AntisemitismusDie Geschwister des Sem

Der zunehmende Judenhass ist kein Thema allein für Polizei und Politik. Das Gespräch mit Michael Blume, dem Beauftragten des Landes Baden-Württemberg gegen Antisemitismus, kommt deshalb schnell zu Fragen, die tiefer gehen: Was machen die neuen Medien mit uns? Glauben wir an das Gute, oder fürchten wir nur das Böse?

CHRIST IN DER GEGENWART: Wie für die gesamte Bundesrepublik gibt es seit Kurzem auch auf Länderebene, zum Beispiel in Baden-Württemberg, Beauftragte gegen Antisemitismus. Warum?

Michael Blume: Anfang des Jahres kamen die jüdischen Gemeinden auf den Ministerpräsidenten zu und berichteten von einem zunehmenden Unsicherheitsgefühl unter den Gemeindemitgliedern. Das Land will in dieser Situation „klare Kante“ zeigen. So hat es Ministerpräsident Winfried Kretschmann formuliert: Der Kampf gegen den Antisemitismus ist ein Gebot der Verantwortung für unsere Demokratie. Wir alle müssen dafür Sorge tragen, dass Minderheiten bei uns nicht angegriffen werden und kein Keil in unsere Gesellschaft getrieben wird.

Verschiedentlich wurde gefragt, warum sich Ihr Auftrag so gezielt gegen Antisemitismus richtet und nicht allgemein gegen jede Form von Rassismus.

Jede Form des Rassismus und der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ist schlimm und bedrohlich. Aber der Antisemitismus ist besonders gefährlich, weil hier zum Rassismus der Verschwörungsglaube hinzukommt. Das bedroht die Gesellschaft als Ganzes. Deshalb bekämpfen wir den Antisemitismus auch „nicht nur wegen der Juden“. Ich bin überzeugt: Wie friedlich und wie gut unser Zusammenleben in Deutschland, in Europa, auf der Welt gelingt, hängt entscheidend davon ab, ob wir den Antisemitismus in den Griff bekommen.

Warum ist denn der „Wahnsinn des Antisemitismus“, wie es Winfried Kretschmann ausdrückte, noch nicht überwunden? Vor nicht allzu langer Zeit gab es doch mal die Hoffnung, dass sich das auswachsen würde.

Vorurteile und Verschwörungsvorwürfe gegen religiöse Minderheiten verschwinden leider nicht so einfach. Und wenn es so etwas wie ein Absterben des Antisemitismus gab, ist diese Entwicklung durch die digitalen Medien unterbrochen worden. Wir haben jetzt wieder ein Anwachsen von Verschwörungsglauben und des Versuchs, die religiösen Minderheiten gegeneinander auszuspielen. Das Internet wirkt als Brandbeschleuniger, weil es jeden noch so absurden Mythos verteilt und verstärkt.

Das hat die Studie „Antisemitismus 2.0“ der Technischen Universität Berlin soeben bestätigt. Es ist die bislang größte Untersuchung zum Judenhass im Internet. Die Entwicklung wurde mit dem Satz zusammengefasst: „Es wird schlimmer, Tag für Tag“.

Das Internet führt dazu, dass sich Antisemiten enorm vernetzen können und immer aggressiver auftreten. So erfahren Dinge wie der sogenannte Hooton-Plan eine enorme Verbreitung. Damit wird eine Äußerung des amerikanischen Rassentheoretikers Earnest Hooton bezeichnet, der sich in den vierziger Jahren – angesichts des verhängnisvollen deutschen Nationalismus und Imperialismus zweier Weltkriege – für die Ansiedlung nichtdeutscher Bevölkerung in Deutschland aussprach. Verschwörungsgläubige heute halten das für wahr und schreiben es krude fort: Die Juden hätten den Orient vernichtet und würden jetzt Araber nach Europa schicken, um auch das christliche Europa zu vernichten. So etwas wurde früher nur in kleinen Zirkeln geäußert, heute haben wir das sogar im Parlament. Im Landtag von Baden-Württemberg sitzt ein neu gewählter Abgeordneter, der die „Protokolle der Weisen von Zion“, eine antisemitische Fälschung über das Streben der Juden nach der Weltherrschaft, für echt erklärt. Die sogenannte Islamisierung ist für ihn Teil dieser jüdischen Weltverschwörung.

Auf dem digitalen Marktplatz haben sich Gruppen gebildet, die nur miteinander reden – und die anderen anschreien.

Wie kann es sein, dass in unserer vermeintlich so aufgeklärten Gesellschaft irgendjemand solche Schmähschriften für voll nimmt? Gerade die neuen Medien geben doch jedem die Möglichkeit, sich differenziert zu informieren. Und es war auch noch nie so einfach, sich mit anderen zu vernetzen.

Das ist die Ambivalenz, die Zweigesichtigkeit, der neuen digitalen Medien. Tatsächlich können sie Menschen verbinden. Aber wenn wir ehrlich sind, gilt es festzustellen: Die Möglichkeiten des Internets werden vielfach nicht so genutzt, dass jeder mit jedem vernetzt ist. Vielmehr neigen wir Menschen dazu, uns – je nach Gesinnung – „zusammenzuclustern“. Man spricht auch von einer „Tribalisierung“. Das bedeutet: Jeder sucht sich digital seinen „Stamm“ und zieht von dort aus gegen die anderen zu Felde. So entstehen keine größeren Zusammenhänge, sondern abgeschottete Kleingruppen. Um es in einem Bild zu sagen: Das Internet ist nicht der große Marktplatz, auf dem alle Argumente öffentlich ausgetauscht werden. Auf so etwas ist die Demokratie eigentlich angewiesen. Aber auf dem digitalen Marktplatz haben sich nun viele kleine Gruppen gebildet, die nur jeweils mit ihresgleichen reden – und die anderen anschreien.

Warum passiert das gerade jetzt?

Das führt auf eine tiefere Ebene. Neue Medien erschüttern generell eine bestehende Ordnung, verändern unser Verhältnis zueinander und zur Welt. Sie können das am Judentum selbst festmachen, das als Schriftreligion den Glauben völlig neu definiert hat. Als erster Schriftgelehrter gilt laut der jüdischen Tradition übrigens der Noahsohn Sem – daher der Begriff Semitismus. Alle Schriftreligionen, die danach entstanden sind – Christentum, Islam, auch die Bahai –, stehen in dieser Tradition. Ein anderes Beispiel ist die Einführung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Auch das war eine tiefe Erschütterung. Sie bedeutete einerseits die Chance, sich ganz neue Bildungsbereiche zu erschließen. Andererseits war es die Versuchung, in finsterste Feindbilder, in Hass und Verschwörungsvorwürfe zurückzufallen. Einer der ersten „Bestseller“ des Buchdrucks war zum Beispiel der „Hexenhammer“ von 1486, in dem behauptet wurde, Frauen würden sich mit dem Teufel verschwören. Auch Luthers massiver Antisemitismus ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Wenn wir aus der Geschichte lernen, dann sollten wir tatsächlich lernen, die Chancen und auch Gefahren von Medien zu begreifen. Die Erschütterung durch ein neues Medium kann ganze Gesellschaften aus der Bahn werfen. Auf den Buchdruck folgten bei uns in Europa die Reformation, die Konfessionskriege, die Bauernkriege, der Dreißigjährige Krieg. Erst ab dem 18. Jahrhundert setzte sich die Aufklärung durch.

Demnach verändert das Internet mehr als nur die Art, wie wir kommunizieren.

Wir sind mit den digitalen Medien in die sogenannte tertiäre Medienwelt eingetreten, also in eine dritte Phase der Medienentwicklung. Die erste Ebene – das ist, wenn wir uns direkt über Sprache unterhalten, ohne technische Hilfsmittel. Mit Schrift und Buchdruck begann die zweite, sekundäre Phase. Ab diesem Zeitpunkt brauchte man Technologie – zumindest auf der Seite des „Senders“ einer Nachricht: Wer einen Text, ein Buch herausbringt, muss es drucken. Jetzt, mit den digitalen Medien, brauchen wir plötzlich sowohl zum Senden als auch zum Empfangen technisches Gerät. Für viele Menschen fühlt sich das dann aber so an, dass sich die Medien vor die Welt schieben. Die Menschen wissen oft nicht mehr, was sie eigentlich noch glauben sollen. Was ist echte Realität, und was sind Fake News? Ist zum Beispiel Impfen gefährlich, oder ist es hilfreich? Hat der Präsident Recht, wenn er sagt, wir werden durch eine Verschwörung bedroht, oder hat er nicht Recht? Wir erleben so eine massive Vertrauenskrise, die vor allem das Verhältnis zwischen Menschen und Institutionen erschüttert. Das betrifft alle Bereiche der Gesellschaft, auch die Kirchen, die Justiz, die Wissenschaft … Und in dieser Situation liegt es für ganz viele Menschen nahe, das Misstrauen gewissermaßen zu personifizieren: die „Lügenpresse“, „Danke, Merkel“. Und ein Teil der Menschen beginnt wieder, sich die Welt über Verschwörungen zu erklären.

Gerade an Juden werden solche Vorurteile personal und pauschal festgemacht.

Juden als religiöse Minderheit galten seit Jahrtausenden als Verschwörer. So wie ein anderes Stereotyp Roma und Sinti als grundsätzlich kriminell schildert. Wenn solche Mythen einmal in einer Kultur vorhanden sind, dann ist es ganz schwierig, sie wieder herauszubekommen. Im Fall des Antisemitismus reichen die Vorurteile ja bis in die Antike zurück. Geradezu klassisch sehen wir das in der Exodus-Geschichte der Bibel. Damals wurde sinngemäß gesagt: „Ägypten schafft sich ab, und die Semiten sind schuld.“ Sie können das dann durch die gesamte Geschichte verfolgen.

Gibt es Gruppen, die besonders zu antisemitischen Vorurteilen neigen?

Früher hat man gedacht, Antisemitismus sei vor allem bei den Ungebildeten und Abgehängten zuhause, also bei Leuten, die es nicht geschafft haben und dann „Schuldige“ für ihr eigenes Scheitern suchen. Heute kann man nicht mehr sagen, dass es nur damit zusammenhängt. Es ist teilweise sogar so, dass gerade gebildete Leute besonders viel Energie darauf verwenden, ausgearbeitete antisemitische Verschwörungsmythen aufzunehmen und weiterzugeben. Am ehesten fällt Antisemitismus mit Zukunftsangst zusammen: Jemand hat zwar viel, fürchtet aber, das sei bedroht, werde ihm weggenommen. Solche Menschen neigen schnell zur Suche nach Verschwörern.

Oft wird gesagt, dass Antisemitismus vor allem bei denen auftritt, die gar keine Juden kennen.

Tatsächlich bin ich etwa im Irak auf massiven Antisemitismus gestoßen, obwohl es dort kein jüdisches Leben mehr gibt. Die verschiedenen Gruppen der Region – Sunniten, Schiiten, Araber, Kurden, Türken – werfen sich nun gegenseitig vor, Teil der jüdischen Weltverschwörung zu sein. Aber auch das Kennen von Jüdinnen und Juden schützt nicht uneingeschränkt vor Antisemitismus. Adolf Eichmann zum Beispiel, der entscheidend an den Massenmorden der Nazis an Juden beteiligt war, hatte jüdische Bekannte.

Wie sehen Sie das Phänomen des sogenannten importierten Antisemitismus? Heute kommen ja Flüchtlinge und Migranten aus Ländern zu uns, in denen der Judenhass gewissermaßen zur Staatsräson gehört.

Es stimmt, dass antisemitische Mythen gerade in arabischen Ländern ein Teil der Alltagskultur sind. Sie werden in den Schulen gelehrt und von der Politik gezielt genutzt für Angriffe auf politische Gegner oder als „Erklärung“ für alles, was schiefgeht. Das ist im Übrigen nicht an eine bestimmte Religion, etwa die Muslime, gebunden. Es waren arabische Christen, die in den zwanziger Jahren die bereits genannten „Protokolle der Weisen von Zion“ für ihre Länder übersetzt haben, und bis heute ist unter Arabischsprechenden der Antisemitismus deutlich erhöht. Das trifft dann beispielsweise auch Jesiden. Baden-Württemberg hat ja mehr als 1100 Frauen und Kinder dieser religiösen Minderheit aus dem Irak gerettet. Aus diesem Kreis wurde ich mit der angstvollen Frage konfrontiert, ob Juden Hörner hätten. Menschen, die aus antisemitisch geprägten Kulturen zu uns kommen, geben diese Haltung natürlich nicht sofort ab, da braucht es Aufklärung. Wer von klein auf gelernt hat, Fehlschläge mit einer vermeintlichen Verschwörung von Zionisten zu erklären, neigt dann vielleicht auch dazu, etwa für ein Scheitern im Integrationskurs erstmal auch wieder andere verantwortlich zu machen.

Dass heute so viele Menschen meinen, dass das Böse regiert, ist eine theologische Krise.

Auch der ungelöste Nahost-Konflikt trägt zum Antisemitismus bei. Hier gibt es ja kaum differenzierende Wahrnehmungen, selbst in den Kirchen nicht.

Tatsächlich gibt es bezogen auf Israel zuweilen eine übersteigerte Hoffnung, dass über diesen Staat so etwas wie Erlösung stattfinden soll. Das führt dann manchmal zu einer völlig kritiklosen Position. Häufiger ist jedoch die andere Seite: die Dämonisierung Israels, bis hin zu NS-Vergleichen. Mir fehlt hier die Mitte: dass man Israel als demokratischen Nationalstaat respektiert, der seit Jahrzehnten in schwierigen Verhältnissen überlebt, aber in dem natürlich auch nicht alles richtig läuft. Israel wird ja genauso durch Rechtspopulismus und Fremdenfurcht erschüttert wie andere Demokratien auch. Das zeigt aber nur wieder, wie sehr wir durch die digitalen Medien emotionalisiert werden und sich jeder in die Medienblasen flüchtet, die seine Vorannahmen bestätigen.

Wir haben über Vertrauen, Misstrauen, Angst gesprochen. Das deutet darauf hin, dass wir es vor allem mit diffusen, weichen Faktoren zu tun haben.

In gewisser Hinsicht zeigt der Antisemitismus, wie es um eine Gesellschaft insgesamt steht. Gehen wir davon aus, dass der Rechtsstaat, die Demokratie funktionieren? Oder glauben wir, dass die Welt von finsteren Verschwörungen beherrscht wird? Dass heute so viele Menschen meinen, dass das Böse regiert, ist im Kern eine theologische Krise.

Beim Stichwort „Theologie“ fragt man sich natürlich, ob nicht die Kirchen Partner im Kampf gegen Antisemitismus sein können.

Der Religionsgelehrte Lord Rabbi Jonathan Sacks beobachtete richtig, dass bei jeder Form von rechtem, linkem und religiösem Extremismus ein pathologischer Dualismus angeführt wird. Das heißt: Menschen glauben an die Herrschaft böser Verschwörer, definieren sich selbst als die gute, bedrohte Gruppe und beginnen dann sogar, Gewalt als vermeintliche Notwehr zu rechtfertigen. Deshalb denke ich: Indem Kirchen und Religionsgemeinschaften für den Glauben an das Gute eintreten, gehört der Kampf gegen Antisemitismus und seine Grundlagen tatsächlich zu ihren ureigenen Aufgaben. Wo Gott wirklich als Schöpfer und Begleiter anerkannt wird, haben wir Gründe, der Welt zu vertrauen, sie zu erforschen.

Was können denn die Religionen positiv dem Antisemitismus entgegensetzen?

Sie können zum Beispiel einfach darlegen, wer Sem laut der Bibel ist. Niemand anderes nämlich als der Sohn von Noah, der die Lehren seines Vaters weitertragen soll. Er ist ein mythologischer Ahne und deswegen sind gerade auch nach jüdischer Auslegung nicht nur Juden, sondern eigentlich alle Menschen nach der Sintflut Kinder des Noah, Nachfahren oder Geschwister des Sem. Die Menschen können sich in diese Traditionslinie einordnen oder nicht. Sie können sich als Semiten, Nichtsemiten oder Antisemiten verstehen. Der Hinweis auf die mythologische Herkunft ist ganz wichtig. Denn bis heute dominieren noch biologisch-rassistische Vorstellungen über den Semitismus, die seit dem 16. Jahrhundert im Umlauf sind.

Was sagt der Noah- beziehungsweise Sem-Mythos konkret?

Es ist eine Geschichte des Vertrauens. Nach der großen Katastrophe vermittelt Noah seinen Kindern und besonders seinem Sohn Sem eine zentrale mythologische Botschaft: Habe Vertrauen in diese Welt, so dass du sie bebauen, Familie gründen und auch eine wirtschaftliche Zukunft haben kannst. Habe Vertrauen in diese Welt, deren Muster wir immer besser erforschen können. Habe Vertrauen, weil diese Welt am Ende doch eine Schöpfung des Guten ist. Bis heute sind uns die Zeichen des Regenbogens, der Friedenstaube und des Ölzweiges als die Symbole dieses Mythos erhalten geblieben. Gegen dieses Friedens- und Vertrauenspotenzial wenden sich Antisemiten.

Gerade angesichts ihrer eigenen Geschichte könnten die Kirchen überzeugende Mitstreiter gegen den Antisemitismus sein. Schließlich haben sie ihn in der Breite bei sich selbst überwunden – auch wenn gewisse kirchliche Äußerungen zu diesem Thema manchmal zumindest missverständlich sein können.

Die Auseinandersetzung zwischen positiven, vertrauensvollen Mythen auf der einen Seite und Verschwörungsmythen auf der anderen Seite fand und findet natürlich auch in den Kirchen statt. Mit der Erklärung „Nostra Aetate“ über die nichtchristlichen Religionen hat die katholische Kirche auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil einen enormen Sprung nach vorne gemacht. Und das hat ja auch wiederum etwa auf jüdischer Seite dazu geführt, dass heute zum Beispiel auch im orthodoxen Judentum angstfreier und wertschätzender über Jesus gesprochen wird, als es früher manchmal der Fall war. Das heißt: Die Hoffnung, dass die großen Religionen gemeinsam eine Basis des Vertrauens finden, das ist dann nicht nur eine Sache für ein paar Spezialisten beim Biokaffee, sondern das ist dann tatsächlich wirklich das Beste, was wir den jüngeren Generationen aller Religionen anbieten können.

Doch „die Welt“ will den Kirchen und Religionen immer weniger zuhören. Religiöser Glaube gilt vielen als Ursache von Gewalt. Man will ihn aus dem öffentlichen Leben herausdrängen.

Wir laufen Gefahr, die Mitte zu verlieren. Auf der einen Seite gibt es die Säkularisierung, dass also viele Menschen mit Religion nichts mehr anfangen können. Viele Säkulare sagen: Lasst uns doch einfach eine Gesellschaft werden, in der es gar keine Religion mehr gibt. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, dass sich in den Religionen kleine fundamentalistische Gruppen abschotten, teilweise auch mit Verschwörungsmythen. Beides sind keine Modelle, die wirklich Zukunft versprechen. Für mich ist die große Frage des 21. Jahrhunderts: Schaffen wir es, die Mitte zu bewahren? Dass die Menschen also Vernunft und Glaube in Balance halten.

Was hilft sonst noch gegen Antisemitismus?

Bildung und Aufklärung helfen gerade den Heranwachsenden, ein Weltvertrauen aufzubauen. Begegnung hilft. Junge Muslime beispielsweise, die Juden kennengelernt haben, schaffen es leichter, antisemitische Mythen hinter sich zu lassen. Als gesamte Gesellschaft sind wir zudem gut beraten, uns mit den neuen Medien aktiver auseinanderzusetzen, zu überlegen, wie wir das Gute stärken, aber eben auch gegen das Gefährliche vorgehen können. Ich glaube, dass wir da erst am Beginn eines Prozesses sind, dessen Tragweite wir wahrscheinlich genauso wenig verstehen können wie die Menschen am Anfang des 16. Jahrhunderts ahnen konnten, dass über die Druckerpresse die ganze Kirche in Europa auseinanderfliegen würde.

Wie hoffnungsvoll sind Sie?

Wenn wir es in Deutschland und Europa nicht schaffen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufrechtzuerhalten, dann brauchen wir anderen Erdteilen keine Predigten zu halten. Wir haben so einen Wohlstand, so eine Bildung erreicht und eigentlich auch einen kritischen Umgang mit der Geschichte. Ich fürchte schon, dass wir erst am Anfang der Turbulenzen stehen. Ich glaube aber – als Semit sozusagen –, dass der Regenbogen leuchtet und dass auch in Zukunft diejenigen, die für Rechtsstaat und Demokratie einstehen, die besseren Argumente haben. Aufgeben ist keine Alternative. Und an dem Punkt, gebe ich zu, hilft mir auch der christliche Glaube.

Das Gespräch führte Stephan Langer.

(Eine ausführlichere Fassung des Interviews finden Sie hier.)

Michael Blume

Der Religions- und Politikwissenschaftler wurde 1976 in Filderstadt geboren. Studiert hat er in Tübingen, wo er auch zum Thema „Religion und Hirnforschung“ promovierte. Blume arbeitet seit 2003 im Staatsministerium Baden-Württemberg. Von März 2015 bis Juli 2016 leitete er die Projektgruppe „Sonderkontingent für besonders schutzbedürftige Frauen und Kinder aus dem Nordirak“, mit dem das Land traumatisierte jesidische Frauen aufnahm. Zusätzlich zu seinem Amt als Antisemitismus-Beauftragter leitet Blume das Referat „Nichtchristliche Religionen, Werte, Minderheiten, Projekte Nordirak“.

Michael Blume ist evangelisch, mit einer Muslimin verheiratet. Sie haben drei Kinder. In seiner Freizeit betätigt er sich als religionswissenschaftlicher Buchautor, Blogger (www.blume-religionswissenschaft.de) und Lehrbeauftragter. Entschieden wendet sich Michael Blume gegen die Rede von „Verschwörungstheorien“. „Theorien sind ernsthafte Erklärungsversuche, die sich dadurch auszeichnen, dass sie überprüfbar sind. Beim Antisemitismus dagegen geht es nicht um diskussionswürdige ‚Theorien‘, sondern um Lügen und übelste Verschwörungsymythen.“

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