Johann Baptist Metz - neunzig JahreErschütterungstheologie für eine Hoffnungszeit

Johann Baptist Metz wird neunzig Jahre. Mit seiner kritischen, ja gefährlichen Erinnerung an das Wesentliche des Christseins hat er Hoffnungsmarken gesetzt auch für religiös schwierige Zeiten.

Ist die Welt satt geworden? Ja, jedenfalls die kleine Welt der Wohlstandskulturen, des Materialismus, in dem wir schier alles haben, alles besitzen, alles erreichen können – oder dies zumindest meinen. Die Scheinwelt des bürgerlich-liberalistischen Friedens wurde zum Opium modern-postmoderner Zeiten, während das Leiden andernorts nicht abebbt, draußen nicht, aber auch drinnen nicht in einem den üblichen Blicken verborgenen Paralleluniversum zum offiziellen Staats-Glücks-Universum. Vielleicht wollen die Begüterten, Glücklichen, Zufriedenen aber auch schlichtweg nicht sehen, was sie sehen könnten.

Die Wochenzeitung „Die Zeit“ äußerte neulich den Verdacht, dass unsere weitgehend bedürfnisbefriedigte Gesellschaft, in der es immer schwerer fällt, neue Bedürfnisse zu wecken, „im Materialismus zu versacken“ droht. „Wenn ihr Grundprinzip der Handel ist und ihr höchster Wert der Konsum, unterliegt sie allerdings noch einer anderen Gefahr: Je mehr das Leben durch die Fixierung auf Wohlstand und Konsum sinnentleert erscheint – dieser riesige Markt für allerlei ‚kleine Fluchten‘ ist dafür ein guter Indikator –, desto reizvoller wird die Aussicht, es einer ‚großen Sache‘ zu widmen.“

Wo aber soll diese zu suchen und zu finden sein? Im Christentum anscheinend nicht. Jedenfalls kommt die Religion, die einstmals das Ganz-Große war, das Heiligste, das Heroisches einforderte bis zum Märtyrertum, dem „Zeit“-Autor Maximilian Probst nicht in den Sinn. Befürchtet wird vielmehr ein rein säkulares „Heldentum“, das zusehends am rechten politischen Rand erwacht und von dort aus versucht, der gähnenden Langeweile entgegenzutreten, Geschichte neu zu schreiben, umzuschreiben, ja Geschichte überhaupt erst zu konstituieren nach dem einst vorausgesagten Ende der Geschichte.

Die Diagnose eines Zeitalters, das geschichtsvergessen, sinnvergessen, aber zugleich auch gottvergessen vor sich hinlebt, ist jedoch keineswegs neu. Der Theologe Johann Baptist Metz, der in diesen Tagen neunzig Jahre wird, hatte schon vor fast einem halben Jahrhundert vieles von dem vorausgesagt, was jetzt eingetreten ist. Aber er begnügte sich nicht mit bloßen Analysen. Er wollte die Christen – und die Kirchen – wachrütteln, die Restbestände des Christentums zu einem zukunftsträchtigen Leben erwecken, unter anderem mit dem wesentlich von ihm verfassten Dokument „Unsere Hoffnung“ der Würzburger Synode der westdeutschen Bistümer.

Befreit vom Bedürfnismenschen

Schon damals erkannte Metz, dass sich unsere Gesellschaft zusehends als „reine Bedürfnisgesellschaft“ versteht, „als ein Netz von Bedürfnissen und deren Befriedigung“. Wo sich die Interessen jedoch ausschließlich danach ausrichten, bleibe der christlichen Hoffnung nur ein „verschwindendes Dasein“. Denn in ihr drücke sich „eine Sehnsucht aus, die alle unsere Bedürfnisse übersteigt“. Metz erinnerte in prophetischer Rede an jene kritische Gottesbotschaft, die sich „einem schlechthin geheimnisleeren Bild vom Menschen“ widersetzt, das nur einen „reinen Bedürfnismenschen“ zeigt, dem die eigentliche, große, existenzielle Sehnsucht fehlt, damit auch die Fähigkeit zu trauern und die Fähigkeit, „sich wirklich trösten zu lassen und Trost anders zu verstehen denn als reine Vertröstung“. Die rebellische, aufrührerische Gottesbotschaft der christlichen Hoffnung widerstehe „einer totalen Anpassung der Sehnsucht des Menschen an seine Bedürfniswelt“. Die Hoffnung auf Gott sei es, „die uns an sinnlosem Leiden immer wieder leiden macht“. Sie weitet den Horizont. „Sie ist es, die uns verbietet, mit der Sinnlosigkeit dieses Leidens zu paktieren. Sie ist es, die in uns immer neu den Hunger nach Sinn, das Dürsten nach Gerechtigkeit für alle, für die Lebenden und die Toten, die Kommenden und Gewesenen weckt und die es uns verwehrt, uns ausschließlich innerhalb der verkleinerten Maßstäbe unserer Bedürfniswelt einzurichten.“

Metz’ „gefährliche Erinnerung“ ist schlagwortartig als „neue politische Theologie“ etikettiert worden. Neu, weil sie sich im Gegensatz zur alten staatstragenden und herrschaftskonformen politischen Theologie nicht mit einem bestimmten Machtsystem verbündet, dieses stützt, sondern prophetisch-protestierenden Widerstand wachruft im Namen der unschuldig Leidenden, der Armen, der Ausgebeuteten, der Erniedrigten, im Namen der Verlierer der Geschichte, die vor Gott keineswegs die Verlorenen sind, sondern die Erlösten, Geretteten, Befreiten. Was Metz umtreibt, ist das genaue Gegenteil der heutzutage beliebten Lebensberatungs- und Wellness-Volkstheologie für Begünstigte. Es war und ist Erschütterungstheologie, Theologie der Unzufriedenen, der Unglückseligen und Beladenen, die ihre Hoffnung ganz auf Gott richten, auf jenen Gott, der Mensch und Welt nicht zuschanden werden lässt, der sein Reich errichtet – körperlich-leibhaftig manifest in der Auferweckung Jesu Christi.

In einer Zeit, in der innerkirchlich die Auferstehungsbotschaft vielfach wie verdrängt, vergessen, ja – aus Scham (?) – versteckt erscheint, wäre es umso dringlicher zu bergen, was Metz den christlich zweifelnden Zeitgenossen wider alle Plausibilitäten ins „Glaubens-Stammbuch“ geschrieben hat: „Die Hoffnungsgeschichte unseres Glaubens ist in Jesu Auferweckung unbesiegbar geworden. Sie gewinnt im Bekenntnis zu ihm als dem ‚Christus Gottes‘ … ihre lebensbestimmende und befreiende Macht über uns. Diese Hoffnungsgeschichte, in der sich Jesus als der lebendige Sohn Gottes erweist, ist keine ungebrochene Erfolgsgeschichte, keine Siegergeschichte nach unseren Maßstäben. Sie ist vielmehr eine Leidensgeschichte, und nur in ihr und durch sie hindurch können wir Christen von jenem Glück und jener Freude, von jener Freiheit und jenem Frieden sprechen, die der Sohn uns in seiner Botschaft vom ‚Vater‘ und vom ‚Reich Gottes‘ verheißen hat.“

Christsein ist nie kulturell nackt

Der Münsteraner Theologe hält daran fest: Es gibt eine Zukunft nicht nur für die Lebenden, es gibt eine Zukunft auch für die Toten. Dieser Kosmos, dieses Leben wird nicht von einer gnadenlosen anonymen Evolution überrollt, nicht von einem gleichgültigen Schicksal verschlungen. Es gibt ein Ziel, von dem aus alle Hoffnung ins Dasein strahlt: die Auferweckung der Toten.

Heutzutage fühlen sich rechte Gruppierungen – oft völlig atheistischer Grundierung – berufen, das christliche Abendland und seine Kultur zu retten. Der erwähnte Beitrag der „Zeit“ appelliert: „In dieser Situation darf sich Europa nicht die Tagesordnung vom rechten Rand vorschreiben lassen, sondern muss eine Neubegründung wagen.“ Diese Neubegründung gibt es jedoch längst. Sie kommt nicht aus einem selbstverliebten liberalistisch-relativistischen Zeitgeist des „Alles geht“ und „Alles darf irgendwie sein“, sondern aus einem christlichen Geist. Wenn man so will – von links. Oder genauer: von unten, weil religiös angeregt von oben, von Heiligem Geist.

Johann Baptist Metz beschrieb diesen inneren Zusammenhang von Kultur und Geschichte, Kultur und Religion, Geschichte und Religion 1986 anlässlich des vierzigjährigen Bestehens der „Herder-Korrespondenz“ in einem fulminanten Vortrag. Das Christentum kann es niemals nur kulturell nackt geben, wie umgekehrt auch eine europäische Kultur ohne Christentum nackt dastehen würde. „Wer nur das Christentum kennt, kennt das Christentum eben nicht. Die Kultur, die sich das Christentum nicht vom Leib reißen kann, ist die aus jüdisch-palästinensischen und griechisch-hellenistischen Traditionen assimilierte abendländisch-europäische Kultur. Die Frage, wie es unter dieser Voraussetzung überhaupt ein kulturell polyzentrisches Weltchristentum geben kann, wie eine Inkulturation, die nicht nur taktisch verhüllte westliche Expansion ist, fällt auf das abendländisch-europäische Christentum zurück, und offensichtlich ist die Frage nach der Zukunft des Christentums nicht einfach von der nach der Zukunft des abendländisch-europäischen Christentums zu trennen. Nur wenn in ihm das christliche Gottesgedächtnis nicht versiegt, wird es sich auch anderen Kulturen rettend mitteilen und in ihnen blühen können.“

Das hat sich längst bestätigt mit der Entwicklung der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, die ohne die europäisch-abendländische Aufklärungs- und Inkulturationsgeschichte sowie deren Konsequenzen für ein universales Menschenrechtsverständnis nicht denkbar wäre. Von der lateinamerikanischen Befreiungstheologie wiederum gingen Impulse für afrikanische und asiatische Theologien aus. Das europäisch-abendländische Christentum mit dem davon abgeleiteten globalen Horizont bewegt nach wie vor das Christentum der polyzentrischen Welt, ist als Kristallisationskern alles andere als überholt.

Dank europäischer Inkulturation

Johann Baptist Metz weist ein geschichtsloses Denken zurück, das meint, ohne Herkunft und damit ohne Herkunftsidentität Zukunft und somit Zukunftsidentität entwickeln zu können. Auch kulturell hat das Vergangene – wie die Toten – seine Dignität, nicht im Sinne eines puren Traditionalismus, sondern im Sinne kritischer Überlieferungserinnerung, die den Quellen ohne sklavisches Untertanentum treu bleibt.

Allerdings ist sich Metz der Problematik der Säkularisierung, der religiösen Entfremdung vom Christentum bewusst. Er befürchtet, dass die Säkularisierungsprozesse als „Prozesse der gesellschaftlichen Entmächtigung und Auflösung von Religionen“ sich immer mehr auch als „Prozesse der Entmächtigung und Auflösung des Menschen“ entpuppen. „Immer weniger, so scheint es, ist der Mensch noch sein eigenes Gedächtnis, immer mehr nur noch sein eigenes Experiment.“ Wohin also ist der Mensch?

Metz huldigt nicht einem Fortschrittspessimismus – weder was das Technologische noch was das Kulturelle betrifft. Unglücks- und Untergangspropheten kann er nichts abgewinnen, so sehr er die Probleme realistisch sieht. Er hält daran fest, dass sich das jüdisch-christliche Erbe in der abendländisch-europäischen Welt retten lässt. Der Theologe ermuntert sogar zum „Kampf um die Zukunftsfähigkeit des Christentums“. Dann könne der europäische Geist „die ihm selbst entsprungenen Gefahren meistern“. Auch im säkularisierten Europa seien wir weiterhin in einer Suchbewegung. Nicht etwa „dümmlich arrogant nach der Abschaffung unserer wissenschaftlich-technischen Welt und ihrer Errungenschaften, nicht etwa geleitet von dem fahrlässigen Wunsch nach einer Euthanasie der Technik überhaupt, wohl aber gerichtet auf neue Formen des Umgangs mit ihr, gerichtet auf den kulturellen Hintergrund unserer technologischen Rationalität… Eben das schulden wir schließlich auch den nichteuropäischen Christentümern, schulden wir vor allem den armen Kirchen der Dritten Welt und ihren Befreiungsintentionen.“

Es mag ja sein, dass viele Hoffnungen jener Zeit, in der die Metz’sche Theologie aufblühte, ernüchtert, enttäuscht wurden. Die „Zeit der Orden“ etwa, die er als Aufbruch eines anti(spieß)bürgerlichen, prophetischen Christentums beschrieb, mündete in gewaltige Abbrüche monastischen Lebens – wie des Priestertums insgesamt. Die Solidarität einer Allianz für den Fortschritt mit der Dritten Welt wich der Frustration, dass sich nach den alten Diktatoren neue nachkolonialistische Autokraten Macht und Reichtum sicherten. In Gestalt des islamischen Dschihadismus greift unterdessen eine neue weltrevolutionäre Strömung auf alle Erdteile aus. Die zwischennationalen Kriege sind von total unübersichtlichen Weltbürgerkriegen zersplitterter Clan- und Rebellengruppen abgelöst worden – fernab jedweder Kalkulierbarkeit und „Rationalität“. Wie können, wie sollen Christen da trotzdem festhalten an einer „Mystik der offenen Augen“, an der Verheißung des Reiches Gottes?

Diese Zeit ist unsere Zeit

Gerade weil die Jesus-Christus-Geschichte keine illusionsstiftende Siegergeschichte ist, vielmehr eine Geschichte voller Schwachheit, sieht Metz – wie Paulus – darin die eigentliche Stärke, den Realitätssinn des Christlichen. Im Synodendokument „Unsere Hoffnung“ heißt es: „Wir Christen hoffen ja nicht auf uns selber, und darum brauchen wir auch unsere eigene Gegenwart und unsere eigene Geschichte nicht immer wieder zu halbieren und stets nur die Sonnenseite vorzuzeigen, wie es jene Ideologien tun, die keine andere Hoffnung haben als die auf sich selbst.“

Als Theologe der Hoffnung für hier und jetzt, aber auch für das, was als göttliche Verheißung auf uns zukommen mag, hat Johann Baptist Metz selber Geschichte geschrieben, Hoffnungsgeschichte. Denn die Hoffnung stirbt nicht, auch nicht zuletzt. Er wollte, wie er einmal sagte, von einer Zeit sprechen, „in der man dem Christentum nicht in den Rücken, sondern ins Antlitz schauen muss, wenn man von der Zukunftsfähigkeit der Menschen und der Menschheit reden will“. Johann Baptist Metz erklärte: „Diese Zeit ist unsere Zeit, immer noch.“ Und sie ist trotz der epochalen Gotteskrise auch Gottes Zeit, weiterhin.

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