Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer und schließ die Tür zu, um zu deinem Gott zu beten, der im Verborgenen ist, und dein Gott, der dir Vater und Mutter ist und ins Verborgene sieht, wird dir vergelten.“ Die Kammer, von der Jesus in der Bergpredigt spricht, ist die Vorratskammer. In jedem israelitischen Haus gab es eine Vorratskammer, die dunkel war, das heißt keine Fenster hatte, und die man abschließen konnte – übrigens der einzige Raum in einem israelitischen Haus, den man abschließen konnte. Es handelt sich also keineswegs um einen gottesdienstlichen Raum, und von liturgischer Weihe kann überhaupt nicht die Rede sein.
Es war im Gegenteil eine Vorratskammer, in welcher es nach Öl und Wein roch, nach Arbeit und Leben und Freude und nach Dankbarkeit. In diese Kammer nun sollte man sich zurückziehen, um dort zu beten. Das Gebet erträgt kein Publikum. Mit leeren Händen stehe oder sitze ich da, ohne Gott etwas vorzuweisen – außer dem, was er mir selber gibt. In dieser Kammer in der es so irdisch duftet, bin ich ganz dem Vater, der Mutter, das heißt jenem Gott ausgeliefert, der ins Verborgene sieht. Wehrlos, machtlos und ganz unmittelbar – mit leeren Händen vor Gott.
Hermann-Josef Venetz in: „Die Bergpredigt“ (Topos plus, Kevelaer 2018)