Nur keine Aufregung! Weiter mit geschäftiger Kirchenroutine! Nicht einmal in Gottesdiensten wurde selbstkritisch bedacht, warum auch im letzten Jahr die Kirchen wiederum drastisch geschrumpft sind, in Deutschland allein um 660000 Personen. Der seit langem dramatische Trend setzt sich fort. Nur noch 45 Millionen der knapp 83 Millionen Bürger der Bundesrepublik gehören einer christlichen Gemeinschaft an. Bald wird es bloß die Hälfte sein – gegenüber siebzig Prozent im Wendejahr 1990. Doch die Kirchenleitungen wirken nach außen so, als ob nichts Schlimmes geschehe. Das treue Kirchenvolk gibt sich arglos seinen Gewohnheiten hin. Beschwichtigt wird der Niedergang damit, dass es sich halt um den üblichen demografischen Wandel handele. Wenn Paulus und seine Gefährten so gehandelt hätten, wäre die Christusnachfolge in den Kinderschuhen steckengeblieben, versumpft.
Wir haben es mit einem epochalen Abbruch sondergleichen zu tun – und das keineswegs nur in den säkularisierten Gegenden Europas. In den frommen Vereinigten Staaten, im urkatholischen Irland, wohin der Papst jetzt reist, verabschiedet sich die jüngere Generation vom Christentum rasant. Die Skandale des sexuellen Kindesmissbrauchs durch Seelsorger haben allenfalls die äußere Abkehr beschleunigt, die sich mit dem Verlust des Gottesglaubens innerlich schon lange vorher angebahnt hatte.
Dabei steht es um die innere Lage des Glaubens noch weitaus schlimmer, als es imposante statistische Zahlen formaler Kirchenzugehörigkeit mit gut zwei Milliarden auf dem Erdenrund vermuten lassen. Die christliche Praxis der Getauften ist über weite Strecken – in der Generation unter sechzig oft schon total – zusammengebrochen, vom Sakramentenempfang bis zur sonntäglich-österlichen Versammlung bei Eucharistie und Abendmahl. Selbst in katholischen Gegenden finden sich am Tag des Herrn häufig kaum mehr die offiziell gezählten und in der Gesamtbilanz der bundesrepublikanischen Bistümer erwähnten knapp zehn Prozent ein. Während des Jahreskreises, erst recht in der Ferienzeit, treffen sich in den städtischen Zonen nicht einmal mehr drei, teilweise weniger als ein Prozent der Getauften zum Vorgeschmack des himmlischen Gastmahls.
Ich bin spirituell, aber nicht religiös
Inzwischen ist die Datenlage von den Soziologen ausgiebig erforscht – und Besserung nicht in Sicht. Aber das Kirchenleben geht weiter, als gebe es die desaströsen Entwicklungen nicht. Unter dem Beistand emanzipierter Frauengemeinschaften werden duftende Kräuter zu Mariä Himmelfahrt gesegnet, als lebten wir noch in einem agrarisch-magischen Zeitalter, wobei ein bisschen Öko-Duft „modern“ daruntergemischt wird. Bei Bergwanderungen, Flur- oder Fronleichnamsprozessionen dürfen Männer-Musikkapellen für die – nicht selten touristische – Folklore sorgen. Und sie tun es zwecks Zusammenhalts der örtlichen Gemeinschaft gern, wenn auch die meisten Mitglieder der Ensembles sonst nie mehr im Gottesdienst auftauchen.
Die Pfarrer, Pastoral- und GemeindereferentInnen geben sich zufrieden, denn es zeige sich doch trotzdem noch von Fall zu Fall eine tiefgründigere Sehnsucht nach mehr, auf die man aufbauen könne. Im übrigen sei es gar nicht so schlimm, wenn die Leute nach Gutdünken allenfalls selten oder fast gar nicht mehr zum Gottesdienst kommen. Die Feier der Auferweckung Jesu Christi und der Hoffnung auf eigene Auferstehung sei fürs Christsein doch gar nicht so wichtig, viel wichtiger seien dagegen Caritas, Nächstenliebe, soziales Engagement. Statt Gotteshaus Gemeindeheim: Was sich da abspiele, mache den Christen aus. Da ohnehin die Geistlichen schwinden und die Pfarrgemeinden zu Großverwaltungsbezirken mit Ersatz-Wortgottesdiensten, die aber wegen Verwechslungsgefahr mit der priesterlichen Amtsvollmacht nicht so heißen dürfen, zusammengelegt werden, sei der Abbau des Liturgischen und der entsprechenden Präsenz etwas ganz Natürliches. Außerdem, es gebe ja nette Kleinkinder-Krabbelgruppen und glückselige junge Mütter, die da zusammenkommen. Und viele sonstige Veranstaltungen sowie Festivitäten, die „ehrenamtliches Engagement“ beweisen, dazu. So färbt sich jeder die Realität schön mit angeblichen „spirituellen“ Neigungen und Bedürfnissen, die christlich fromm ausgedeutet werden, auch wenn sie es gar nicht sind.
Denn auch das ist ein Trend: „Ich bin spirituell, aber nicht religiös.“ Das sagen mehr und mehr Menschen, öffentlich besonders gern Prominente der Popszene oder Filmschauspieler, die in Interviews und Homestorys nach ihrer Seelenlage befragt werden. Schon vor einem Jahrzehnt wurde jenes Phänomen in den Vereinigten Staaten erkundet. Erstaunlich viele Menschen, die keiner Religionsgemeinschaft (mehr) angehören, auch ausdrückliche Atheisten, verstehen sich als „spirituell“. Der Münsteraner Soziologe Detlef Pollack stellte fest: „Der Begriff Spiritualität bleibt nebulös.“ Manche verstehen darunter eine Distanz gegenüber kirchlichen Dogmen. Sie vertrauen auf persönlich erhebende Erfahrungen. Andere beziehen das „Spirituelle“ überhaupt nicht mehr auf irgendeine Art von Glauben, geschweige denn auf Gott.
Das kosmische Ich-Gefühl
Vor allem in der nördlichen Hemisphäre hat sich eine Art Volksreligion ohne Gott ausgebreitet. Viele sagen, sie seien spirituell in dem Sinn, dass sie eine innigste Verbundenheit mit dem Kosmos verspüren, mit einer alles durchflutenden Energie, ja mit sich selbst. Das Ich wird zum Zentrum einer Frömmigkeit, in der einst Gott verortet war. Die Sehnsucht nach Wohlbefinden kreist ums Ich, um Ich-Stärke, um die Work-Life-Balance, angereichert nicht selten mit esoterischem Beiklang voller Rührung – am liebsten über sich selbst. Aber immer noch meinen kirchliche Funktionsträger zur Selbstberuhigung, dieses gottfreie „Spirituelle“ in den eigenen Horizont einbetten, die Vielen, die nicht oder nicht mehr an Gott glauben (können), als „anonyme“ oder potenzielle Christen einberechnen zu können.
Bei dieser nebulösen Grauzone handelt es sich momentan jedoch vorwiegend um eine Übergangszone, in der sich die Betreffenden allmählich von einem tradierten christlichen Erbe ablösen, ohne gleich den endgültigen Bruch vollziehen zu wollen. Der folgt jedoch unweigerlich irgendwann, spätestens in der Folge-Generation der nicht mehr christlich erzogenen eigenen Kinder. Zurzeit spricht nichts dafür, dass sich die Bewegung umkehren könnte: von der Glaubenslosigkeit über die „spirituelle“ Zone hin zum Gottes-, gar ausdrücklichen Christusglauben.
Eine weitere Übergangszone bilden die immer noch sogar von Kirchenfernen angefragten Übergangsrituale, die von der Servicekirche gern bedient werden in der Hoffnung, so die endgültige Abwanderung vielleicht doch noch aufhalten oder wenigstens ein bisschen Christentum – fürs Kind oder fürs spätere Keimen – einpflanzen zu können. Aber auch diese Erwartung ist nach Jahrzehnten entgegengesetzter Faktenlage längst als Illusion entlarvt. Die Kirchenrituale – bis hin zum Sakrament – sollen mehrheitlich nur noch bestimmte familiäre Festlichkeiten feierlich verschönern. Sie sind geistlich leer. Nicht selten folgt einer heiß begehrten kirchlichen Trauung bald danach der Kirchenaustritt des Paares!
Hochzeit mit Cadillac
Die Katholische Nachrichten-Agentur meldete soeben, dass auch auf dem trotz extrem vieler Ehescheidungen überall kulturell mit höchsten Emotionen besetzten Feld Hochzeit mehr und mehr Ehrlichkeit Einzug hält. Die jungen Leute wollen da von der Kirche immer weniger wissen, dagegen viel von freien Ritualanbietern auf einem freien Markt. In den Vereinigten Staaten, die – wie so oft in der Pop-Kultur – globale Trendsetter der Moden sind, haben die Kirchen beim Eintritt ins Liebes-Ehe-Glück schon weitgehend ausgespielt. „Konfetti-Regen und Cadillac-Fahrten behaupten sich klar gegenüber Altar und Gottes Segen. Die Säkularisierung des Eheversprechens schreitet voran. Kaum noch kommen Hochzeitsglocken zum Einsatz… Das Phänomen ist belegbar. In weniger als einem Jahrzehnt ist der Prozentsatz an kirchlichen Trauungen um fast die Hälfte geschrumpft.“ Um das Jahr 2010 haben in Amerika noch gut vierzig Prozent aller Brautpaare eine kirchliche Vermählung gewünscht, inzwischen sind es bloß etwas mehr als zwanzig Prozent. Immer mehr wird die Vermählung in weltliche Hände gelegt, wobei Freundeskreise eine bedeutende Rolle spielen. „Kirchen sind die großen Verlierer dieser gesellschaftlichen Revolution“, heißt es.
Kirche – was nun? Soll man weiter am Üblichen festhalten, sich Sand in die Augen streuen und als Ritualagentur für jedermann zur seelischen Erhebung für kurze Zeit bereitstehen – oder doch in der Sakramentenspendung endlich die Konsequenzen ziehen gegen den Ausverkauf an einen Allerweltsritualismus? Wieviel Raubbau am Christlichen ist möglich, ohne im Eigentlichen unglaubwürdig zu werden? Eine „Notbremse“ erregt regelmäßig Anstoß und Ärgernis. Die Kirche sei arrogant. Gerade wegen der Verwässerung des Besonderen, Einzigartigen aber wäre es notwendig, wie schon in der frühen Kirche die persönliche Ernsthaftigkeit zu prüfen und Nachdenklichkeit zu erzeugen. Die ständigen Beschwichtigungen, dass irgendetwas vom Sakrament für später vielleicht doch „hängenbleibt“, sind selber zum leeren Ritual geworden, nach wie vor von magischen Relikten gestützt, die faktisch frommen Lügen Vorschub leisten.
Seltsamerweise fällt es den kirchlich Leitenden leichter, Substanzielles wie die sonntägliche Feier der Eucharistie in den zu Großverbünden mutierten Pfarreien preiszugeben, als das Heiligste als das Besondere in einer Sphäre des Heiligen zu wahren, zu der nur jene Zutritt haben, die eine persönliche Sensibilität für das Heiligste entwickelt haben oder zu entwickeln bereit sind.
Der Journalist Reinhard Bingener verlangte in einem Leitartikel der „Frankfurter Allgemeinen“, dass die Kirchen aus der Abwendung der Vielen folgern sollten, sich mehr um die „eigene Mitgliedschaft“ zu kümmern, vor allem in den Städten und unter den Jüngeren. Insbesondere seien zum Beispiel Trauungen, Taufen und Beerdigungen sorgfältiger vorzubereiten. „Künftig muss es darum gehen, die verbleibenden Ressourcen viel entschlossener dorthin zu lenken, wo die Bindung der eigenen Mitglieder gestärkt wird und wo die Kirche nach außen hin sichtbar wird.“ Der Mitgliederrückgang führe noch stärker als früher zu einem „Entscheidungschristentum“, in dem man „seine Mitgliedschaft nicht mehr aus familiärer Tradition oder aus Gründen der sozialen Adäquanz am Arbeitsplatz oder im Schützenverein aufrechterhält. Man zahlt seine Kirchensteuer deshalb, weil man das Christentum bejaht oder zumindest seine Präsenz in der Gesellschaft für so wünschenswert hält, dass man sich am Fortbestand der Kirchen beteiligt.“ Von dieser aktiven Grundhaltung sollten sich die Kirchen in die Pflicht nehmen lassen.
Abschreckung Wortgeklimper
Abschied also vom Gewohnten – Aufbruch zu neuen Ufern? Wo aber liegen diese? Doch nach wie vor im Glauben an Gott, an die Auferstehung, an das ewige Leben. Der Kern des Problems liegt nicht in einem veralteten Kirchenbild, sondern im Plausibilitätsverlust Gottes, des Zielpunkts des wahrhaft Religiösen. Wie kann Gott wieder plausibel werden – darüber hinaus ein Christusverständnis, das im Gottessohn und Menschensohn die Ikone des unbekannten, unsichtbaren Gottes wahrzunehmen fähig wird? Das ist die eigentliche Herausforderung der christlichen Glaubensgemeinschaft, nicht nur bezogen auf ihre noch treuen Mitglieder.
Da aber fehlt es an theologischem Mut, das unsägliche, für aufgeklärte, gebildete Menschen unerträgliche mythologisierende Wortgeklimper gerade auch in den Gottesdiensten zu beenden und dem – wie Paul Michael Zulehner es nannte – spirituellen „Wortdurchfall“ entgegenzuwirken. Wie oft erstarrt die sogenannte Feier der Liturgie in Geistlosigkeit, verliert sich eine bis zur Trivialität ausgehöhlte Eucharistie im puren ritualistischen Messelesen mit vermeintlich volkstümlichen Erbauungsreden, die eher Zorn wecken als Erbauung! Das beginnt schon bei einer gedankenlos „nachgebeteten“ Gebetssprache, die nach Jahrhunderten empirischer Naturforschung und Wissenschaft so tut, als könne Gott trotzdem in mechanistischer Weise in die Welt eingreifen, während eigentlich doch „alle“ wissen, dass es nicht so ist, wie die Gewohnheits„frömmigkeit“ unterstellt, dass es sei. Abschreckung statt Attraktion. Der erste Schritt zur Abwendung beginnt mit der Erfahrung und dem Urteil: langweilig, öde, anspruchslos, geistlos, belanglos. Wie entkommen wir dieser grundlegenden Falle für Wahrhaftigkeit?
Wo begann die Ewigkeit?
Ja wie kommt man als moderner Mensch in christlichem Kontext überhaupt erst einmal wenigstens zu einem ungläubigen Staunen über das Wunder der Welt, des Daseins, über das Wunder der sich selbst evolutiv organisierenden Materie, einer autonomen Energie in einem autonomen und trotz aller deterministischen Gesetzlichkeiten anscheinend zu gewissen Spontaneitäten fähigen Kosmos, in dem sich Leben selber steuert bis ins Geistige, bis zum reflektierenden Bewusstsein eines beim Homo sapiens hochkomplex verschalteten Gehirns? Wie groß, wie klein ist der Schritt von einem ungläubigen zu einem gläubigen Staunen, dem ein Dasein aus dem puren Nichts, das es womöglich niemals gab und niemals gibt, noch weniger plausibel erscheint als etwas Göttliches, das es vielleicht doch gibt? Ewigkeit? Wo liegt ihr Anfang, der Anfang des Anfangs? Und wenn es keinen Anfang gibt, womit hat es dann „begonnen“ vor allem Anfang, vor Raum und Zeit voller Werden und Vergehen und nochmals Werden? Letzten Endes geht es darum, sich an den Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft und an den Paradoxien von Sein und Zeit ahnend so abzuarbeiten, dass daraus eine intuitive Einsicht erwachsen kann in das Mysterium des Ganzen.
Im Gottesdienst wird theoretisch das Mysterium des Glaubens beschworen. Wo aber wird es da wirklich präsent? Der Neoritualismus, der sich über die folkloristische Sakramentenfrömmigkeit gelegt hat, tötet die so notwendige Nachdenklichkeit für eine moderne Innerlichkeit ab, hemmt geradezu die mystische Erfahrungswelt, die sich einzig und allein durch Achtsamkeit – und oftmals Einsamkeit – entfalten kann. Und das bedächtig, langsam. Gemeint ist nicht eine introvertierte, auf sich selbst bezogene Wellness-Achtsamkeit, sondern eine Achtsamkeit nach außen, extrovertiert ausgerichtet auf jenes Geheimnis hin, in dem wir leben, uns bewegen und sind, doch nicht nur wir. Auch die Gestrigen und die Zukünftigen, die völlig anders sein und leben und vielleicht auch glauben werden als wir.
Im Sinne des gläubigen Staunens war das Christentum nie ein Entscheidungschristentum, sondern ein Erkenntnischristentum, das sich aus einer natürlichen Theologie der Welt nährte, aus der Einsicht in die Dinge, die sind, wie sie sind, die sich verändern, wie sie sich verändern, die aber nicht sein müssten, wie sie sind – und die vielleicht tatsächlich noch ganz anders sind, als wir sie mit den heutigen Möglichkeiten unserer Sinne, mit unseren vorläufigen wissenschaftlichen Theorien und spekulativen Hypothesen erfassen, ohne sie wirklich befriedigend zu erklären. Gott ist gewiss kein Lückenbüßer der kognitiven Schwachstellen unserer Logik. Er ist selber die Lücke, die wir nicht füllen, jene Leere, jenes Nichts, das uns umfängt, wenn wir nur bereit sind, uns diesem auszusetzen. Glauben – das ist mehr ein permanentes Hineinwachsen ins Tuwort, ins Verb glauben als eine substantivierte „Entscheidung“ ein für alle Mal.
In christlicher Perspektive hat dieses radikale, ungemütliche Sich-Aussetzen, diese Entäußerung einen Namen: Jesus Christus. Er ist etwas Anderes als nur ein historisch bedeutendes moralisches Vorbild einer stets ferneren Vergangenheit. Mit dieser Gestalt verkörpert sich ein Erkenntnis- und Lebensprozess, dessen Ursprung sich durch die Geschichte zieht und Geschichte konstituiert – immer wieder im Wandel, in Kontinuität und Brüchen. Das ist Kirche, das soll sie sein: als ein Sekundärgeschehen des Glaubens selber im Prozess, um den Christusprozess in Gang zu halten, ja stets neu in Gang zu bringen. Kirche hat als selber geschichtliche Erscheinung für dessen Geschichtlichkeit zu sorgen. Christus als Geschichte, Gott als Geschichte, Gott im Werden durch den werdenden, evolutiven Christus.
Die Sakramente sind in diesem Kontext am allerwenigsten „Rituale“ zur Erbauung, vielmehr Präsentationen des Göttlichen zur Erschütterung der Existenz. Sie sollen den geschichtlichen Gottesprozess in materiellen Zeichen abbilden und einfangen, um die Empfangenden auf das Geistige darin auszurichten, auf das Ewige, das ins Zeitliche scheint.
Geburtshelfer Kirche
In diesem Sinn aber soll Kirche mit ihren leitenden Repräsentanten ein Geburtshelfer der Gottesgeburt im Menschen sein. Die geistliche personale Nähe bleibt wichtig. Auf den Priester kommt es sehr wohl an, auf den Pfarrer vor Ort, auf Mönche und Nonnen, die aus einer Atmosphäre des gläubigen Staunens leben, um andere dazu anzuregen, die Routine des Daseins zu unterbrechen, Ausschau zu halten nach dem Nicht-Trivialen, Nicht-Banalen. Ein Staunen freilich nicht gegen die Welt und den Weltsinn, sondern mit ihnen. Das Christentum ist eine geschichtliche Religion der Veränderung – oder es ist nicht. Wird es den Mut zur Geschichtlichkeit wiederfinden getreu jenen zeitgeschichtlichen Erfahrungen, die Menschen Tag für Tag machen? Alles Leben beginnt mit einer förderlichen Atmosphäre, auch das religiöse, das christliche Leben. Es ist die Atmosphäre des Staunens über das Vordergründige hinaus. Zu vieles wurde im Kirchenleben selber banal und trivial – und daher zusehends unglaubwürdig. Glaubwürdigkeit aber ist nicht herbeizupredigen oder herbeizumissionieren mit ein bisschen mehr Dozieren von Glaubens-Katechismus-Elementarwissen. Es sind zuerst innere Prozesse, die die Menschen ergreifen und bewegen.
In der Grau- und Übergangszone weg von angestammter Religiosität hin zu atheistischer Spiritualität liegen womöglich doch noch einige wenige Energiefelder, die aus einem ungläubigen Staunen ein gläubiges Staunen simulieren, eventuell sogar stimulieren können. Um diese Bereiche ausfindig zu machen, braucht es entschieden mehr kirchliche Energie – Veränderungswillen im Personal wie im Volk, Mut zu echter Glaubensreform aus der Tiefe der Erkenntnis von Sein und Werden, in Wort und Sakrament.
Wir laden unsere Leserinnen und Leser herzlich dazu ein, sich an der Diskussion über den Zustand und die Zukunft der Kirche wie des christlichen Gottesglaubens zu beteiligen.