Am Anfang steht ein Gedicht. Die Lyrikerin Ulla Hahn eröffnet den Jubiläumsband des CIG mit einer Meditation über „ihren“ Gott und gestattet uns dabei einen Blick in ihr Arbeitszimmer:
Ist was? frag ich
die Freunde wenn sie ihn
sehen über meinem Schreibtisch
(neben Schiller und John Donne)
den Mann den jeder
man kennt den
ernsten Mann am Kreuz
den noch keiner lächeln sah
Rund 400 Seiten weiter, am Ende des Bandes, am Ende auch eines glasklaren Beitrags des Bochumer Exegeten Thomas Söding, der darauf beharrt, dass das Christentum mehr ist als „Ritus und Ethos“, heißt es: „Der lebendige Gott ist der wahre Gott. Er ist der Gott der Erwartung und der Zukunft, der Reform und der Bekehrung. Er ist der Gott der Auferstehung, der Gott Jesu Christi. So steht es im ältesten Text des Neuen Testaments, im Ersten Thessalonicherbrief (1,8–10). So bleibt es heute aktuell.“ Die Anfangsverse von Ulla Hahn und die Schlusssätze von Thomas Söding klingen nicht spektakulär. Sie zeigen aber eindrucksvoll auf, dass in allem Gott-Suchen und Zweifeln, in allem Umhertasten, Hoffen und Bekennen es für die Christen letztlich um Persönliches geht. Um eine Person, um eine bestimmte Historie und um unsere Beziehung zu ihr, unser Ja oder unser Nein. Das klingt nach gut 2000 Jahren Geschichte, die wir die „christliche“ nennen, selbstverständlich – und ist es keinesfalls!
Das große Fragezeichen
Von diesem in Frage gestellten, frag-würdigen christlichen Erbe sprechen die meisten der 135 Autorinnen und Autoren des Bandes. Sie sprechen in allen Tonlagen, in Dur und in Moll, manchmal auch chromatisch, selten atonal – und können doch von dem Mann aus Nazaret nicht lassen!
Wofür das alles? Dein Leben
Leiden Sterben
Für den
der fragt
sagt er und lächelt
befreit
von seinem Kreuz
nimmt mich in seine Arme
Die Verse von Ulla Hahn inspirieren nicht nur einen Lyrik-Enthusiasten. Ganz beiläufig lassen sie auch den Gedanken aufkommen, dass das von Johannes Röser, dem Chefredakteur dieser Zeitschrift, herausgegebene Werk mit dem großen Fragezeichen nach „Gott“ an eine reichhaltige, nahrhafte Gedichtsammlung gemahnt. Wer einen frisch erworbenen Gedichtband in die Hände nimmt, schaut zumeist auf die Überschriften, blättert anfangs kreuz und quer in dem Band – und beginnt dann mit der Lektüre des Gedichts, das ihn spontan am meisten anspricht.
Wer das Jubiläumsbuch in die Hand nimmt, merkt zunächst, dass der Herausgeber dreizehn thematische Abteilungen eingerichtet hat: „Der Unbekannte, fern und nah“, so die erste Abteilung, in der unter anderem der Priester und Mystikkenner Gotthard Fuchs, der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers, die Theologin Renate Kern, der Jesuit Andreas R. Batlogg und auch Johannes Röser ihre Gottes-Gedanken entfalten. „Gott ist unwahrscheinlich, unlogisch, aber noch unwahrscheinlicher, noch unlogischer ist Nicht-Gott“, so Röser. Auf Seite 47 ist dieser Satz, in dem man vielleicht ein Koan (eine paradoxe, nur meditativ zu erfassende Aussage) und einen „negativen“ Gottesbeweis sehen kann, zu finden. Er würde auch in die vierte Abteilung passen, in der es um philosophische Weitungen, um „Das Jenseits im Diesseits – das Sein und das Nichts“ geht. Eine solche Überschrift zeigt an, dass in dem Band mit hohem Einsatz gespielt wird. Das sollte niemanden erschrecken. Die versammelten Texte sind engagiert, im besten Sinne anspruchsvoll, aber keinesfalls nur Fachleuten zugänglich.
„Du musst dein Leben ändern!“
Die vierte Abteilung beispielsweise eröffnen die Beiträge des Schriftstellers und Regisseurs Patrick Roth und des Berliner Philosophen Volker Gerhardt. Beide sind für die Leser des CHRIST IN DER GEGENWART keine Unbekannten. Und an dieser Stelle ist die Parallele zu einem Gedichtband mehr als nur Rhetorik, denn sowohl die vier Seiten des Verfassers von „Sunrise“ als auch die elf Seiten des Philosophen entfalten ihre Kraft und ihren Zauber bei einer meditativen Lektüre. „Eine Zeitenwende bahnt sich an, wenn die Gegensätze unversöhnlich auseinanderklaffen“, so Patrick Roth in seinem Beitrag mit dem rätselhaften Titel „Der Untergang des Hauses Eli“. Darin finden sich Sätze wie: „Kollektiv und individuell sind wir … von den Legionen eines power-and-pleasure-besessenen Materialismus belagert, innerlich ausgehungert, der höchsten geistigen Werte beraubt, dabei bis aufs Messer zerstritten. Das war auch die Lage Jerusalems vor dem Untergang im Jahr 70.“ Die Sätze klingen apokalyptisch – und wollen doch unser Bewusstsein schärfen. Gleiches gilt für die herausfordernde Aussage „Ein Mann, eine Frau, die keine Beziehung zum Unbewussten hat, kann jede Sekunde Opfer einer fanatischen Idee werden, kann mitgerissen werden von irgendeinem pseudointellektuellen Virus.“ Solchen Anmerkungen und Zumutungen lässt sich nicht mit einem Schnelldurchgang begegnen, vielmehr mit einem „Deep Reading“; mit einer tiefen Lektüre, die dann nachwirkt – und uns wie weiland Rilke zuruft: „Du musst dein Leben ändern!“
Das gilt auch für den verhältnismäßig langen Aufsatz von Volker Gerhardt, für die neun Hinweise auf – man lese und staune! – „Die Gegenwart Gottes“. Daraus sei ein einziger Satz entnommen, der beim Bedenken der komplexen Frage nach Gewinn und Verlust der Säkularisierung (der neuzeitlichen „Verweltlichung“ des Alltagslebens) gleich am Anfang mit einem kleinen Paukenschlag verkündet: „Statt in der Säkularisierung die Befreiung zur eigentlichen Bestimmung eines alles Wissen sowohl tragenden wie übersteigenden Glaubens zu erkennen, wird in ihr ein definitives Ende der Religion gesehen, das den Tod Gottes zu einer historischen Tatsache macht.“ Warum diese Sicht als ein „epochaler Irrtum“ bezeichnet werden muss, das führt Gerhardt glänzend und nachdrücklich aus.
Die Frage, wie der Großbegriff „Säkularisierung“ zu verstehen ist, ob die Freisetzung der Welt von religiösen und klerikalen Verstiegenheiten dem Glauben günstig ist oder nicht – dieser Punkt wird in vielen Beiträgen des Jubiläumsbandes aufgegriffen und bedacht. So auch in dem klugen, wichtigen Beitrag des Dortmunder Systematikers Thomas Ruster, bei dem man sich vor dem vielleicht etwas hochgetunten Titel „Gott, die Kontingenz und der Geist“ nicht fürchten sollte. Ruster gelingt es auf gut drei Seiten, das Dilemma der klassischen Gotteslehre darzustellen und zugleich einen möglichen Ausweg anzudeuten. Die im Titel erwähnte „Kontingenz“ weist hierbei auf das Offene, Unbestimmte, wenn man so will, das Zufällige unserer Existenz hin.
Gott – Zufall – Geist
In der, wie Ruster sagt, „vormodernen“ Gesellschaft wurde Gott die Funktion der „Kontingenzreduktion“ zugewiesen. Gott war der Absolute, der Unveränderliche, der Allmächtige. Von ihm erwartete man das erste und das letzte Wort und all das dazwischen im Grunde auch. Diese Weise der „Kontingenzreduktion“ verliert in der modernen Gesellschaft ihre Plausibilität. Wir haben ja die Medizin und die Versicherungen, die Therapeuten und die Paradiese der Konsumindustrie. Gott also überflüssig? Ruster weist – biblisch wohlbegründet! – darauf hin, dass es heute nicht in erster Linie darauf ankommt, die Kontingenz stillzustellen und zu bannen, sondern sie zu öffnen und zu erschließen. „Das besagt Trinität: Gottes Sein ist nicht abgeschlossen. Seine Zukunft, zugleich die Zukunft seiner Schöpfung ist unbestimmbar – auch für ihn selbst.“ Ein solcher Satz mag vielen unmöglich vorkommen, anarchisch anmuten. Doch ist der Theologe überzeugt: „Die Rede von Gott hat sich um 180 Grad zu wenden. Gelingt ihr das, dann hat der christliche Glaube womöglich die besten Zeiten noch vor sich.“ Man lese also (und staune): Thomas Ruster, „Gott, die Kontingenz und der Geist“!
Die schwierigen Zehn Gebote
Lediglich zwei Abteilungen wurden hier in Andeutungen vorgestellt, und der Reigen der klugen Fragen wie der leisen, aber vernehmlichen Zuversicht setzt sich in den übrigen Abschnitten fort. „Stadt – Land – Gott“ heißt eine weitere Abteilung, eine andere: „Seele und Leib suchen den Sinn“, oder auch „In moderner Gesellschaft“. Hier finden wir den deutsch-iranischen Dichter SAID und seine Verse über einen geheimnisvollen Besucher mit einem „Kassiber“. Hier entdecken wir die Passauer Politikwissenschaftlerin Barbara Zehnpfennig, die bei der Jubiläumstagung von CHRIST IN DER GEGENWART in Dresden einen inspirierenden Vortrag über die Metanoia, die Sinnesänderung, hielt. Hier können wir den Gedanken der Romanautorin Tanja Kinkel über „Die schwierigen Zehn Gebote“ folgen.
Es sind ernste Themen und gewichtige Beiträge, und doch lässt sich nicht selten auch Poetisches, gar Verschmitztes aufspüren. So im Beitrag des Chefredakteurs der „Herder Korrespondenz“, Volker Resing. In Berlin, der deutschen Metropole, die sich mit dem christlichen Glauben so schwertut, erzählt der Journalist gerne Anekdoten aus dem heimatlichen Borghorst, einem kleinen Städtchen im „katholischen Münsterland“. Er erzählt zum Beispiel von einem Bekannten, der ihm ganz aufgebracht berichtete, dass nicht einmal zu Weihnachten die neugotische Kirche in Borghorst noch ganz voll war. In der letzten Bank waren Plätze frei! Resing fragt den Freund, wo er denn gesessen habe. Er antwortete: „Natürlich war ich nicht da, mir hat das meine Tante gesagt.“ Eine so nette wie vielsagende Anekdote! Und Volker Resing wägt die Vor- und Nachteile des „Gewohnheitschristentums“ ab, um letztlich zu schließen: „Die Gottsuche muss oder darf jeder selbst beginnen.“
Dialog mit dem Mann am Kreuz
Das eröffnende Gedicht von Ulla Hahn gipfelt in einem Dialog mit dem „ernsten“, dem „lächelnden“ „Mann am Kreuz“. Die Dichterin weitet ihren Blick, sorgt sich nicht nur um das eigene Seelenheil. Sie fragt:
Und meine Freunde?
Die „johanneische“ Antwort lautet:
Bring sie doch mal mit.
Auch Miriam, Shixin, Fatima und Keiko.
In meines Vaters Haus
sind viele Wohnungen.
Das von Johannes Röser zusammengestellte Werk, die 135 Beiträge auf 410 Seiten, sind eine große Einladung zu einer zeitgemäßen, herausfordernden Gottsuche. Diese Gottsuche kann niemals ohne Spannungen, ohne „Ambivalenzen“ – so der junge Münsteraner Dogmatiker Michael Seewald – vonstattengehen. Doch ein „Christ in der Gegenwart“ kommt ohne eine gehörige Portion an Gottessehnsucht und Gottsuche nicht aus. Es gilt, was Volker Gerhardt pointiert feststellt: „Die Kirche ist nichts ohne den Glauben, und der Glaube nichts ohne Gott.“ Wer Gott sucht, der findet in dem Jubiläumsband viele Fingerzeige, Anregungen, Provokationen.
Gott? - Die religiöse Frage heute
Hg. von Johannes Röser
Verlag Herder, Freiburg 2018, 416 S., 28 €
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