Die katholische Weltkirche ist unentrinnbar mit dem entsetzlichen sexuellen Kindesmissbrauch durch Geistliche konfrontiert. Schockierend und empörend sind die Vorfälle und Tatbestände; schlimm ist die Leidensgeschichte jedes Opfers. Niemanden kann das gleichgültig lassen – gerade wenn er Segen und Not der real existierenden Kirche aus der Nähe kennt und im eigenen Leben, ja am eigenen Leibe spürt. Unsereiner als Priester ist erst recht zutiefst beschämt über die eigene „Branche“, erschüttert und empört bis zu Tränen der Trauer und Wut. Auch der geringste Hauch der Abschwächung oder Entschuldigung ist fehl am Platz. Die Kirche steht unter dem Wort Gottes; sie zuerst muss sich an den hohen Ansprüchen messen lassen, die sie vermittelt. Jedes Verbrechen muss bestraft und gesühnt werden; es bedarf nicht nur der Aufklärung jedes Einzelfalls, es braucht eine systemische Aufarbeitung – und dazu den Blick des Evangeliums.
Enttäuschung, Trauer, Empörung sind auch deshalb so groß, weil der Missbrauch sich ausgerechnet in dem Bereich abspielt, in den sich das geistliche Amt in besonderer Weise normativ eingemischt hat: im Intimbereich von Sexualität und Liebe. Gerade hier, wo man kirchlicherseits so genau wusste, was zu tun und zu lassen ist und was man mit höchster Autorität und schweren Sanktionen belegte, offenbart sich nun das Allzu-Menschliche und wirklich Böse mitten in den eigenen Reihen! In der generationenlangen Fixierung auf Sexual- und Ehemoral freilich zeigt sich nicht nur ein einseitig zölibatärer und männlicher Blick. Dahinter steckt vielmehr das grundsätzliche Problem, dass Kirche in der Neuzeit immer einseitiger bloß als Werteagentur und moralische Anstalt verstanden und praktiziert wurde: Jesus als Lehrer der Moral, Gott als richterlicher Sittenwächter, seine Zehn Gebote als Sittengesetz vor allem für das Sexuelle, Christsein als bürgerliche Anständigkeit usw. Derart aufs Moralische fixiert, ist der Schock über das Unmoralische in den kirchlichen Führungsetagen umso größer.
Viele Fragen stehen an, eine davon lautet: Könnte es sein, dass das Bild einer Kirche als „Moralanstalt“ endgültig zerbricht und zu verabschieden ist? Könnten die abscheulichen, unmoralischen Geschehnisse in den eigenen Leitungsämtern dazu beitragen, kirchliche Selbsterhöhung und amtliche Selbstherrlichkeit loszuwerden und stattdessen die Mitte und Sendung der Kirche neu ins Auge zu fassen? Nicht moralisches Wohlverhalten war ja der Maßstab Jesu in seiner Heilszusage an die Menschen (und zumal an die Kinder!), sondern Gottes Gerechtigkeit, seine Feindesliebe „jenseits von Gut und Böse“. Deshalb suchte er die Nähe der moralisch Gescheiterten; deshalb kritisierte er scharf die Heuchelei der damaligen Moralapostel und forderte Umkehr, Reue und Sühne. Maßstab dabei war ihm jener Gott, der seine Sonne aufgehen lässt über „Gute und Böse“. Dafür gab er sein Leben. Die Jesusbewegung, aus der die Kirche entstand, war von Anfang an ein „Acker voll Unkraut und Weizen“. Sie ist nicht primär moralische Instanz, sondern Ort von Gottes rettender und richtender Barmherzigkeit.
Im Unterschied zu aller Moral, die natürlich wichtig ist und mit der freien Selbstbestimmung jedes Menschen zu tun hat, eröffnet das Evangelium eine Perspektive darüber hinaus. Treffend sagte Papst Franziskus schon beim Amtsantritt von sich, er sei „ein Sünder, auf den Gott geschaut hat“ – ein Satz, der jetzt erhärtet sein will. Wenn jeder Mensch, zumal wir Kommentatoren, diesen Satz auch selbst sagen und leben würden, wären wir jener Jesus-Revolution schon näher, in der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit schließlich zusammenfinden. Indem die Kirche ihre Rolle als moralische Anstalt einbüßen muss, kann sie sich zu dem erneuern (lassen), was sie ist: Gottes Kraft in menschlicher Schwachheit, ganz auf der Seite der Opfer und die eigenen Tätergeschichten voller Scham, Reue und Umkehr im Blick.