Im Osten kann man dem lieben Gott bei der Arbeit zuschauen“, hatte der Dresdner Bischof Heinrich Timmerevers auf der Jubiläums-Tagung des CHRIST IN DER GEGENWART erklärt. Das mache den besonderen Reiz kirchlichen Wirkens in der Diaspora aus. In Dresden kann man aber auch Menschen bei der Arbeit zuschauen. Seit der Wende wird in der sächsischen Hauptstadt an allen Ecken und Enden gebaut. Die Dresdner nehmen die Baustellen mit Gleichmut und sind stolz, dass ihre Heimat wieder in voller Barockpracht erstrahlt.
Im Zentrum der Altstadt steht die Frauenkirche – weltweit das Symbol für den Wiederaufbau nach den Schrecken des Krieges. Lange zeigten die Ruinen die Wunden, die der Feuersturm nach den alliierten Luftangriffen im Februar 1945 der Stadt zufügte. Mit großen Anstrengungen und Spenden aus Dresden und der ganzen Welt gelang schließlich die Wiedererrichtung, nun wieder auferstanden aus Ruinen. 2005 wurde das Gotteshaus wieder eingeweiht. Seither mahnt es zu Frieden und Versöhnung.
Auch in der katholischen Hofkirche, der Kathedralkirche des Bistums Dresden-Meißen, findet man einen Raum zum Gedenken an alle Opfer ungerechter Gewalt: die erschütternde, ganz aus Meißener Porzellan hergestellte Pietà des Bildhauers Friedrich Press, davor der frei gestellte Altar mit eingravierten Flammen. Das gesamte Ensemble als Mahnmal und Andachtsort, der zum Gebet für die rund 25000 Menschen einlädt, die bei den Luftangriffen ums Leben kamen.
Die Dresdner sprechen heute mit Stolz von „ihrer Frauenkirche“. Sie haben gemeinsam gute und schlechte Zeiten durchlebt. Diese Geschichte mache die Kirche weltweit einzigartig, schwärmt der Kirchenführer. Die Dresdner Frauenkirche ist im besten Sinne eine Bürgerkirche. Als die Bevölkerung Sachsens nach der Reformation lutherisch geworden war und die Stadtkirche in Dresden für die Gemeinde nicht mehr ausreichte, fassten die Dresdner 1722 den Beschluss, ein neues Gotteshaus zu bauen. August der Starke war zwar – aus politisch-pragmatischen Gründen, um König von Polen werden zu können – gerade zur katholischen Kirche übergetreten, aber die Lutheraner durften bauen. Finanzieren mussten diese ihre Kirche allerdings selbst – was den selbstbewussten Bürgern gelang.
Heute zieht die Frauenkirche Touristen aus aller Welt an. Sie strömen durch die engen Gassen der Altstadt, um das berühmte Gotteshaus zu besichtigen. Sie besuchen Führungen, Konzerte und Andachten oder steigen die Stufen bis in die Kuppel hinauf. Auch wenn nur noch wenige Menschen in Sachsen einer Kirche angehören, ist die Frauenkirche dennoch der Fixpunkt in der Stadt. Von dort aus werden Wege beschrieben, immer wieder passiert man den Platz vor der Kirche, den Neumarkt. Frauenkirche, Kreuzkirche und die katholische Hofkirche prägen das Stadtbild wesentlich. Daher ist ein Kongress wie der des CIG, der sich mit der Frage nach Gott in der modernen Gesellschaft befasst, gerade im vermeintlich „atheistischen“ Dresden durchaus auch atmosphärisch gut „eingebettet“.
Bei den Leserinnen und Lesern klingt der Kongress noch lange nach – zumindest bei den rund sechzig Teilnehmern der anschließenden dreitägigen Leserreise durch Dresden und Meißen, die Gabi Riegel und ihre Mitarbeiterin Meike Röder so hervorragend organisiert haben. Immer wieder kommt das Gespräch auf die Vorträge von Barbara Zehnpfennig und Michael Seewald, auf die Lesung von SAID, die Meditation von Gotthard Fuchs oder die Impressionen von Bischof Heinrich Timmerevers (vgl. Zeitgänge in CIG Nr. 37). In wechselnder Besetzung diskutieren kleine Grüppchen über die Frage nach Gott – sei es bei den gemeinsamen Abendessen oder während der Spaziergänge durch die Stadt. Es ist eine nachdenkliche Stimmung, die jedoch nicht pessimistisch ist, sondern dem Leben zugewandt. Und so werden auch die beiden CIG-Redakteure, die die Reise begleiten und sich doch etwas vom Durchschnittsalter abheben, interessiert mit Fragen über die Arbeit bei CHRIST IN DER GEGENWART gelöchert.
Die beiden Städte Dresden und das nordwestlich gelegene Meißen teilen sich nicht nur das Bistum, sondern sind auch durch ihre Geschichte eng miteinander verbunden. Im 15. Jahrhundert gaben die beiden regierenden Brüder Ernst und Albrecht von Wettin den Auftrag, auf einem Hügel über der Stadt Meißen ein repräsentatives Schloss für das Kurfürstengeschlecht zu bauen. Die Albrechtsburg wurde jedoch nie im Sinne ihrer Bestimmung genutzt. Noch während des Baus zerstritten sich die Brüder und teilten 1485 das Land unter sich auf. Ernst wurden das Herzogtum Sachsen-Wittenberg und die sächsische Kurwürde zugesprochen, Albrecht und seine Nachkommen erhielten Meißen und regierten als Herzöge von Sachsen in Dresden. Es war die albertinische Linie, die fortan die Geschicke Sachsens maßgeblich bestimmen sollte.
„Weißes Gold“ für reiche Bürger
Die Verbindung zwischen Dresden und Meißen, die eigentlich am augenscheinlichsten ist, übersehen jedoch die meisten Besucher. Der berühmte Fürstenzug, auf dem mit viel prächtigem Gold die sächsischen Herrscher aus dem Geschlecht der Wettiner an der Dresdner Residenz abgebildet sind, besteht aus Fliesen, die in der Porzellanmanufaktur Meißen gefertigt wurden. Die Kacheln sind dreimal gebrannt, was sie besonders haltbar macht. Als eines der wenigen Bauwerke hat der Fürstenzug den Feuersturm 1945 überstanden. Die Mauer, die die Ahnengalerie trug, blieb wie durch ein Wunder stehen. Dem Porzellan, das während der Herstellung bei über 1100 Grad gebrannt wird, konnte die immense Hitze der Brandbomben nichts anhaben.
Rund 25000 der zwanzig mal zwanzig Zentimeter großen Kacheln sind dort an der Wand zum Residenzschloss angebracht und bilden die gut hundert Meter lange Ahnengalerie. Die Kacheln hätten Vorteile, erklärt die Stadtführerin. Ist eine Fliese einmal beschädigt, könne sie leicht ausgetauscht werden. Außerdem lasse sich das Porzellan so unkompliziert reinigen.
Deutlich komplexer ist die Reinigung der Gemälde in der Albrechtsburg in Meißen. Die Wände des spätgotischen Schlosses sind seit dem 19. Jahrhundert prächtig bemalt. Porträts der Herrscherfamilie prangen dort überlebensgroß. Außerdem sind Szenen aus der regionalen Geschichte abgebildet. Auch die kleine Kapelle – mehr eine Nische in einem der Säle – ist prächtig gestaltet und farbenfroh ausgemalt. Der Andachtsraum sei streng ökumenisch, erklärt der Führer. Es finde sich dort kein Zeichen, das ihn einer Konfession zuordne. Das hat auch seinen Grund. Als August der Starke katholisch wurde, durften seine Untertanen das lutherische Bekenntnis behalten.
Unter August fand der leerstehende Fürstensitz eine neue Verwendung. Innerhalb der massiven Mauern der Albrechtsburg ließ der Fürst 1710 die erste deutsche Porzellanmanufaktur einrichten. Seit dem 13. Jahrhundert importierten europäische Fürstenhöfe Porzellan zu horrenden Preisen aus China, um ihren Reichtum zur Schau zu stellen. Auch Tee, Kaffee und heiße Schokolade kamen in Mode – und mit ihnen die feinen Porzellantassen. Im Auftrag von August dem Starken suchte der Alchemist Johann Friedrich Böttger daher eine Methode, selbst Porzellan herzustellen. 1710 gelang es ihm erstmals. Ursprünglich sollte das „weiße Gold“ in Dresden hergestellt werden. Um einer „Industriespionage“ vorzubeugen, entschied sich der Herrscher jedoch für die isolierte Albrechtsburg.
Heute wird das berühmte Porzellan mit den zwei gekreuzten Schwertern auf dem Werksgelände in der Stadt hergestellt. Ein Museum mit angeschlossenen Schauwerkstätten bringt den Besuchern den Prozess der Herstellung nahe.
Auch das Altarkruzifix des Meißener Doms stammt aus der hiesigen Porzellanmanufaktur. Die schlanken hohen Säulen des gotischen Gotteshauses müssen die damalige Bevölkerung sehr beeindruckt haben, vermutet die Kirchenführerin. Die Menschen, sofern sie nicht am Fürstenhof lebten, kannten nur ihre engen, dunklen Häuser. Das Vertrauen der Baumeister in Gott sei erstaunlich gewesen. Sie haben ihr ganzes Leben einem Bauwerk zu seiner Ehre gewidmet und haben doch nur die Baustelle erlebt. Sie verließen sich darauf, dass andere nach ihnen kommen würden, die ebenfalls von dem Wunsch beseelt waren, Gott eine Kirche zu bauen, und so ihr Lebenswerk vollenden würden.
Der evangelische Dom hat keine eigene Gemeinde. Die Stadtgemeinden existierten schon, als das Gotteshaus 1581 evangelisch wurde. Daher ist es die Predigtkirche für den Landesbischof, und an den übrigen Sonntagen leiten die Stadtgeistlichen ehrenamtlich die Gottesdienste. Sehr ungewöhnlich für eine lutherische Kirche ist der massive steinerne Lettner im Altarraum. Er ist wichtig für die Statik der Kirche und konnte nicht entfernt werden. Der Altar wurde daher vor den Lettner gerückt, das große Kruzifix schwebt darüber.
Auch wenn Meißen einst einen mächtigen Dom und den Stammsitz der Fürsten beheimatete, steht es heute doch im Schatten Dresdens. Nach der Teilung der wettinischen Länder 1485 wurde Dresden für Jahrhunderte die herzogliche Residenzstadt der sächsischen Herrscher. Entsprechend der damaligen Moden verewigten sich die Fürsten mit unterschiedlichsten Bauwerken im Stadtbild. Es war jedoch August der Starke, der der Stadt ihr barockes Gesicht gab, die heute noch so viele Touristen anzieht. Unter seiner Herrschaft entstand etwa der Zwinger, und die Schatzkammer im grünen Gewölbe wurde für Besucher geöffnet.
Dort bestaunen Touristen aus aller Welt noch immer die kostbaren Figuren aus Gold, Porzellan und Elfenbein. Besonders lange bleiben sie vor der sehr detailreichen Figur eines Schiffes aus Elfenbein stehen. Die Matrosen, die durch die Takelage klettern, sind kaum einen Zentimeter hoch. Selbst die Segel sind aus hauchdünnem Elfenbein gefertigt. Auf den Planken findet sich wieder ein Fürstenzug. Die Namen der Herrscher stehen erhaben auf dem schimmernden Elfenbein.
Auch die Semperoper ist bekannt wie kaum ein anderes Opernhaus. Das liegt sicherlich nicht nur am Radeberger Bier, das seit Jahren mit dem Haus wirbt. Die Vorstellungen in der Semperoper sind immer gut besucht. Das Haus ist zu gut neunzig Prozent ausgelastet. Wie die meisten Gebäude in Dresden musste auch die Semperoper mehrmals wiederaufgebaut werden. Der erste Bau des Baumeisters Gottfried Semper, der 1840 fertiggestellt wurde, brannte schon nach wenigen Jahrzehnten vollständig ab. Weil sich die Dresdner ihren Theaterbesuch aber nicht nehmen lassen wollten, wurde noch im Jahr des Feuers ein provisorisches Theater in Dienst genommen. Der richtige Wiederaufbau begann 1871. Wieder war Semper der Baumeister, auch wenn er wegen seiner Beteiligung an den Maiaufständen sächsischen Boden nicht mehr betreten durfte. Das zweite Opernhaus stand dann ab 1878, bis es in der Bombennacht 1945 schwer beschädigt wurde und ausbrannte.
Wieder waren es die Dresdner, die sich für ihr Opernhaus einsetzten. Zu DDR-Zeiten begann der Wiederaufbau, der sich über lange Jahre hinzog. Am 13. Februar 1985, dem vierzigsten Jahrestag der Zerstörung, wurde in der Semperoper erstmals wieder gespielt. Das Stück, Carl Maria von Webers „Der Freischütz“, war das Werk, mit dem das Haus 1944 geschlossen worden war.
Denkmalschützer Armut
Da es in der DDR nur einen Betrieb gab, der solche großen Bauarbeiten ausführen konnte, blieb das im Krieg ausgebrannte Residenzschloss lange zerstört. Das war jedoch nicht so schlecht, erklärt die Museumsführerin schmunzelnd. „Armut ist ein guter Denkmalschützer.“ Heute wird das Residenzschloss mit den originalen Techniken wieder aufgebaut. Im Innenhof entstehen gerade die Wandgemälde mit der „Sgraffito“-Technik. Dabei werden verschiedenfarbige Putzschichten übereinander auf die Wand aufgetragen. Dann wird die oberste Schicht wieder abgekratzt, so dass die darunter liegende Schicht zum Vorschein kommt. Andere Bereiche des Schlosses sind modern ergänzt worden wie etwa das Dach über dem kleinen Schlosshof, das dem Dach der Münchner Allianz Arena ähnelt. Weil es kein Foyer gab, dient nun der überdachte Hof als Eingangshalle. Auch die Schlosskapelle, in der der evangelische Komponist Heinrich Schütz wirkte, ist rekonstruiert. Eine Kopie der ursprünglichen Eingangstür zur Kapelle findet sich im Innenhof, der gerade die Sgraffito-Bilder bekommt.
Zum Abschluss einer Reise nach Dresden lohnt es sich, die hohe Kuppel der Frauenkirche zu erklimmen. Von dort aus hat man einen erhabenen Blick über die ganze Stadt, auf den Himmel über Dresden. Es gleicht einem Wunder, die einst so schwer Zerstörte heute wieder so lebendig vor sich zu sehen. Das alles haben die Dresdner mit viel Durchhaltewillen und ein wenig Unterstützung von außen bewirkt. Die sächsische Hauptstadt ist einer der Orte in Deutschland, an dem die meisten Kinder geboren werden. Das meint Bischof Heinrich Timmerevers wohl auch, wenn er sagt, hier könne man dem lieben Gott bei der Arbeit zuschauen.