Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ist der Osten Europas dem Westen noch weitgehend unbekannt. Das bedauert der langjährige Geschäftsführer des kirchlichen Osteuropahilfswerks „Renovabis“, Gerhard Albert. Das östliche Europa habe sich in dieser Zeit von Grund auf verändert. Den „alten Osten“ gebe es nicht mehr.
Zur Fremdheit trage immer noch die Gleichgültigkeit des Westens bei sowie eine gewisse Selbstüberschätzung. Lange blieb unbemerkt, dass die Abwehr der unwillkommenen Vorschläge aus dem Westen zu einer Verhärtung und Überhöhung der eigenen osteuropäischen Positionen führte. „Fundamental trennend wirkt immer noch die lange und intensive Erfahrung Osteuropas von Gewalt, Terror, Diktatur und Unfreiheit im 20. Jahrhundert“, so Albert im Newsletter „Salzkörner“ des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Die russische Besatzung der Krim, die Destabilisierung der Ukraine sowie die andauernde schlechte Wirtschaftslage in den mittel- und osteuropäischen Ländern hätten das Hoffnungsbild des „neuen“ Europa infrage gestellt. Auch dass die Menschen in Osteuropa die EU immer skeptischer sehen, enttäusche die Hoffnungen des Westens.
In den letzten Jahren sei die Verständigung zwischen Ost und West in Europa schwieriger geworden, beobachtet Albert. Im Westen gewinnen die alten Vorurteile wieder Raum. Es bestehe die Gefahr, dass die Verärgerung über ein neu erwachendes stark nationales Denken in Osteuropa viele Menschen Westeuropas abschreckt und das Interesse an den Nachbarn schwächt. Dabei seien West und Ost in vielen Bereichen aufeinander angewiesen, etwa wenn man an die Arbeit der osteuropäischen Pflegekräfte im Westen denkt.
In dieser paradoxen Situation von wirtschaftlicher Nähe und emotionaler Distanz brauche man rücksichtsvolle Nachbarschaft und persönliche Begegnung, um dauerhaft Freundschaft schließen zu können. „Wenn man sich von der Erwartung löst, dass gesellschaftliche Entwicklungen und mit ihnen der Weg von Kirche und Religion sich in West und Ost unter dem Einfluss von ‚Europäisierung‘ immer mehr aneinander angleichen, dann muss die Bereitschaft wachsen, Verschiedenheiten zunächst zu ertragen und schließlich auch anzunehmen“, erklärte Albert.