Wie sehr Christine Lavant (1915–1973) die letzte Dichterin deutscher Sprache von Rang ist, die sich ausdrücklich in und an Christlichem abarbeitet, kommt erst in diesen Nachlass-Gedichten ans Licht. Nicht nur dass sie die innere Nähe von Gedicht und Gebet, von Glaube und Sprache in ihrem Werk schöpferisch noch auszudrücken vermag. Ebenso sehr ist es die fortschreitende Entfremdung zwischen beiden, die sie gestaltet und ausdrückt. Dabei ist diese Autodidaktin, die aus Gesundheitsgründen die Schulausbildung abbrechen musste, keineswegs nur das wilde Naturtalent, das um sein Leben schreibt. Die ausgesprochene Vielleserin reflektiert ihr Dichten in bewegenden Texten: „Scham, Ekel und Angst“ erkennt sie als Lebenslast und Schreibantrieb. „Ich will vom Leiden endlich alles wissen“, beginnt eines ihrer zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte.
Hier werden wenigstens 484 bisher unveröffentlichte lyrische Texte publiziert. Darin zeigt sich eine Dichterin, die nicht nur die „Schmerzensfrau“ ist, die sich inmitten unglaublicher Armut als Strickerin durchschlägt, den Ehemann mit ernährt und solcher Wirklichkeit schreibend auf den Grund kommen will. Liebesgedichte voll erotischer Kraft beispielsweise, erwachsen aus einer fünfjährigen Liebesbeziehung mit dem Maler Werner Berg, korrigieren das gängige Bild einer letzten Pietà. Aufständisch ist Christine Lavant, die meisten Gedichte tragen Zeichen kraftvoller Empörung – nicht zuletzt in Gestalt psalmähnlicher Gebete.
In allen Texten rumort dieses bohrende Fragen, dieser Gotteshader. In Verbindung mit genauester und magischer Naturwahrnehmung bekommt Christine Lavants Lyrik ihren unverwechselbar erdverbunden-knorrigen und so auch mystischen Klang. Sie las Rainer Maria Rilke und vor allem mystische Autoren, mit denen sie ihr Leben und Dichten gestaltete, gerade etwa Meister Eckhart. Immer wieder fand sie fördernde Menschen, die ihr bewältigen halfen, was sie einmal „meine grauenhafte Selbstpreisgabe“ nennt.
Im vorletzten Gedicht des reichhaltigen und hervorragend das Schaffen erschließenden Bandes – „Selbstzuspruch“ – heißt es gleich zu Beginn: „Geschöpf aus Trauer und aus Einsamkeit / versäume nichts / sprich mit gespaltner Zunge / hinauf zum Vater und hinab ins Herz / der wilden Erde… / Du darfst von Furcht zu Ehrfurcht übergehen / doch erst nachdem du alle Wildnis weißt / und abgefürchtet hast und eingeordnet…“