Abraham zeugte Isaak, und Isaak zeugte Jakob, und Jakob zeugte Juda und seine Brüder …“ Am Anfang des Matthäusevangeliums steht die Stammlinie Jesu. Das ist theologisch von einiger Bedeutung, wird Jesus doch dadurch in die Heilsgeschichte „eingeordnet“. Die Botschaft lautet: Alles ist auf den Messias hin ausgerichtet, seit Beginn der Welt.
Rein sprachlich stellt die Geschlechterfolge freilich eine Zumutung dar. Name folgt auf Name, dreimal vierzehn Generationen lang. Üblicherweise liest man in der Bibel über diese Liste einfach hinweg. Und angesichts der monotonen Reihung will das auch niemand gern hören – schon gar nicht an Heiligabend, an dem die katholische Leseordnung diesen Abschnitt vorsieht. In den meisten Weihnachtsgottesdiensten wird die Stammlinie Jesu deshalb schlichtweg ausgelassen.
Ausgerechnet mit diesem sperrigen Text eröffnet Kay Voges, Intendant des Schauspiels Dortmund, seinen furiosen Theaterabend in Stuttgart. Auf diese Weise hat man die – dramaturgisch – langweilige Stammliste Jesu freilich noch nie gehört. Maria (gespielt von Marietta Meguid) schreit die biblischen Namen voller Leidenschaft in den Saal. Immer lauter, immer schneller, immer verzweifelter. Den Rhythmus geben ihre Wehen vor, denn Maria ist „unter der Geburt“. Und diese Geburt läuft wie bei jeder Frau ab: anstrengend, schmerzhaft, blutig.
Das Spätmittelalter konnte sich das im Fall von Jesus so nicht vorstellen. Anknüpfend an die Visionen der Birgitta von Schweden wurde die Menschwerdung des Höchsten als eine heilige, erhabene Sache geschildert: Maria betet, und plötzlich liegt das Jesus-Kind da. Unzählige Male wurde das auf Altartafeln gemalt, genau so hat es sich in unser kollektives Gedächtnis eingeprägt. Das ist sicherlich „schön“, letztlich aber harmlos. Es erschüttert einen nicht. Anders auf der Stuttgarter Bühne, wo dem Zuschauer das pralle Leben mit seinem Schmerz entgegentritt: Dieser Jesus ist tatsächlich Mensch, vom ersten Schrei als Baby an. Das ist nichts für schwache Nerven.
Bach, Hardrock und Weihrauch
Der überwältigende Auftakt zeigt die Richtung an, in die es in den kommenden gut zwei Stunden im „1. Evangelium“ geht. Jesus-Bilder, Bilder überhaupt werden einer kritischen Prüfung unterzogen. Ohne Bilder kommen wir nicht aus, gerade im Glauben. Aber wie kommen sie zustande? Wie wichtig darf man Bilder nehmen? Wie zeitbedingt und immer wieder renovierungsbedürftig sind sie? Und nicht zuletzt: Wie geht man damit um, dass andere vielleicht ein ganz anderes Bild vom Nazarener haben? Jeder ein eigenes für sich?
Kay Voges erzählt die Geschichte Jesu „frei nach Matthäus“, wie es im Titel heißt. Sehr frei, würde es besser treffen. Denn es kommen zwar die wesentlichen Teile des Evangeliums vor: etwa die Taufe Jesu, die Bergpredigt, das Vaterunser, zuletzt Leiden und Kreuzigung. Aber das Ganze wird nicht linear erzählt, sondern ist assoziativ, wie eine große Collage zusammengestellt. Damit nicht genug: Auf der Bühne werden noch etliche Szenen dazwischengemischt, die nichts mit der Bibel zu tun haben; sie spielen etwa in einem Krankenhauszimmer, in einer Bar im Wilden Westen. Eingebettet ist das Ganze in eine Rahmenhandlung, in der eine Filmcrew mehr schlecht als recht versucht, einen zweitklassigen Jesus-Film zu drehen.
Ein weiterer Verfremdungseffekt kommt über die Sprache in das Stück. So stammt zwar mehr als die Hälfte des Textes direkt aus dem Matthäusevangelium. Die bekannten Worte werden jedoch in einer Interlinear-Übersetzung vorgetragen: also Wort für Wort am griechischen Original entlang, die deutsche Grammatik außer acht lassend. So heißt es beispielsweise: „Seht hin auf die Vögel des Himmels, dass nicht sie säen und nicht sie ernten und nicht sie sammeln in Scheunen, und euer himmlischer Vater nährt sie; nicht ihr seid viel mehr wert als sie?“ Eine „Frischzellenkur“ für eine routinierte und daher oberflächliche Bibellektüre sei das, findet Kay Voges.
Formal gerät die Aufführung zu einer Materialschlacht sondergleichen. Die Bühne ist rund und dreht sich ständig. So werden immer wieder neue Räume eröffnet, meistens sieht man mehrere Szenen gleichzeitig. Hinzu kommen drei Monitore, die über der Bühne hängen. Dort werden Einspielfilme gezeigt, Texte eingeblendet oder Live-Bilder eines Kamerateams, das durch die Szenen geht. Auch akustisch laufen mehrere Tonspuren gleichzeitig. Mal passen sie zum Bild auf einem der Monitore, mal zu einer Szene der Schauspieler, dann wieder machen sie ein eigenes Thema auf. Genauso ist die Musik „multiperspektivisch“: Die Bandbreite reicht von Bach bis Hardrock, immer sehr laut. Und nach Weihrauch duftet es auch noch.
So muss man heute Theater machen, ist Kay Voges überzeugt. In seinem Manifest „Dogma 20_13“ hat er sich vor einigen Jahren, bezugnehmend auf die avantgardistische Dogma-Bewegung im Film (Lars von Trier), dafür ausgesprochen, die Grenzen zwischen den verschiedenen Kunstgattungen einzureißen: „Das wahre Kino der Zukunft und das wahre Theater der Zukunft sind eins.“ Und es stimmt ja: Warum sollte das Theater nicht alle technischen Möglichkeiten ausschöpfen, wenn es damit seine ur-eigene Stärke – das Live-Erlebnis – noch besser zur Geltung bringen kann?
Für den Zuschauer ist der Medienrausch indes eine ähnliche Herausforderung wie für die – glänzenden – Schauspieler. Bild um Bild reiht Voges aneinander. Man weiß oft gar nicht, wo man hinschauen soll. Zusätzlich zum Sehen vergeht einem bisweilen auch das Hören. Eben diese Erschütterung, diese Überforderung ist vom Regisseur gewollt. Deshalb trifft es auch nicht, wenn etwa der „Spiegel“ bemängelt, dass das Stück zu wenig Handlung habe. Hier wäre eher die Erwartungshaltung des Kritikers zu hinterfragen. Überhaupt zeigten die Rezensenten der großen Tageszeitungen wenig Gespür für die religiöse Frage, die hier die Bühne beherrscht – mit Ausnahme von Christine Dössel in der „Süddeutschen“.
Der gesunde Zweifel
Sein Theater solle eine „Schule der Wahrnehmung“ sein, erklärt Voges im Gespräch. „Wie können wir unterscheiden, sehen und verstehen lernen? Wie können wir uns eine Medienkompetenz in einer Zeit aneignen, in der die Bilder- und Textströme so groß sind wie noch nie zuvor?“ Kay Voges möchte seine Zuschauer zu einer Haltung des gesunden Zweifelns führen: Bildern ist grundsätzlich zu misstrauen, das eigene Bild darf nie als die ganze Wahrheit gelten.
Eine solche Sicht lässt sich auf verschiedene Bereiche des Lebens anwenden, etwa auf die Medien – Stichwort: Fake News – oder auf die Politik. Doch es lohnt sich, zunächst und vor allem beim eigentlichen „Thema“ des Abends zu bleiben. Denn für Voges ist das Evangelium nicht nur eine Folie, nicht nur eine Geschichte wie jede andere, anhand derer er etwas deutlich machen will, das womöglich außerhalb des Religiösen liegt. Er setzt sich tatsächlich mit Jesus auseinander und fragt, was er uns heute zu sagen hat. Das geschieht in einer Offenheit und Direktheit, über die man nur staunen kann und die einem selbst in Kirchenkreisen kaum mehr begegnet. Auch dort ist man heute schnell dabei, das Eigene zu relativieren, um ja nicht irgendwo anzuecken. Bei Voges dagegen hört es sich so an: „Das Matthäusevangelium ist ein unfassbares Material. Es ist in unserer europäischen Gesellschaft fast genetisch verankert. Es ist die Wurzel der abendländischen Kultur. Man muss versuchen, die Bibel zu verstehen, wenn man die Sehnsucht hat, unsere Gegenwart, unsere Gesellschaft in Europa zu verstehen.“
Beten im Theater
Bei all dem erhebt Voges nicht den Anspruch, selbst eine abschließende Interpretation zu liefern: „Ich möchte nicht der Erklärer sein, der sagt, guckt mal hier, so geht die Geschichte.“ Er stellt vielmehr eine Überfülle an bekannten und neuen Bildern zur Verfügung, die er damit als vorläufig, als subjektiv klassifiziert. Jeder macht sich ein eigenes Bild von Jesus. Wer kann letztlich „objektiv“ sagen, welches falsch, welches richtig ist? Toleranz ist gefragt.
Wer sich auf dieses Stück einlässt, macht womöglich eine ähnliche Entwicklung durch wie der Regisseur selbst. Voges erzählt, dass er in einem evangelikal-charismatischen Umfeld aufgewachsen sei. Ursprünglich habe er Prediger werden wollen. „Mit sechzehn stand ich mit einem großen Holzkreuz in Amsterdam auf dem Marktplatz und habe gepredigt, wie man in den Himmel kommt und wie in die Hölle. Mit achtzehn habe ich gemerkt, dass dieses Weltbild von Gut und Böse zu einfach ist.“ Von solch einem engen Glauben hat sich Voges verabschiedet. Ein Suchender sei er aber geblieben. „Religiöse Motive und Fragen tauchen immer wieder in meinen Inszenierungen auf. Aus der Perspektive des Zweiflers, der doch eigentlich verstehen will, was die Welt so im Innersten zusammenhält.“
Die Theaterleute in Stuttgart hatten keine Theologen als Berater. Sie entwickeln ihre skeptisch-zurückhaltende – religiös gesprochen: demütige – Haltung gegenüber dogmatisch oder exegetisch allzu festgefügten Jesus-Vorstellungen eher aus der Bildtheorie heraus. Sie werden durch das bestätigt, was Albert Schweitzer schon vor mehr als hundert Jahren an der damals sehr beliebten „Leben-Jesu-Forschung“ kritisiert hatte: Die ganzen Bilder und Rekonstruktionen sagen mehr über den jeweiligen Autor aus als über Jesus selbst.
Die Inszenierung dekonstruiert überkommene Bilder, aber sie bleibt nicht dabei stehen. Sie will, dass die Zuschauer religiös produktiv werden. „Was glaubst du?“ Und sogar: „Wie betest du?“ Diese Fragen werden während des Stücks eingeblendet. Wer hätte gedacht, dass ein deutschsprachiges Theaterpublikum Anfang 2018 so unmittelbar aufgefordert werden kann, sich Gedanken über seine geistig-religiöse Grundlegung zu machen? Und mehr noch: konkret über die Jesus-Gestalt, den biblischen Christus.
Es ist so wie „Stille Post“
„Religion ist Kopfkino“, sagt Kay Voges. So bringt es der Regisseur in Stuttgart jedenfalls auf die Bühne. Der Zuschauer wird herausgefordert, sich einen eigenen Glaubens-Film zusammenzumontieren. Material dazu liefert dieser Theaterabend im Übermaß. Es gibt harte Szenen, die manch frommen Theaterbesucher vor den Kopf stoßen mögen. Die Erweckung des Lazarus zum Beispiel wird als skurrile Herz-Operation geschildert; eine Krankenschwester mit Augenklappe assistiert. Auch das Letzte Abendmahl am Tresen kommt etwas schnoddrig daher.
Aber Voges findet auch sehr eindrückliche Bilder für den Glauben, die Liebe und die Hoffnung. Dafür ist in dem Stück vor allem Jesus verantwortlich, wunderbar von einer Frau – Julischka Eichel – gespielt. In der Bergpredigt etwa schreitet sie durch sämtliche Szenen auf der Drehbühne und spricht all den gestrandeten Seelen, den Versehrten unserer Tage – den Drogenabhängigen, Kranken, Einsamen – zärtlich das „Selig seid ihr“ zu. Genau so darf man sich die Zuwendung Jesu zu den Aussätzigen seiner Zeit vorstellen.
Lange nachsinnen lässt sich über verschiedene Monologe, die Voges seine Frau Jesus sprechen lässt. Einmal überlegt sie: „Ich habe Angst, dass mich die Leute falsch verstehen. Ich habe Angst, dass ich Dinge sage, und es wird sich verändern, es ist so wie ‚Stille Post‘.“ Wie war das mit der Jesus-Überlieferung? Beklemmend nahe geht es einem auch, wenn der Regisseur des Jesus-Films im Stück seine Darstellerin mit aberwitzigen Provokationen herausfordern will. Er schüttet Wasser über sie, bewirft sie mit Sand, schmiert ihr Blut ins Gesicht. „Das hat mit mir nichts zu tun. Das bin ich nicht“, schreit Jesus daraufhin und bricht die Probe der Kreuzigungsszene weinend ab.
Wie das Stück begonnen hat, endet es: mit einem Schrei Jesu, diesmal des Gekreuzigten. Die Auferstehung kommt bei Kay Voges nicht vor. Ihm geht es allein um die Zeit des irdischen Lebens Jesu. Das mag man als gläubiger Zuschauer bedauern. Dennoch steht am Ende alles andere als Verzweiflung. Dieses Theaterereignis geht weiter, selbst wenn die Schauspieler die Bühne verlassen haben.