Zu den schönsten Anekdoten der Wissenschaftsgeschichte zählt der Rat eines befreundeten Physikers an den jungen Abiturienten Max Planck, das Studienfach Physik zu meiden, da es in dieser Disziplin kaum noch etwas zu erforschen gäbe. Das war 1874, und tatsächlich schien im Großen wie im Kleinen alles Wesentliche gesagt. Schon zwei Jahrhunderte zuvor hatte Isaac Newton spektakulär aufgezeigt, welche Kräfte die Natur formen und bestimmen, die Atome hingegen konnten nichts anderes sein als winzigste Billardkugeln, die diesen Kräften gehorchten.
„Jetzt“ ist nicht gleich „jetzt“
Aber es sollte anders kommen. Mit Beginn des 20. Jahrhunderts rüttelte eine Garde genialer Physiker, zu denen auch Max Planck gehörte, an den Grundlagen der klassischen Physik. Ihr Blick auf das kosmisch Große wie das atomar Kleine veränderte alles. Insbesondere die deterministischen Konzepte, die Vorstellung von einer geschlossenen, exakt zu berechnenden Welt, wurden auf eine geradezu verstörende Weise unterlaufen. Die neuen physikalischen Entwürfe sprachen in der Relativitätstheorie von Raum und Zeit, von Masse und Energie als Größen, die keinesfalls in sich ruhen und voneinander unabhängig sind. Selbst ein so schlichter Begriff wie „Gleichzeitigkeit“ geriet prominent in den relativistischen Strudel. Denn was man als gleichzeitig erlebt, so zeigte sich, hängt vom jeweiligen Bezugssystem ab. Zudem können sich Informationen höchstens mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten, die konstant ist und rund 300000 Kilometer pro Sekunde beträgt. Alles, was wir „jetzt“ sehen, ist also Vergangenheit. Die Sonne zum Beispiel ist in diesem Augenblick acht Minuten älter, denn so lange braucht ihr Licht, bis es die Erde erreicht. Ihre Reise freilich stellt, kosmisch gesehen, nur einen winzigen Hüpfer dar. Wer – lediglich! – das für uns sichtbare Universum durchqueren möchte, der sollte von mindestens vierzig Milliarden Lichtjahren ausgehen.
Auf der anderen Seite berichtete seit 1900 die Quantenmechanik von kaum vorstellbaren Vorgängen in der Welt der Atome, die grundlegende Begriffe wie Lokalität (das Verhalten eines Teilchens kann nicht davon abhängen, was zum selben Zeitpunkt an einem weit entfernten Ort passiert) und Objektivität (die Messung von dem, was präzise „so“ ist) unterminierten. Kurz: Die altehrwürdigen Denkmuster der Physik waren in bestimmten Bereichen zutreffend. Im ganz Kleinen waren neue Ansätze erforderlich. Für Max Planck, Albert Einstein, Niels Bohr und Werner Heisenberg gab es reichlich Arbeit, und auch ihre mittlerweile global und vernetzt forschenden Nachfolger sind mit Fragen, Zweifeln und Experimenten bestens versorgt.
Dunkle Materie, dunkle Energie
Mehr noch: Stefan Klein (geboren 1965), deutsch-österreichischer Wissenschaftsautor und früherer Redakteur beim „Spiegel“, hat in seinem höchst lesenswerten Bändchen „Das All und das Nichts“ ausgeführt, dass die Zahl der Fragen und Unbekannten mit der Menge der Einsichten und Antworten wachse. In den letzten hundert Jahren haben die Physiker Revolutionäres geleistet, haben, wie die Geistesriesen Kopernikus, Darwin oder Freud, den Schlaf der Welt gestört. Ihre hochkomplexen Einsichten bilden gleichwohl nur Inseln in einem unüberschaubaren Ozean des Nichtwissens. „Je mehr wir über die Wirklichkeit wissen, umso geheimnisvoller erscheint sie uns“, stellt Klein in seinem Eingangssatz fest und variiert diese Aussage vielfach.
Wohlgemerkt stellt die Feststellung einer solchen vertrackten Relation kein Abgleiten in Denkfaulheit, Resignation oder in einen wie auch immer gearteten Mystizismus dar. Klein, der Physik und analytische Philosophie studiert hat, ist bestens informiert und möchte den Leser mit einer kritischen, also befragenden und staunenden Weltsicht vertraut machen. Gleichwohl kommt er nicht umhin festzustellen, dass die dramatische Erweiterung unseres Wissens über den Aufbau der Welt uns gleichzeitig immer bedrängender unsere Grenzen spüren lässt. Zwar sind wir „inzwischen imstande, die Geschichte des Universums zumindest in groben Zügen bis auf die erste Milliardstel Sekunde nach seiner Geburt zurückzuverfolgen“, doch zugleich stellt sich heraus, dass der Kosmos in seinem entschieden größten Teil aus einer Materie und einer Energie besteht, die von den Physikern, in einer Nottaufe sozusagen, die Namen „dunkle Materie“ und „dunkle Energie“ erhielten. Dunkel, da es sie als „kosmischen Kitt“ geben muss, zugleich aber niemand eine Vorstellung von ihrer Substanz, ihrer Wirklichkeit hat. Die dunkle Materie leuchtet nicht und sendet auch sonst keine Strahlung aus. Dennoch ermöglicht offenbar erst sie die Strukturen im Weltraum. „Ohne die dunkle Materie gäbe es unser Sonnensystem nicht, wären wir nicht da. Dieser großen Unbekannten im All verdanken wir unsere Existenz.“
Ähnliches gilt auch für die „exotische“ dunkle Energie, die alle uns bekannten Energieformen bei weitem überragt und über deren Natur wir ebenfalls „nichts“ wissen. Umso erstaunlicher ist es, dass sich die beiden physikalischen Standardmodelle, die Grundkonzepte der Kosmologie und der Teilchenphysik, so glänzend bewähren. Übrigens auch in ihren handfesten Produkten, so in Navigationssystemen, in Lasern oder den bildgebenden Verfahren der Medizin. Unser Wissen „passt“ also, auch wenn „das Ganze“ unbegreiflich bleibt, wir nur winzige kosmische Räume überblicken und quantenphysikalische Theorien wie beispielsweise das Standardmodell der Teilchenphysik sich in ihren Berechnungen nach eigenen Aussagen mit „Wahrscheinlichkeiten“ begnügen müssen.
Hinter der Hülle des Nichtwissens
Die Gemengelage aus revolutionärem Wissensfortschritt, aufdringlichen Wissenslücken und Denkmodellen, die „dennoch“ aufgehen, lässt Stefan Klein zugleich an Platons Schattenspiele wie an den rätselhaften „Flammarion“-Holzstich denken. In Platons mythologischer Höhle sitzen wir, denn all unser gesammeltes und erprobtes Wissen lässt uns wohl nur Abbilder an der Wand, nicht die Welt an sich erkennen. Die strukturverleihende dunkle Materie „erfüllt den intergalaktischen Raum. Wie Sahnekleckse auf einer riesigen Schokoladentorte, so scheinen die leuchtenden Objekte auf ihr zu sitzen. Ist alles, was wir am Himmel sehen, nur Dekoration?“ Aber auch der Rückgriff auf die Metaphorik, ja das blanke Nichtwissen werden den Menschen nicht daran hindern, weiterhin Fragen zu stellen und Grenzen zu überschreiten. Davon spricht ein so beliebter wie in seiner Datierung umstrittener Holzstich, der erstmals 1888 in einem populärwissenschaftlichen Band des französischen Astronomen Camille Flammarion erschienen ist und „Wanderer am Weltenrand“ genannt wird. Zu sehen ist ein Mensch, der am Rande seiner irdischen Wirklichkeit kniet und gleichzeitig mit seinem Oberkörper in eine ganz andere, in die kosmische Sphäre eintaucht. Der Mensch, oder wie die französische Ausgabe formuliert, le pèlerin, der Pilger, sieht dort Phantastisches, sieht Wirbel und Feuerräder, Strahlen und Lichter. Er könnte – wie die allermeisten Bewohner der Höhle Platons – in seiner wohlgeordneten Welt bleiben. Dann würde er sich viel Verwirrendes ersparen. Aber, so lässt sich mit guten Gründen fragen: Ist er nicht dafür da, um hinauszublicken, um die Hüllen des Nichtwissens zu durchbrechen? Ist er nicht ein Wanderer zwischen den Welten? Und kühner noch: Hat am Ende das Universum in einem unvorstellbar geduldigen, dramatischen Spiel den Menschen geformt, um von ihm „begriffen“ zu werden, in ihm „zu sich“ zu kommen?
Geformt mit Nichts
Das ist natürlich keine physikalische Frage mehr, und Stefan Klein hält sich, von einigen wenigen, klug eingestreuten Bemerkungen abgesehen, von jeglicher Meta-Physik fern. Sein Werk könnte aber jedem „Metaphysiker“ zumindest eine Ahnung davon vermitteln, in welch seltsamer, ja verrückter Welt er hier und jetzt lebt. Oder ist es nicht verrückt, dass die Atome, die Teilchen also, aus denen alles geformt ist, im Grunde aus nichts bestehen, aus einem weithin leeren Raum?
In einem Versuchsaufbau, der in jedem Lehrbuch der Physik einen Stammplatz hat, beschossen der Neuseeländer Ernst Rutherford und sein deutscher Kollege Hans Geiger bereits 1911 eine Goldfolie mit Helium-Teilchen. Fast alle Teilchen durchflogen die Folie ohne Hindernisse, lediglich eines unter 20000 Geschossen prallte mit voller Wucht zurück. Offensichtlich traf jeweils nur dieses eine auf einen Widerstand, traf auf den winzigen Atomkern. In ihm versammelt sich praktisch die gesamte Masse. Die Hülle des Atoms, die das Volumen ausmacht, hat nichts Greifbares zu bieten. „Die Mücke wog tausendmal mehr als die Konzerthalle, in der sie saß“, stellt Klein bildhaft fest. Und: „Die alltäglich sten Dinge sind so leer wie der Weltraum zwischen den Galaxien.“ Dabei kommen Rutherfords und Geigers Nachfahren, die heutigen Teilchenphysiker, noch zu weit radikaleren, experimentell gesicherten Schlüssen. Auch die Atomkerne sind quasi leer und bestehen wiederum aus Elementarteilchen, die Quarks genannt werden. „Elementarteilchen sind keine Kugeln, sondern Energiezustände, ein plötzliches Aufflackern im leeren Raum.“
Warum uns ein Stuhl, auf dem wir sitzen, dennoch trägt und der Schlag mit dem „leeren“ Hammer auf den Finger wehtut, das kann Stefan Klein nachvollziehbar erklären. Gleichwohl sieht der Leser die verlässlich „massive“ Welt von nun an mit anderen Augen. Leben wir in einer schattenhaften Wirklichkeit, die praktisch leer ist, die zudem von einer dunklen Materie bestimmt wird, deren Teilchen uns ungehindert durchqueren? „Nach manchen Schätzungen rasen in jeder Sekunde Milliarden solcher Teilchen durch unsere Körper, ohne dass wir davon erfahren. Für die dunkle Materie sind wir eigentlich gar nicht vorhanden.“ Die Wirklichkeit ist „anders“, so muss man bilanzieren. Freilich ist auch das nur eine Zwischenbilanz. Der Pilger am Weltenrand ist noch lange nicht am Ziel.
Auf Max Weber (1864–1920), den epochalen Ökonomen und Soziologen, geht der Begriff „Entzauberung der Welt“ zurück. Das rasante Fortschreiten der Wissenschaften, die im Prinzip alles zu erklären und zu berechnen vermögen, schien ihm die Magie der Welt zu zerstören, alles zu „verweltlichen“, wohl auch eines umfassenden Sinnes zu entkleiden. Rund hundert Jahre später lässt sich dieser Begriff mit einer noch größeren Berechtigung aufgreifen. Oder doch nicht? Wie Stefan Klein schildert, wurde der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman (1918–1988) von einem befreundeten Künstler gefragt, ob die alles zergliedernde Wissenschaft die Schönheit nicht zerstöre, die Schönheit einer Rose zum Beispiel. Feynman widersprach. Nicht nur, weil er die natürliche Schönheit, die der Künstler wahrnehme, ebenfalls empfinde. Es gebe darüber hinaus eine Schönheit, die sich aus den faszinierenden Ergebnissen der Wissenschaft speise. Denn ist es nicht ein Faszinosum zu entdecken, wie die Blumen im Laufe der Evolution ihre Farben „annahmen“, wie sie damit Insekten anlocken, die wiederum zu einer Art ästhetischer Wahrnehmung fähig sein könnten? Die Wissenschaft vertiefe so den Sinn für Schönheit, leuchte die eindrückliche und geheimnisvolle Präsenz des Lebendigen, auch der Rose, genauer aus.
Atemluft dank Einzellern
Solche Überlegungen setzt Stefan Klein fort, wenn er im Anschluss an den schlichten Satz „Um herauszuwachsen, braucht die keimende Rose Licht, Wasser und Sauerstoff“ ein höchst beeindruckendes Panorama der Wunderwerke Licht, Wasser, Sauerstoff entfaltet. Nichts, so wird deutlich, ist von vornherein gegeben, nichts ist selbstverständlich. Die Atemluft beispielsweise „ist ein Erbe von Einzellern, die vor gut drei Milliarden Jahren in dicken, blaugrünen Matten den Meeresboden bedeckten und bis heute dort leben“.
Aber auch hier die Frage: Entzaubert eine solche präzise und zugleich banale Erklärung die Welt? Oder sollten wir eher den Zauber des menschlichen Intellekts rühmen, der fähig ist, die Gründe und Abgründe des Makro- wie Mikrokosmos immer flüssiger zu buchstabieren? Gibt es nicht auch einen aufgeklärten Zauber, den Zauber der zergliederten Rose, deren Schönheit gleichwohl unzerstörbar bleibt?
Wer sich als Theologe, etwa als Priester, Gemeindereferent, Religionslehrer oder Mönch, mit den „letzten“ Dingen beschäftigt, kommt nicht umhin, eine Menge über die vorletzten zu wissen. Nur so lässt sich die verhängnisvolle Entfremdung zwischen Wissen und Glauben begrenzen. Sie ist mit noch so wohlwollenden Erklärungen und gelehrten Symposien keinesfalls ausgeräumt und hält die allermeisten Technikkonsumenten von heute fest im Griff.
Die schulische Erfahrung beispielsweise zeigt die höchst nachhaltige Wirkung der wörtlich aufgefassten Schöpfungserzählung aus dem ersten Kapitel des Buches Genesis, die reflexhaft in einen Gegensatz zu „Urknall“ und Evolution gesetzt wird. Um keine sinnlosen Kämpfe auszufechten, muss hier der Theologe nicht nur ein solides bibelwissenschaftliches Handwerk bieten, vielmehr auch Grundsätzliches über die Ausdehnung des Universums, über die Welt der Atome, über die blaue „Murmel im All“ (Stefan Klein) und ihre neugierigen Bewohner wissen. Bücher wie „Das All und das Nichts“ bieten sich für einen ersten Einstieg an. Von hier aus lohnt es sich weiterzupilgern.
Warum gibt es uns?
Wohin aber führt uns Stefan Klein selbst? Wie lautet sein Fazit der im letzten Kapitel gestellten Frage „Warum gibt es uns“? Die Antwort könnte man ernüchternd nennen. „Diese Zahlen ändern alles“, lautet der zentrale Satz. Diese Zahlen, das meint die enormen Ausmaße des Universums, die 100 Milliarden Galaxien des sichtbaren Universums, die 100 Milliarden Planeten, die allein in unserer Galaxis die Sterne umkreisen. Die Zahlen benutzt der Autor für eine kosmische Wahrscheinlichkeitsrechnung, um schließlich zu folgern: „Bei zehntausend Milliarden Milliarden (zehn hoch 22) Planeten allein im sichtbaren Universum müsste es mit dem Teufel zugehen, hätte sich nicht wenigstens auf einem dieser Planeten intelligentes Leben entwickelt.“
Teufel hin oder her: Sind wir also die großen Gewinner im kosmischen Lotto? Dieser Schluss und auch die wahrscheinlichkeitstheoretische Annahme, dass wir „nicht allein“ im Universum sind, erscheinen Klein plausibel. Das schließe, so seine eher pflichtschuldige Ergänzung, die Existenz eines Schöpfergottes nicht aus. „Doch ein Naturwissenschaftler, selbst ein gläubiger, gibt sich mit einer solchen Antwort nicht zufrieden. Forschung ist das Bemühen, die Welt aus ihren natürlichen Ursachen heraus zu verstehen.“ Ein guter Satz, der der wunderbaren Tatsache Rechnung trägt, dass wir denken und forschen, dass wir Fragende und Zweifelnde sind. Die Rose ist ohne Warum, heißt es bei dem barocken Dichter und Mystiker Angelus Silesius (1624–1677). Wir Menschenkinder kennen unzählige Fragezeichen, wagen uns an den Weltenrand und können uns zugleich am Zauber der Rose, ja an einer Schneeflocke erfreuen. Auch das gibt zu denken.
Stefan Klein: „Das All und das Nichts. Von der Schönheit des Universums“ (S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2017, 240 S., 20 €)