Die Kirche und die christliche Botschaft insgesamt befinden sich, in unserem Land und in den westlichen Gesellschaften zumindest, in einer Krise. Die Dimension dieser Krise nehme ich so wahr: Es ist nicht nur eine strukturelle Kirchenkrise, sondern eine fundamentale Krise des Glaubens an einen personal Anteil nehmenden Gott. Als solche hört sie auf, provinziell oder konfessionell zu sein. Sie wird gewissermaßen zur geistigen Signatur unserer Zeit.
Elementare Krisen verlangen nach elementaren Vergewisserungen. Diese Einsicht treibt mich seit vielen Jahren um. Und so habe ich sozusagen Hilfe gesucht auch in der Literatur, zum Beispiel bei Fjodor M. Dostojewskis „Die Brüder Karamasow“, Albert Camus’ „Die Pest“ oder Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“. Dichter und Schriftsteller sind für mich wichtige Seismographen, die die Verwerfungen der Zeit und die bohrenden Fragen der Menschen schnörkellos zur Sprache bringen. Zudem haben sie mir über all die Jahre meines priesterlichen und bischöflichen Dienstes geholfen, die Gotteslehre der Dogmatik konkret zu verorten und eine klerikale Geschwätzigkeit je neu in mir zu bekämpfen.
Was Predigten fehlt
Das ist doch wohl klar: Alle kirchlichen Strukturfragen, etwa ob Gemeinden sich zusammenschließen und fusionieren müssen, sind bestenfalls für das Funktionieren des Betriebs bedeutsam. Der eigentliche Dreh- und Angelpunkt liegt indes in der Frage nach Gottes Gegenwart in unserem Leben und in der Welt, näherhin in der nach der Bedingung der Möglichkeit, ihn mit dem Leiden der Menschen in Zusammenhang zu bringen.
Wenn, was ich feststelle, in den Predigten diese Frage zu selten vorkommt, dafür immer häufiger politische Themen, wenn sie, sofern sie denn vorkommt, kaum Spuren in den Herzen hinterlässt, dann muss sie grundsätzlich wieder auf die Tagesordnung.
So möchte ich Sie an einigen ganz persönlichen Gedanken und Einsichten teilhaben lassen, die mich seit langem bewegen und sich gegen Ende meiner aktiven Zeit als Bischof von Fulda nochmals verdichten.
Ich frage mich: Was ist in unseren Gottesdiensten von jenem Gott zu spüren, der im Alten Testament ein „Eifersüchtiger“ genannt wird? „Du darfst dich nicht vor einem anderen Gott niederwerfen. Denn Jahwe trägt den Namen ‚der Eifersüchtige‘; ein eifersüchtiger Gott ist er“ (Ex 34,14). Was haben wir aus ihm gemacht, mit dem die Menschen des Alten Bundes ringen und kämpfen, gegen den sie sich auflehnen, mit dem sie aber jedenfalls rechnen, unter allen Lebensumständen, grundsätzlich?
Als Seelsorger erlebe ich immer wieder, dass Menschen in existenziellen Krisenzeiten mit dem „lieben Gott“ ihrer Kindertage nichts anzufangen wissen. Wie gründlich das zur Harmlosigkeit verkommene Bild von Gott zerbrechen kann, zeigt Wolfgang Borchert in seinem Drama „Draußen vor der Tür“. Es bringt, 1946 in wenigen Tagen wie im Wettlauf mit dem Tode geschrieben, immer noch die empörten Fragen vieler Menschen zur Sprache.
Gott? Wo bist du?
Es lohnt sich, den zentralen Dialog zwischen dem heimkehrenden Soldaten Beckmann und Gott zu bedenken. Daraus einige Sätze aus Beckmanns empörtem Plädoyer: „Ach, du bist alt, Gott, du bist unmodern, du kommst mit unseren langen Listen von Toten und Ängsten nicht mehr mit. Wir kennen dich nicht mehr so recht, du bist ein Märchenbuchliebergott. Heute brauchen wir einen neuen. Weißt du, einen für unsere Angst und Not… Wir haben dich gesucht, Gott, in jeder Ruine, in jedem Granattrichter, in jeder Nacht… Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht. Wo warst du da, lieber Gott? … Hast du dich von uns gewandt? … Gott, wo bist du?“
Mit Beckmann fragen viele, die in zerrütteter Ehe oder zerfallender Familie leben, die mit fünfzig um den Arbeitsplatz bangen und mit siebzig in die Einsamkeit eines Altenheims abgeschoben werden, denen ein medizinischer Befund eine tödliche Krankheit mitteilt.
„Gott? Wo bist du?“, das ist Beckmanns letzte Frage. So lange ein Mensch sich nicht selbst aufgibt, bleibt diese Frage in ihm lebendig. Sie ist für mich die zentrale Frage der Theologie unserer Zeit.
Selbst ein Atheist von der Qualität eines Nietzsche hatte seine Stunden, in denen diese Frage in ihm jammernd aufschrie. In einer solchen Situation hat er in ergreifenden Versen sein Leben mit einer Wanderung durch trostloses Winterland verglichen. Die letzte Strophe endet:
„Die Krähen schrein
und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
Bald wird es schnein.
Weh dem, der keine Heimat hat.“
Nicht lange Zeit danach, im Januar 1889, geht in Turin ein Mann auf eine Kutsche zu, lehnt sein Haupt Hilfe suchend an den Kopf des Pferdes und weint haltlos.
Ganz sicher brauchen wir unser Haupt nicht wie Nietzsche an den Kopf eines Pferdes zu lehnen. Wir haben ein anderes Gegenüber, eines „für unsere Angst und Not“. Wenn wir uns indes voreilig zu diesem „Gegenüber“ wie unter einen Regenschirm flüchten, ohne auszuhalten und die schweren Fragen hochkommen zu lassen, flüchten wir je und je nur in billige Vertröstung, zu einem harmlosen Gegenüber, das uns im Grunde nicht weiterhelfen kann. Mit anderen Worten: Wenn Gott uns lieb hat, wie wir glauben, und wenn er alle Macht besitzt, wie wir immer wieder bekennen, warum lässt er dann so viel unschuldiges Leiden zu? Diese Frage müssen wir ertragen und bedenken.
Wir tun gut daran, uns dabei des biblischen Hiob zu erinnern. In diesem Buch aus der jüdischen Weisheitsliteratur haben sich verständlicherweise die Menschen unserer Zeit hilfreich wiedererkannt.
Leider fand die Wiederentdeckung Hiobs nicht in erster Linie in der Theologie statt, sondern in Literatur und Philosophie. Es waren vor allem Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ihr eigenes Leiden, ihre Fragen, ihre Zweifel und Hoffnung anhand der Hiobsgestalt im wahren Wortsinn zur Sprache brachten. Zum Beispiel Joseph Roth in seinem 1930 veröffentlichten Roman „Hiob“ mit der Hauptfigur des Juden Mendel Singer. Dann auch Edzard Schaper, H. G. Wells, Alfred Döblin, Gerhard Hauptmann oder Günter Kunert. Zudem erschienen mehr als sechzig Hiob-Dramen seit 1914. Darunter befindet sich das 1940 verfasste Stück eines damals zwanzigjährigen Polen: ein Hiob-Spiel von niemand anderem als Karol Wojtyła, dem verehrten heiligen Papst Johannes Paul II.
Hiob auf dem Trümmerhaufen
Hiob, der jüdische Fromme, sitzt, nachdem er Familie, Hab und Gut verloren hat, elend auf einem Trümmerhaufen, weint und klagt, schreit laut auf, beteuert seine Unschuld und stellt Gott klagend und anklagend die Warum-Frage.
Seine drei Freunde kommen, um ihn zu trösten. Zuerst hören sie seine Klagen geduldig an: „Sie saßen bei ihm auf der Erde sieben Tage und sieben Nächte; keiner sprach ein Wort zu ihm. Denn sie sahen, dass sein Schmerz sehr groß war“ (2,13). Dieses stumme, geduldige „Dabeisein“ ist ergreifend. Und es ist auch zumeist das Einzige und Beste, was wir alle angesichts eines leidenden Menschen tun können. Am Ende ist stilles Mitleiden, die Compassio, das einzig Entsprechende. Jedes vorschnell tröstende Wort wirkt auf den Leidenden wie eine Zumutung, was ich in meinem Dienst als Priester und Bischof hautnah erlebt habe.
Dann aber halten es Hiobs Freunde nicht mehr aus und beginnen, auf ihn einzureden. Alle drei nehmen die bekannte These auf: Hiob, du weißt doch, dass der Mensch es ist, der das Unheil erzeugt. Es geziemt sich nicht, Gott anzuklagen und ihm Vorwürfe zu machen. Spiel nicht den Unschuldigen! Unglück ist immer eine Strafe für etwas. Irgendwo und irgendwann musst du schuldig geworden sein, sonst wäre dieses Unglück nicht über dich gekommen.
Hiob reagiert mit beißender Ironie: „Wahrhaftig, ihr seid besondere Leute, und mit euch stirbt die Weisheit aus“ (12,1). Und Gott bestätigt Hiobs Empörung. Er wendet sich an Elifas: „Mein Zorn ist entbrannt gegen dich und deine beiden Gefährten; denn ihr habt nicht recht vor mir geredet“ (42,7). Gott nimmt Hiob in Schutz und verwirft die These der Freunde, die Leiden als Strafe deuten wollen. Nach dem ergebenen „Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn“ (1,21f) kommen nun Hiobs Fragen an Gott wie eine gewaltige Eruption (vgl. 30,26ff).
Dann wendet sich Gott ganz persönlich an Hiob und beginnt, ihm Fragen „über Himmel und Erde“ zu stellen, auf die der Befragte keine Antwort weiß.
Diese Fragen Gottes an Hiob, die Hiobs Fragen an Gott in eine neue Perspektive bringen, können durchaus so verstanden werden: Hiob, warte ab! Es ist noch nicht aller Tage Abend. Wie kannst du dir einbilden, meine Ratschlüsse und Möglichkeiten zu durchschauen? Ich spiele mit Karten, die du nicht kennst. Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen. Auf die Gottesfragen antwortet Hiob mit einem großen Bekenntnis: „So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind… Vom Hörensagen hatte ich von dir vernommen; jetzt aber hat mein Auge dich geschaut“ (42,3.5). Durch die Gottesfragen ist für Hiob der Gott der Tradition, den er übernommen hatte, zum persönlichen Gott in seinem Leben geworden.
Wir sollten festhalten: Es gibt Versuche, menschlichem Leiden einen Sinnzusammenhang zu geben, die in eine Sackgasse führen müssen. Wenn wir intellektuell zu rechtfertigen versuchen, was existenziell nicht gerechtfertigt werden kann, wenn wir Gott zur schnellen Antwort auf unsere Fragen machen, tragen wir mächtig zu seiner Verharmlosung bei.
Die Möglichkeit, einen Ausweg zu finden in unserer Angst und Not, gibt es, wie ich sicher weiß, nur dann, wenn wir das Leiden und die Frage nach dem Warum mitnehmen unter das Kreuz des Karfreitags. Das tiefe Wissen um diesen Zusammenhang haben Menschen komprimiert im Ruf „Crux ave – spes unica“, „Sei gegrüßt, Kreuz – einzige Hoffnung“. Dort, unter dem Kreuz des Karfreitags, müssen wir einander helfen, weinend, klagend, betend helfen, die furchtbaren Fragen nach dem Sinn des Leidens im Licht von Ostern in Hoffnung zu wenden.
Am Kreuz hat sich Gott ein für alle Mal als Anteilnehmender und Mitleidender offenbart. Seitdem können wir wissen, dass er dabei ist – in der Freude und Hoffnung wie in der Angst und den Tränen unseres Lebens.
Ein wunderbares Wort des ersten Korintherbriefs (2,10f) hilft mir, tiefer zu erahnen, um was es geht: „Der Geist ergründet nämlich alles, auch die Tiefen Gottes… So erkennt auch keiner Gott – nur der Geist Gottes.“
Meine Schlussfolgerung: Gott allein kennt Gott ganz, auch seine dunklen Tiefen. Wir müssen mit unseren theologischen Konstruktionen vorsichtig sein. Wenn der Gekreuzigte und Auferstandene uns den „Parakleten“ verheißt, so nennen wir ihn – nicht zufällig – auch den „Tröster“ und den „Beistand“. Der Geist, der die Tiefen Gottes auslotet, muss uns beistehen, das Dunkle des Kreuzes auszuhalten. Tatsächlich müssten wir vor der Vielfalt des Leidens im globalen Bereich, aber auch in unserer Nähe, vor der Unermesslichkeit der Trauer und Trostlosigkeit resignieren, wären wir nicht getragen von der Hoffnung trotz allem, dass Gott selbst am Ende alle Tränen trocknen wird (vgl. Offb 21,4). „An jenem Tag werdet ihr mich nichts mehr fragen“ (Joh 16,23). Denken wir immer daran: Nicht eher, an jenem Tag erst!
Hinweis
Der CIG-Beitrag mit neun Thesen „Wie sich der christliche Glaube erneuern kann“ ist als kostenloser Sonderdruck weiterhin erhältlich. Er kann in beliebiger Stückzahl bestellt werden, um ihn zum Beispiel Pfarrbriefen beizulegen und Glaubensgespräche anzuregen. Telefonische Bestellungen unter: 0761/2717-200; E-Mail: kundenservice@herder.de; online: www.cig.de/aktion; Verlag Herder, Kundenservice, 79080 Freiburg im Breisgau/Deutschland.