Opfer: 3677. Beschuldigte Geistliche: 1670. Gezahltes Schmerzensgeld: mehr als fünf Millionen Euro, bisher. Wesentliche Zahlen aus der aktuellen, groß angelegten Missbrauchsstudie waren seit Wochen bekannt. Und viel mehr ging auch nach der offiziellen Vorstellung während der Herbst-Vollversammlung der deutschen Bischöfe in Fulda nicht mehr durch die Medien. Die ganz große Aufregung blieb jedenfalls aus. Sind die Menschen des furchtbaren Themas überdrüssig? Will man das alles lieber gar nicht so genau wissen? Oder liegt es daran, dass man „es“ immer schon geahnt hat und die bloße Bestätigung dann nur noch zu Enttäuschung und Resignation, nicht aber zum neuerlichen Aufschrei führt? Viele zweifeln auch einfach nur daran, dass die Kirche – endlich – den Ernst der Lage erkannt hat und Reformen auf den Weg bringt.
Schlimmer noch sind die Versuche, die Studie zu instrumentalisieren. Da lesen die einen nur diejenigen Ergebnisse heraus, die ihre eigene Agenda zu untermauern scheinen. Wer zum Beispiel immer schon meinte, der Zölibat gehöre abgeschafft, wird sich durch manche Erkenntnisse der Studie bestätigt fühlen. Eine platte Ableitung – weil Zwang zur Ehelosigkeit, deshalb Missbrauchsgefahr – gibt das Ganze aber nicht her. Auf der anderen Seite versuchen etliche, die Untersuchung zu diskreditieren. Sie verweisen auf vermeintliche oder die wenigen tatsächlichen Schwachstellen, um damit letztlich die Verbrechen zu relativieren. All diesen interessegeleiteten Interpretationen ist gemeinsam, dass sie der Studie und dem Thema nicht gerecht werden. Es scheint fast so, als hätten all die Kommentatoren nur 17 der 300 Seiten gelesen, die Kurz-Zusammenfassung nämlich, die auf den Seiten 3 bis 19 dem eigentlichen Bericht vorangestellt wurde.
Eine ernsthafte, differenzierte Analyse wird sich zunächst noch einmal die Ausgangssituation vor Augen führen. Schon 2002 gab es erste Medienberichte über verbreitete sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen in der katholischen Kirche, zunächst in Amerika und Irland. In Deutschland kamen damals nur Ausläufer des Skandals an. Das änderte sich im Januar 2010, als der Leiter des Canisius-Kollegs der Jesuiten in Berlin, Klaus Mertes, durch einen Brief an ehemalige Schüler die sexuelle Gewalt an seiner Schule öffentlich machte. Er erklärte, Jesuiten hätten in den siebziger und achtziger Jahren Schüler missbraucht, systematisch, über Jahre hinweg, viele hätten weggeschaut. Auch aus anderen Institutionen der Kirche wagten sich Betroffene an die Öffentlichkeit. Damals beschlossen die Bischöfe ein erstes Forschungsprojekt, um den sexuellen Missbrauch in der Kirche aufzuarbeiten. Doch die Zusammenarbeit mit dem beauftragten Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) des Kriminologen Christian Pfeiffer scheiterte.
Um wie viele Priester geht es?
Für den erneuten, jetzigen Anlauf schlossen sich vier Universitätseinrichtungen zu einem Forschungskonsortium zusammen. Aus den Anfangsbuchstaben der Institutsstandorte – Mannheim, Heidelberg, Gießen – wurde die Abkürzung gebildet, unter der die Studie zitiert wird: MHG. Gut vier Jahre lang, seit Juli 2014, arbeiteten die Forscher daran, „den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz in der Zeitspanne von 1946 bis 2014 zu erfassen und einer wissenschaftlichen Analyse zu unterziehen“, so das formulierte Projektziel. Im Einzelnen sollte eine „zahlenmäßige Abschätzung“ der sexuellen Gewalttaten erfolgen. Es sollten Aussagen über die Taten, die Beschuldigten und die Opfer gemacht werden. Ausdrücklich hatten die Forscher aber auch den Auftrag, nach „Strukturen innerhalb der katholischen Kirche, die das Geschehen möglicherweise begünstigen“, zu fragen.
Positiv herausgestellt wird der übergreifende Ansatz der in sieben Teilprojekte gegliederten MHG-Studie. Die Forscher nutzten verschiedene Quellen und Methoden, unter anderem das Abfragen mit Fragebogen, Interviews, Akten- und Literaturdurchsicht. So versuchten sie, ein Gesamtbild zu zeichnen. Um all jene kirchlichen Mitarbeiter zu schützen, die nichts mit Missbrauchsvorwürfen zu tun haben, konnten die Forscher die Akten nicht selbst einsehen. Stattdessen gingen Bistumsmitarbeiter oder beauftragte Juristen in die Archive und trugen die Informationen auf Erfassungsbögen ein. Alle beteiligten Personen blieben gegenüber den Forschern anonym.
Die erste Herausforderung bestand darin zu sammeln, welche Informationen in den Diözesen vorhanden sind und wie damit umgegangen wird, wie die einzelnen Bistümer also ihr Personal verwalten. Was sich wie eine Formalität anhört, erwies sich als unerwartet schwierig. Es mutet fast schon kurios an, aber die 27 Diözesen konnten keine genauen Angaben über die Gesamtzahl ihrer Priester machen. „Die verschiedenen, hierzu herangezogenen kircheninternen Datenquellen … wiesen teilweise entscheidende Lücken auf, folgten uneinheitlichen Definitionen oder wichen mit erheblicher Diskrepanz voneinander ab“, so die Autoren der Studie. „Die exakte Kalkulation der im Untersuchungszeitraum des Forschungsprojektes tätigen Kleriker“ sei deshalb „nicht möglich“.
„Entschädigt“ mit 1000 Euro
Zusätzlich erschwert wurde die Arbeit der Forscher dadurch, dass es kein einheitliches Ordnungssystem gibt. Das betrifft insbesondere auch den Umgang mit Aktenvermerken beim Vorwurf des sexuellen Missbrauchs. Vor allem aber mussten sie feststellen, dass Akten vernichtet und nachträglich manipuliert wurden. Nur zwölf Diözesen schlossen dies ausdrücklich aus.
Zusammengestellt wurden darüber hinaus die Zahlungen, welche die Diözesen an Betroffene leisteten, „die wegen einer eingetretenen Verjährung des jeweiligen Falles keinen durchsetzbaren Anspruch auf Schadensersatz oder Schmerzensgeld hatten“. Auch hier ist das Bild äußerst uneinheitlich. Im Regelfall sollten die Betroffenen 5000 Euro erhalten. 1113 Anträge wurden gestellt, 1041 positiv beschieden. Die Verteilung ist sehr uneinheitlich. In einer Diözese wurden 120 Anträge gestellt, in einer anderen nur ein einziger. Wie kommt dieser Unterschied zustande? Im Durchschnitt erhielt jeder Betroffene 4571 Euro. Aber auch da findet sich eine unglaublich „hohe Streuung“. Ein Antragsteller erhielt 370000 Euro, ein anderer 1000 Euro.
Abgefragt wurde dann, ob es in allen Diözesen Ansprechpersonen gibt, wie es die Leitlinien der Bischofskonferenz von 2010 vorsehen. Tatsächlich arbeiten in allen Diözesen sogenannte Missbrauchsbeauftragte. Problematisch ist allerdings, dass sie oft noch andere Aufgaben übernehmen (müssen), mehrfach sogar „herausgehobene andere Funktionen oder Ämter“. Dies verstoße gegen die entsprechende Empfehlung der Leitlinien und kann „Interessenskonflikte hinsichtlich der unbefangenen Wahrung der Interessen von Betroffenen“ zur Folge haben.
Untersucht wurde, wie Priester – angehende und schon länger im Dienst stehende – mit dem Thema Kinderschutz konfrontiert werden. Hier ist die Antwort ebenso zwiespältig. In der Ausbildung, in den Seminaren also, wird die Gefahr des sexuellen Missbrauchs wohl flächendeckend thematisiert. Doch was ist, wenn ein Priester nach Jahren und Jahrzehnten allein im Pfarrhaus sitzt? Nötig wäre eigentlich eine „lebenslange professionelle Begleitung und Unterstützung“, heißt es in der Studie. Die entsprechenden Angebote wie Weiterbildungen und Supervisionen stecken aber oft noch in den Anfängen.
Das Zeugnis der Interviewten
Während sich die Öffentlichkeit vor allem für die Zahlen aus der Studie interessierte, fand das zweite Unterprojekt eher wenig Beachtung: die Interviews mit Betroffenen von Missbrauch einerseits sowie mit Klerikern andererseits, beschuldigten und nichtbeschuldigten. Geführt wurden 220 Gespräche mit Betroffenen, fünfzig Gespräche mit beschuldigten und hundert Gespräche mit nichtbeschuldigten Priestern, Diakonen und Ordensleuten. Die prozentuale Verteilung, welche die Auswertung dieser Interviews erbringt, ist natürlich nicht repräsentativ. Vor Generalisierungen wird gewarnt. Doch ist gerade dieser Teil der Studie aufschlussreich, weil er Muster und Grundlinien in einer Weise deutlich macht, die pure Zahlen nicht leisten können. Der „qualitative Zugang“ sei besonders geeignet, „die rückblickend erlebte und gedeutete Interaktion zwischen Betroffenen und Beschuldigten differenziert zu erfassen und damit auch die Beziehungsdynamik – einschließlich möglicher Einflussfaktoren – abzubilden.
Die Auswertung bestätigt, dass vor allem Jungen vom Missbrauch in der Kirche betroffen waren. Nach ihrer persönlichen Situation vor dem Missbrauch befragt, schilderten fast zwei Drittel (58,2 Prozent, Mehrfachnennungen möglich), dass sie in ihrer Familie körperliche Gewalt erlebt hatten, 40,4 Prozent psychische Gewalt und 15,9 Prozent sexuelle Gewalt. Sie waren also verletzt, und die Täter haben diese Schwäche wohl ausgenutzt. Zur Hälfte erklärten die Betroffenen, das Verhältnis zum späteren Beschuldigten sei durch gegenseitiges Vertrauen gekennzeichnet gewesen.
Die Folgen des sexuellen Missbrauchs erleben die Betroffenen oft auch langfristig als gravierend. „Die Leitsymptome einer posttraumatischen Belastungsstörung sind unter den Betroffenen häufig und vielfach stark ausgeprägt“, beobachten die Forscher. Zudem kam es – wenig überraschend – zu einem Vertrauensverlust gegenüber Kirche und Glauben. 21,5 Prozent der Befragten sind aus der Kirche ausgetreten, 48,1 Prozent schilderten eine Entfremdung. In den Zusammenhang gehört auch, wie sich die Täter das Schweigen der Opfer sichern wollten. Sie „belohnten“ sie mit Vergünstigungen, machten sie aber vor allem mit Drohungen gefügig: Gesagt wurde, andere würden ihnen ohnehin nicht glauben (36 Prozent), es gebe – nicht näher benannte – schlimme Folgen (36,9 Prozent) sowie, besonders perfide, Gott werde sie bestrafen, wenn sie das Verbrechen öffentlich machten.
Die Einstellung zum Zölibat
Ein Nebenaspekt, der in diesem Teil der Studie deutlich wurde: Oft wird ja gesagt, es sei eine Belastung für die Betroffenen, dass der ganze Skandal öffentlich gemacht wird. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die meisten Betroffenen hätten die intensive öffentliche Auseinandersetzung „als eine Hilfe beim Umgang mit den eigenen Missbrauchserfahrungen wahrgenommen, nicht zuletzt deswegen, weil nun die Möglichkeit besteht, sehr viel offener über diese Erfahrungen zu kommunizieren“.
Aufschlussreich sind auch die Interviews mit Beschuldigten. Nach Mutmaßung der Forscher sind eher wenige Beschuldigte tatsächlich pädophil, andere weisen eine emotional unreife, „narzisstisch-soziopathische Persönlichkeitsstruktur“ auf. Vor allem aber stellten die Forscher die „fehlende Integration, Verleugnung oder Verdrängung sexueller Bedürfnisse, fehlende sexuelle Reife und soziale Gehemmtheit“ fest. Dies wird bestätigt durch die Aussagen, warum genau diese Gruppe von Männern den Priesterberuf gewählt hat. Zum einen wurde darin eine Möglichkeit gesehen, „soziale Anerkennung in der Gemeinde zu finden oder einen sozialen Status zu erreichen, der vor sozialen Vergleichen schützt wie auch von der (vermeintlichen) Notwendigkeit entbindet, das Fehlen von intimen heterosexuellen Beziehungen gegenüber anderen zu begründen oder zu rechtfertigen. Zum anderen wurde in der Entscheidung für den Kirchenberuf eine Möglichkeit gesehen, einen Lebensentwurf zu verwirklichen, der Engagement und Übernahme von Verantwortung für andere, vor allem auch jüngere Menschen, persönliche Nähe bei gleichzeitiger Wahrung von benötigter Distanz, im Sinne des Fehlens von Ansprüchen der Kernfamilie auf exklusive Bindung, erlaubt.“ Diese Motive wurden bei nichtbeschuldigten Geistlichen deutlich seltener genannt.
Bemerkenswert ist die Einstellung zum Zölibat. Die Nichtbeschuldigten äußerten sich eher kritisch, sprachen von „Prüfung“ oder „notwendigem Übel“, das man in Kauf genommen habe, um Priester werden zu können. Die Beschuldigten dagegen sahen im Zölibat gar kein Problem beziehungsweise begrüßten ihn sogar ausdrücklich. Hier wurde also besonders vollmundig „getönt“, was sich nicht mit der Realität deckte. Für die Forscher ergibt sich daraus eine Übereinstimmung mit dem Fehlen „einer erarbeiteten sexuellen Identität, Unsicherheit und Zweifeln bezüglich der eigenen sexuellen Orientierung“.
Weitere Teilprojekte waren die Analyse von Strafakten, die kritische Sichtung der Präventionsstrukturen und der bereits bestehenden Studien zum Thema. Die meisten der – auch schon bekannten – Zahlen stammen aus der Durchsicht von mehr als 38000 Personalakten der 27 Diözesen. Dabei fanden sich – wie bereits berichtet – bei 1670 Klerikern Hinweise auf Beschuldigungen des sexuellen Missbrauchs Minderjähriger, das entspricht 4,4 Prozent aller Kleriker. Die Forscher weisen darauf hin, dass dies eine „untere Schätzgröße“ sei.
Den beschuldigten Geistlichen konnten 3677 Kinder und Jugendliche als von sexuellem Missbrauch betroffen zugeordnet werden. Im Durchschnitt hat also jeder Beschuldigte 2,5 Kinder missbraucht. Die Opfer waren zu zwei Dritteln männlich. Dies gilt als deutlicher Unterschied zum Missbrauch in nichtkirchlichen Zusammenhängen. Mehr als die Hälfte der Betroffenen war bei der ersten erlittenen Tat höchstens dreizehn Jahre alt.
Sexuelle Gewalt: Dominanz
Die Sichtung der Akten ergab bei 14 Prozent der Beschuldigten Hinweise auf eine homosexuelle Orientierung. Dies ist ebenfalls ein deutlicher Unterschied zu Missbrauchsgeschehen etwa in Schule, Sportverein oder Familie. Und noch in weiterer Hinsicht unterscheidet sich kirchlicher Missbrauch. Er ist, wenn man das so sagen kann, vergleichsweise weniger massiv: Es überwiegt das „Anfassen unter der Kleidung“. Penetration beziehungsweise oraler Kontakt kommt im Vergleich zum „weltlichen“ Missbrauch im klerikalen Zusammenhang seltener vor.
Der Umgang der Kirche mit den Beschuldigten ist beschämend. Gegen mehr als die Hälfte (53 Prozent) wurde nicht einmal ein kirchenrechtliches Verfahren eingeleitet. Stattdessen wurden sie deutlich öfter versetzt als Nichtbeschuldigte.
Insbesondere die Abweichungen von Missbrauchsfällen außerhalb der Kirche ließen die Forscher aufmerken. Sie warnen zwar ausdrücklich davor, „monokausale Erklärungen“ zu machen. Dennoch sehen sie etwa in der Tatsache, dass überwiegend männliche Kinder und Jugendliche Opfer wurden, eine Anfrage an „ambivalente Aussagen und Haltungen der katholischen Sexualmoral zur Homosexualität und die Bedeutung des Zölibats“. „Die Verpflichtung zu einem zölibatären Leben könnte Priesteramtskandidaten mit einer unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigung als Lösung innerpsychischer Probleme erscheinen, die zusätzlich die Aussicht auf ein enges Zusammenleben ausschließlich mit Männern zumindest während der Priesteramtsausbildung mit sich bringt.“ Die spezifischen Strukturen und Regeln der katholischen Kirche könnten „ein hohes Anziehungspotenzial für Personen mit einer unreifen, homosexuellen Neigung“ haben. Generell vermuten die Forscher, dass manche – auch heterosexuelle – Priesteramtskandidaten die Verpflichtung zum Zölibat als „falsch verstandene Möglichkeit“ auffassen, „sich mit der eigenen sexuellen Identitätsbildung nicht hinreichend auseinandersetzen zu müssen“.
Als besondere Gefahr machen die Forscher auch den Klerikalismus aus. Mit dem Begriff wird ein „hierarchisch-autoritäres System“ bezeichnet, „das aufseiten des Priesters zu einer Haltung führen kann, nicht geweihte Personen in Interaktionen zu dominieren, weil er qua Amt und Weihe eine übergeordnete Position innehat“. Sexuelle Gewalt sei eine mögliche – extreme – Ausdrucksform dieser Dominanz. Entsprechend stehe bei anderen Klerikern auch der Schutz des Systems im Vordergrund, nicht das Leid der Opfer. „Eine so verstandene Kirchenraison fördert Geheimhaltung, Vertuschung und ungeeignete Reaktionen wie die … ermittelten Versetzungs- oder Sanktionierungspraktiken.“
Nur Vergangenheitsbewältigung?
Die MHG-Studie ist sicher das umfassendste Dokument dieser Art bisher. Noch keine andere zivilgesellschaftliche Institution in Deutschland hat sexuellen Missbrauch in ihren Reihen derart umfassend und über einen so langen Zeitraum hinweg untersuchen lassen. Dennoch gibt es auch Kritik. Mehrere Institutionen bemängeln die fehlende Unabhängigkeit. Auftraggeber der Studie ist schließlich die Organisation der Täter. Die Kirche müsse stärker mit staatlichen Stellen zusammenarbeiten. Die Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ forderte eine „unabhängige, staatliche Untersuchungs- und Aufarbeitungskommission“, die Zugang zu allen Akten bekommen müsse.
In anderer Hinsicht kritisiert der Psychiater und Theologe Manfred Lütz die Studie. Vor allem in den Medien würden zu schnell Verbindungen hergestellt. „Man mag dem Zölibat kritisch gegenüberstehen, aber eine Kopplung der Debatten um den sexuellen Missbrauch durch Geistliche und dem Zölibat entbehrt jeglicher wissenschaftlichen Grundlage“, sagte er der „Welt“. Die Studie diene eher der Vergangenheitsbewältigung. Rückschlüsse auf die Gegenwart seien unzulässig, es gebe hier vielmehr „eine deutliche Abnahme“. Zudem gebe es weitere Ungereimtheiten, die nicht ernsthaft von den Wissenschaftlern diskutiert wurden: zum Beispiel die Rolle von Beschuldigten, die – gerichtsmäßig nachgewiesen – unschuldig sind. Außerdem steht nicht selten Aussage gegen Aussage. Auch wurden verschiedentlich aufgrund der Sorge kirchlicher Behörden, an den Pranger gestellt zu werden, ohne echte Prüfung Entschädigungen gezahlt. Denkbar ist ebenfalls, dass gerade die Akten von Priestern vernichtet wurden, denen nichts vorzuwerfen ist, während Akten von Tätern womöglich eher aufgehoben wurden.
All das ändert aber nichts an der Realität der entsetzlichen Geschehnisse. Auch wenn die Studie nicht die erhoffte – und angekündigte – umfassende Aufarbeitung ist, vielleicht gar nicht sein kann, lassen sich die Fakten nicht kleinreden. Die Dokumentation ist „die Grundlage für eine Aufarbeitung“, wie Kardinal Reinhard Marx erklärte. Nicht das Ende, sondern ein weiterer Schritt zur Aufklärung.