Jammer des Reaktionärs über die dreiste Frau findet seinen Niederschlag in tausenden Seiten Literatur. Es jammern die Potentaten und die Generäle, es jammern die alten Säcke in den Schreibstuben und die Peniskrieger in den Ghettos.“ Insgeheim wünschten sie sich die Frau als „folgsame Magd“.

Auch die Fremden seien verlassen. Sie müssten Anpöbelung und Diskriminierung fremdenfeindlicher „Patrioten“ ertragen, würden als „Menschenmüll beschimpft“. Zaimoğlu kritisierte die politische Rechte. Einwanderer, Flüchtlinge seien in ihren Augen Geschöpfe dritten Ranges. Zaimoğlu forderte, für alle Menschen, gerade jene am Rand, einzutreten und den rechten Strömungen eine Absage zu erteilen: „Der Rechte ist kein Systemkritiker, kein Abweichler und kein Dissident, er ist vor allem kein besorgter Bürger. Wer die Eigenen gegen die Anderen ausspielt und hetzt, ist rechts… Es gibt keinen redlichen rechten Intellektuellen…, keinen redlichen rechten Schriftsteller.“ Er, Zaimoğlu, gebe nichts auf den Glanz der Geschichte einer Nation; stattdessen solle es viele Geschichten geben, wie in Klagenfurt. Hier werde geschrieben, gelesen, gekämpft, und man stehe bei den Verlassenen, den Unterdrückten.

Mit diesem leidenschaftlich politischen Auftakt entlastete Zaimoğlu die Auswahl der Texte und damit auch die Autoren. Sie mussten nicht, wie in manchen Jahren geschehen, aufdringlich politisierende oder moralisierende Texte vorlegen. Gleichzeitig diente Zaimoğlus Rede als Notenschlüssel, um in aller Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Lesungen das Ohr zu öffnen für die Momente, in denen sich „die Verlassenen“ in den Lesungen Gehör verschafften, in zumeist künstlerisch anspruchsvollen und literarisch überzeugenden Werken.

Petro und die demente Frau

Am Tag, nachdem Russland aus der Fußball-WM ausschied, gelang es einer Ukrainerin, der diesjährigen würdigen Bachmannpreis-Gewinnerin Tanja Maljartschuk, mit ihrer Kurzgeschichte „Frösche im Meer“ die Zuhörer zu fesseln. Der unaufdringliche wie absichtslose Text erzählt von den in Österreich und Deutschland oft „verlassenen Fremden“ wie auch von der Einsamkeit älterer, von ihren Familien vergessenen Menschen, ohne dabei etwa das Klischee vom „armen Flüchtling“ zu bedienen. Es ist eine Geschichte über verschiedene Arten von Einsamkeit, Fremdheit und über eine ungewöhnliche Freundschaft. Petro, ein Ukrainer, lebt allein in einer österreichischen Stadt. Seinen Pass hat er halb gegessen und halb in die Donau geworfen, er kann nicht zurück. Im „Froschpark“, in dem es keine Frösche gibt, arbeitet er als Parkkehrer. Dort trifft er Frau Grill, eine demente alte Frau. Die beiden verbindet ihre Einsamkeit. Frau Grill hat schon lange ihren Mann verloren. Petro fängt an, Frau Grill zu besuchen. Mit zärtlichen, leichten Worten, immer wieder mit sanfter Ironie erzählt Tanja Maljartschuk, wie die beiden einander das werden, was dem jeweils anderen fehlt. Frau Grill wird für Petro zu einer Art Mutterersatz, sie hält ihn in ihrer Demenz für ihren längst verstorbenen Ehemann Hans. „Frösche im Meer“ passt in eine Zeit, in der Menschen in Not als „Asyltouristen“ verunglimpft werden, Ertrinkende zu retten zum Verbrechen wird.

Petro hat gerade Frau Grills Bluse eingepackt, um sie zur Reinigung zu bringen. Da erhält er den Anruf: Seine Mutter ist tot. „Petro weinte leise, ohne Tränen, er wollte Frau Grill nicht ängstigen. Doch sie kam näher und drückte Petros Kopf an ihren Oberkörper. Ihre rissige Hand streichelte ihm über den Kopf, Libellen surrten, Frösche quakten.“ In diesem Moment kommen die Nachbarinnen mit der Polizei in die Wohnung, greifen Petro an. Das abrupte, offene Ende einer fast märchenhaften Erzählung. „Sehen Sie nur, was er in der Tasche versteckt hat! Ein Perverser!“ Wer den Verlassenen nahe sein will, macht sich verdächtig. Als Petro fünfzig Euro aus Frau Grills Brieftasche nahm, ertappten sich wohl auch viele Leser bei dem Gedanken: Jetzt beklaut er die alte Frau! Kurz darauf füllte er ihren Kühlschrank mit Einkäufen.

Wie ein Frosch im salzigen Meer, wo Frösche gar nicht leben können, fühlt sich Tanja Maljartschuk in Österreich manchmal noch, bekennt sie nach der Preisverleihung. Die Mittdreißigerin lebt seit 2011 in Wien, hat erst vor sieben Jahren begonnen, Deutsch zu lernen. Während der Euromajdan-Proteste 2014 stellte sie sich mutig gegen Russland mit dem Text „Russland, mein Russland, wie liebe ich dich“ in der „Frankfurter Allgemeinen“. Jetzt hat sie einen der wichtigsten Literaturpreise für deutschsprachige Texte gewonnen. „Alles ist eine Frage der Sprache.“ Unübersehbar war dieses Ingeborg-Bachmann-Zitat auf Transparenten in der Stadt und auf Liegestühlen im Garten des ORF-Theaters und zog sich wie ein roter Faden durch die Tage in Klagenfurt.

„MeToo“ umgekehrt

Gute Literatur, das wurde in den Diskussionen der Juroren immer wieder deutlich, zeichnet sich dadurch aus, dass sie keine Effekthascherei betreibt, nicht auf die Tränendrüse drückt, den Leser nicht zu erpressen oder zu belehren versucht. In „Der Nächste, bitte!“ lässt Corinna T. Sievers – die Autorin ist selbst Zahnärztin – eine Ich-Erzählerin medizinisch präzise, geradezu kühl beschreiben, wie sie ihre unkontrollierbare sexuelle Lust an männlichen Patienten bei deren Zahnbehandlung auslebt. Angesichts der „MeToo“-Debatten eine Provokation, die Rollen umzudrehen, mit der Frau als Täterin. Für die Jury waren diese Motive zu eindeutig bloß „eine Pose der Provokation“, letztlich doch eine pornografische Männerfantasie.

Die Neu-Jurorin Nora Gomringer ortete drei Motive: eine Gottesanbeterin, die Ärztin und die Heilbringerin. Sex habe zwar für manche heutzutage etwas Religiöses. Das Heil sei hier jedoch reduziert auf einen Moment, während das Heilige die Entgrenzung brauche, die dem Text fehle, meinte Insa Wilke, die zweite „Neue“ in der Jury. So kam der Text auch nicht auf die „Shortlist“ zur Abstimmung für die Preise.

Bei aller Transparenz des Wettbewerbs bleibt dieses juryinterne Verfahren der Reduzierung der vierzehn Texte auf eine Siebenerliste undurchsichtig. So hätte durchaus auch Martina Clavadetschers rhythmisch komponierte Erzählung „Schnittmuster“ in die Abstimmung kommen können. Eine tote Frau schildert darin, wie sie ihr Leben lang an ihrer Schönheit litt, schließlich vergewaltigt wurde und sich jetzt nach ihrem Tod fragt, wie sie ihrer Enkelin hätte weitergeben können, sich mehr zu wehren. Stattdessen gelangte etwa der von der Jury in der Diskussion durchaus als unklar eingestufte und mit vielen Rätseln behaftete Text über sechs Arten, mit Trauer umzugehen, „Warten auf Ava“, in die engere Wahl. Die Wanderin Ava befindet sich nach einem Unfall im Koma. Der Text schildert die für Familie und Freunde belastende Erfahrung zu warten, bis sie wieder zu Bewusstsein kommt. „Warten auf Ava“ gewann – auch zum Erstaunen der Schweizer Autorin Anna Stern – den 3Sat-Preis.

Vater – Söhne – Töchter – Mütter

Religiöse Anklänge, wenn auch von der Jury nur zurückhaltend so benannt, bot unter anderem die mit dem vom Deutschlandfunk gestifteten „zweiten Preis“ prämierte Kurzgeschichte „Serpentinen“, die durchaus des Bachmannpreises würdig gewesen wäre. Der als Kabarettist und Schriftsteller bekannte Bov Bjerg (Jahrgang 1965) erzählt eine berührende, motivreiche Vater-Sohn-Geschichte, die unter anderem die Frage verfolgt, wieviel von der eigenen Familiengeschichte und der Identität, auch von Schuld und Schmerz, der Vater dem Sohn weitergeben oder verheimlichen will.

Völlig zu Recht, wenn auch erst nach mehreren Stichabstimmungen der Jury, gewann die in Solingen geborene Özlem Özgül Dündar mit ihrem Text „und ich brenne“, der ohne Großbuchstaben, Punkt und Komma auskommt, den – vom Kärntner Energieversorger gestifteten – „Kelag“-Preis. Eine „unglaubliche, mörderische Sprachmaschinerie“, sagte Juror Stefan Gmünder, eine „Simulation der Mündlichkeit“.

Özlem Dündar lässt in ihrem Text vier Mütter sprechen. Wiederum redet hier eine Tote, nämlich eine von zwei Müttern, Großmutter und Tochter, die bei einem Brandanschlag gestorben sind. 25 Jahre nach dem Feuerattentat von Solingen, Özlem Dündars Geburtsort – 1993 war sie gerade zehn Jahre alt –, ist das vorherrschende Motiv des Feuers kein Zufall, obwohl der Text über Konkretes schweigt, von einem möglichen Verbrechen abstrahiert, kein Wort über einen Anschlag verliert. Das Versteckte, was doch herausgelesen werden konnte, macht den Text gerade interessant. Eine andere Mutter verliert ihren Sohn als Täter, doch die Grenze zwischen Opfer und Täter verschwimmt, da alle vier Mütter dieselbe Sprache sprechen, wie Jurorin Hildegard Keller sagte.

Hubert Winkels fühlte sich an die Pietà erinnert, „die das Leid dieser Welt in ihrem Schoß trägt“, da alle Mütter in dem Text auf die eine oder andere Weise ihre Kinder verlieren – „der Gebärvorgang in umgekehrter Richtung“. Es sei dann nicht mehr entscheidend, wer Täter oder Opfer ist.

Das Leben der „Millennials“

Nicht jeder gute Text kann gewinnen, das ist klar. Überhaupt gab es eine große Vielfalt von Genres, bis hin zu einer klamaukigen Österreich- und Bachmannpreis-Parodie des deutschen Stephan Groetzner („Destination: Austria“). Deshalb scheint die Anzahl der vergebenen Preise – vier Jurypreise und ein fünfter: der Publikumspreis – bei vierzehn Kandidaten insgesamt, sieben in der engeren Wahl, etwas übertrieben. Den nur im Internet abgestimmten Zuschauerpreis erhielt schließlich die einzige Österreicherin in diesem Autoren-Jahrgang, Raphaela Edelbauer (geboren 1990), mit ihrem Text „Das Loch“, in dem der Ich-Erzähler, ein „Auffüllungstechniker“, ein ehemaliges Kalk-Bergwerk statisch untersuchen und wieder auffüllen soll, das früher auch zur Vertuschung von NS-Verbrechen diente.

Zwei weitere, wirklich gute Texte über die Lebens- und Gefühlswelt von Heranwachsenden gingen leider etwas unter, obwohl einer der Autoren, Joshua Groß aus Deutschland (Jahrgang 1989), mit seinem Romanauszug „Flexen in Miami“ sogar in mehreren Abstimmungsrunden zur Wahl stand: eine wort- und bildstarke, mit existenzialistischen Motiven spielende Geschichte, die – mit vielen popkulturellen Bezügen, Jugendsprache und englischen Wörtern – eine von Drogen und Liebesgeschichten getränkte Nacht in den USA schildert. Eine „Welt totaler Simulation“, so die Jurorin Insa Wilke, ein Leben in Konjunktiven und Hypothesen – das Lebensgefühl vieler sogenannter „Millennials“ in der Gegenwart der sozialen Medien.

Und warum schaffte es beispielsweise „Lumumbaland“ vom Hamburger Autor Stephan Lohse (Jahrgang 1964) erst gar nicht zur Abstimmung? Der auch von der Jury gelobte Text handelt von Identitätssuche und Träumen eines armen, perspektivlosen Jugendlichen in Deutschland, der Kraft findet in der Geschichte des ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten des Kongo, Patrice Lumumba.

„Alles ist eine Frage der Sprache.“ Aber nicht nur. Denn in Klagenfurt geht es auch um Inszenierung. Ohne den immer selben Ritus des Porträtvideos, der Lesung auf dem „Altar der Worte“ und der Jurydiskussion vor den Augen der Öffentlichkeit würde der Preis als Format nicht funktionieren. Er braucht das Zeremonielle, gerade auch dessen Schlichtheit und Wiederholung, den fast liturgischen Charakter des Geschehens. Es macht Lust aufs Lesen. Vielleicht brauchte es mehr solcher streng inszenierter öffentlicher Lesungen, um dem allerorten anhaltenden Leserschwund – was in diesem Jahr in Klagenfurt gar nicht groß thematisiert wurde – entgegenzuwirken.

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