Das sexuelle Leben Europas

Vielen Atheisten gilt das Christentum als Totengräber der Sexualität. Doch ist dies historisch korrekt? Tatsache ist, dass schon in der Antike die Sexualität als eine Macht begriffen wurde, die es zu zähmen galt, um die gesellschaftliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Der Wiener Wirtschafts- und Sozialgeschichtler Franz X. Eder schlägt in seinem Werk einen weiten Bogen der Geschichte der Sexualität insgesamt, behandelt aber auch zahlreiche Einzelfragen in den verschiedenen Epochen Europas. Er beleuchtet die griechische und römische Antike, das frühe Christentum und seine jüdischen Wurzeln, das lange Mittelalter, auch in seiner östlichen, der byzantinischen Version. Die Haltung des Islam zur Sexualität und zu verschiedenen sexuellen Praktiken kommt ebenfalls zu Wort, besonders auch die Zeit der Reformation und deren Folgen.

Dabei räumt der Autor nebenbei mit vielen verbreiteten Klischees auf. Die sexuelle Freiheit der Antike etwa galt nur für einen sehr kleinen Personenkreis: die Männer der privilegierten Oberschicht. Oder die berühmten Beziehungen zwischen reifen Männern und männlichen Jugendlichen: Sie hatten ihren Ursprung in Initiationsriten. Ob und wie weit diese ungleichen Beziehungen tatsächlich auch sexuell geprägt waren, ist nicht eindeutig. Jedenfalls stand das Sexuelle dabei offenbar nicht im Zentrum.

Auch häufig unbekannte Hintergründe erklärt Eder. So habe das Judentum als auserwähltes, aber kleines Volk einen besonderen Wert auf legitime Fortpflanzung gelegt. Alle Sexualpraktiken, die dem entgegenstanden wie Selbstbefriedigung, homosexuelle oder außereheliche Formen, aber auch Enthaltsamkeit wurden deshalb verurteilt. Das frühe Christentum führte diese Linien aus Antike und Judentum noch jahrhundertelang weiter. Erst nach und nach setzte sich eine eigene, besondere christliche Moral durch, als Abgrenzung zu anderen Religionen und Kulten. Dennoch seien Scheidungen oder außereheliche Beziehungen von der Kirche häufig geduldet worden. Auch waren in christlichen Zeiten heidnische Kulte wie Fruchtbarkeitsriten oder phallische Symbole auf Kirchenportalen weiterhin verbreitet. Dennoch begann mit der christlichen Moral gesellschaftlich etwas Neues, denn sie galt unterschiedslos für alle Gläubigen, ob Bischöfe, Adlige, Kaufleute oder Bauern.

Eder beschreibt die vielen Phänomene der Sexualität als Wissenschaftler, angereichert mit vielen zeitgenössischen Zitaten und Quellen sowie Beispielen aus der Kunst. Immer wieder widmet er sich auch anderen Formen als der Heterosexualität: der Homosexualität, Bi- und Transsexualität.

Der Band endet mit dem 17. Jahrhundert. Ein zweiter Band für das 18. bis 21. Jahrhundert ist geplant. Auf weit über 500 Seiten (wobei knapp 100 Seiten Literaturhinweise und Index sind) gelingt es Eder, einen wohltuend wertneutralen Überblick zu geben. Das Christentum ist dabei kulturell eingereiht, fern jeder theologischen Belehrung. Gleichzeitig wird deutlich, wie sehr die menschliche Sexualität einerseits von gesellschaftlichen, religiösen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen beeinflusst wird, aber gesellschaftlich wie individuell einen fließenden Charakter hat.

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Eder, Franz X.

Eros, Wollust, SündeSexualität in Europa von der Antike bis zur Frühen Neuzeit

Campus Verlag, Frankfurt am Main 2018, 536 S., 58 €

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