Wer war Jesus von Nazareth? In der Literatur findet sich ein mannigfaltiges Echo auf diese Frage. Bis in die Gegenwart hinein haben sich Schriftsteller der Jesus-Figur gewidmet: fasziniert, berührend, irritierend, auch mit Sympathie. Patrick Roth, der eine dreibändige „Christustrilogie“ vorgelegt hat, die zuletzt, mit Kommentar versehen, neu veröffentlicht wurde, fasste seine Annäherung mit den Worten zusammen: „Niemand wie Er!“
Der deutsch-iranische Dichter SAID, der in dieser Zeitschrift scharf geschliffene Lyrik und Prosa über die Gotteswahrnehmung beziehungsweise Wahrnehmung des schweigenden, abwesenden Göttlichen veröffentlicht, hat Jesus selbst sprechen lassen: „Ich, Jesus von Nazareth“. Es ist ein aufwühlender Monolog, der bereits einmal als Teil der west-östlichen Betrachtungen „Das Niemandsland ist unseres“ erschienen ist. Im vorliegenden Band wird mit prophetisch-differenzierendem Ausblick eine Art Bergpredigt präsentiert, die sich die „Ich-bin“-Worte des Neuen Testaments zu eigen macht. Dieser Jesus, der bei SAID Pazifist, Wanderprediger, Armer, Gekreuzigter und Provokateur in einem ist, spricht aus der Perspektive des Auferstandenen. Wieder und wieder redet er vom „Auferstehen“, das als die Auferstehung Toter zum Gericht auch zu den wesentlichen Glaubensinhalten des Koran gehört. Gleich zu Beginn stellt Jesus bei SAID klar: „ich auferstehe immer, so oft es mir nötig erscheint.“
Die Hoffnung auf neues Leben ist bei SAID eine Wirklichkeit, die weite Horizonte öffnet. Der Dichter, der seine Kindheit und Jugend im Iran verbracht und der die verbrecherischen Verführungen des Religiösen und dessen Missbrauch durch politisch Mächtige aus der Nähe erfahren hat, lässt Jesus handfest und selbstbewusst reden; er bringe Feuer, Aufruhr, Sturm. Das erinnert an den Satz im Lukasevangelium: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. Wie froh wäre ich, es würde schon brennen“ (12,51). Es ist ein prophetisch-elegischer Klang in diesen Worten, der mit seinen polarisierenden Begriffen bewusst dem Jetzt der Welt und der Religionen etwas anderes gegenüberstellt: Barmherzigkeit, Wahrhaftigkeit, Geist, Liebe – und das beginnt bereits auf Erden. SAIDs Jesus spricht, wie es einem Auferstandenen zukommt, auch vom „himmel“: „meine auferstehung ist eine zärtliche und radikale annäherung an den menschen, ohne tiara, ohne purpur. ich brauche citoyens, die nicht auf das gesetz achten, aber tadellos kämpfen für die gerechtigkeit. bis unser verlangen jedem klar ist: keine paläste mehr, keine hütten, ein licht für alle. und dieses unbesiegbare licht werde ich sein, jesus von nazareth, sohn einfacher leute.“
Diese literarische „Predigt“ ist apokalyptisch, erschütternd, gegen jedwede auch religiös beschauliche Selbstgenügsamkeit. „mein name ist revolte“, ruft dieser Jesus-Messias, der die Nähe zu den Ärmsten, Ausgegrenzten, Gauklern sucht. Wie der historische Jesus übt er aus einer mystischen Verbundenheit mit dem Geheimnis des Lebens Kritik an der satten Gesellschaft mit ihrer Oberflächlichkeit: „ihr verratet mich schon seit über 2000 jahren.“
SAIDs Jesus ist der Unerwartete, der Fremde, der „gesandte gottes“. Dessen Wort ist Macht und drängt zum Handeln. Das Dichterwort schreibt biblisch verfasstes Wort neu. Es wird zum fremden, energiegeladenen Bildwort, zum erhellenden Blitz, der Liebe und Hoffnung als verändernde Kräfte bezeugt. „ich rufe nur meine liebe in die welt hinaus, bis sie zum aufruhr wird und euch erfasst.“ Damit endet diese „Predigt“.
Der Verlag hat dem Büchlein ein Nachwort des Theologen Erich Garhammer beigefügt: „SAID in der Spur des barfüßigen Juden Jesus“. Es ist eine Deutung dieser literarischen Jesus-Rede. Der Text enthält jedoch weit mehr: Er ist eine sorgsame literarische Meditation über einen selbst dem Christentum allzu oft fremden, befremdlichen, doch gerade deshalb alles andere als harmlosen, lieblichen Jesus von einem Autor, der im islamischen Kontext aufwuchs und der von sich selber einmal gesagt hat, dass er „keine Religion ausübt“. Doch der Nazarener bewegt ihn. Diese andere Bergpredigt hätte es verdient, im christlichen Gottesdienst vorgetragen zu werden.