DogmenentwicklungGewordenes im Werden

Wie starr ist die Glaubenslehre, wie offen ist die Offenbarung für neue Verständnisweisen in neuer Zeit? Daran wird sich die Zukunftsfähigkeit des Christentums entscheiden. Der Münsteraner Theologe Michael Seewald leuchtet die Spielräume aus.

Dogmen sind Punktsetzungen. Ihre Aufgabe ist es, die unverfälschte Weitergabe des Glaubens im fortlaufenden Gang der Geschichte zu sichern. Doch wie ist das möglich? Ändern sich nicht die Denk- und Sprachgewohnheiten der Menschen? Müssen sich Dogmen nicht wandeln, wenn sie dem Evangelium unter gewandelten Umständen treu bleiben wollen? Und vertieft sich mit der Zeit nicht auch das Verständnis der Offenbarung, so dass eine Weiterentwicklung der Dogmen nötig ist?

Die Fragen sind brisant. Der Münsteraner Theologe Michael Seewald geht sie beherzt an. Er hat einen klaren Blick für die historischen und systematischen Aspekte und entwickelt sein Thema in übersichtlichen Kapiteln gelehrt, kompakt und gut nachvollziehbar. Zunächst weist er darauf hin, dass der Begriff des Dogmas nicht einfach dogmatisch feststeht, sondern selbst eine facettenreiche Geschichte aufweist. Im Neuen Testament meint er Erlasse, Satzungen oder Beschlüsse. Bei den Kirchenvätern ist der Sprachgebrauch noch schwankend. Von „Dogmen Gottes“ ist hier ebenso die Rede wie von kirchlichen Verordnungen, selbst Irrlehren können gemeint sein. Erst im 5. Jahrhundert erhält der Begriff bei Vinzenz von Lerin definitorische Prägnanz. Das „katholische Dogma“ steht hier für die Glaubenslehre der Kirche im Ganzen. In der Scholastik des Mittelalters ist weniger von Dogmen als von „Glaubensartikeln“ oder „katholischen Wahrheiten“ die Rede. Reformation und Aufklärung üben Traditionskritik und stellen nach und nach auch die Dogmen infrage.

Als Reaktion darauf wird in der katholischen Theologie das Dogma als eine von Gott geoffenbarte Lehre bestimmt, die von der Kirche als verbindlich vorgelegt wird und die Aufgabe hat, Irrlehren abzuwehren. Das Erste Vatikanische Konzil stellte 1870 klar: Dogma ist, „was im geschriebenen oder überlieferten Wort Gottes enthalten ist und von der Kirche in feierlichem Entscheid oder durch gewöhnliche und allgemeine Lehrverkündigung als von Gott geoffenbart zu glauben vorgelegt wird.“ Seewald merkt pointiert an, dass es zu dieser Zeit zu einer „Innovation in anti-innovatorischer Absicht“ kommt.

Pius IX. unterschied zwei Weisen, wie ein unfehlbares Urteil der Kirche vorgelegt werden kann: zum einen durch das allgemeine ordentliche Lehramt der Bischöfe (inklusive des Papstes), zum anderen durch das außerordentliche Lehramt, das sich in Konzilien oder päpstlichen Ex-Cathedra-Entscheidungen Ausdruck verschafft. Überdies zeigen die feierliche Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens 1854 und das Unfehlbarkeitsdogma von 1870, dass Pius IX. sich nicht mit der passiven Abwehr von Häresien zufriedengab.

Das Zweite Vatikanische Konzil hat auf dogmatische Definitionen verzichtet und einen pastoralen Lehrstil gewählt. Über Dogmen wird nicht näher reflektiert, allerdings wird ihre Geschichtlichkeit in der Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt von heute, „Gaudium et spes“, ausdrücklich anerkannt (vgl. Art. 62). Im Katechismus der Katholischen Kirche von 1992 findet sich hingegen eine bemerkenswerte Ausdehnung des Dogmenbegriffs, auf die Seewald zu Recht das Augenmerk lenkt. Das Lehramt könne, so heißt es dort, nicht nur Wahrheiten vorlegen, die in der Offenbarung enthalten sind, sondern auch Lehren, die „mit solchen Wahrheiten in notwendigem Zusammenhang stehen“. Konkret fallen unter diese Rubrik das Verbot der Frauenordination, aber auch die Verurteilung von Schwangerschaftsabbruch und Euthanasie.

Die verurteilten „Modernisten“

Auf eine Dogmengeschichte in kritischer Absicht, die das wahre Evangelium hinter den dogmatischen Übermalungen wieder freilegen will, reagierten im 19. Jahrhundert Theorien der Dogmenentwicklung. Sie wollten zeigen, dass die Dogmen keine Verfälschung, sondern eine legitime Entfaltung des Evangeliums darstellen. Insbesondere die Katholische Tübinger Schule hatte sich bemüht, die Geschichtlichkeit des Dogmas zu bedenken. Unter Rückgriff auf Metaphern des Wachstums und des organischen Lebens hatten Johann Sebastian Drey und Adam Möhler die geschichtliche Dynamik des Dogmas erläutert. Aber unter dem langen Pontifikat von Pius IX. kamen diese Theorien zum Erliegen. Mit der Neuscholastik setzte sich ein abstraktes und ungeschichtliches Denken durch.

Unter Pius X. verschärfte sich die Krise. „Modernisten“, die Dogmen als symbolischen Ausdruck religiöser Erfahrungen deuteten, wurden verdächtigt und verurteilt. Das römische Lehramt wurde in der Abwehr von Irrlehren so kreativ, dass es, wie Seewald notiert, „selbst irre Lehren“ konstruierte. Gemeint ist die Konstruktion einer Gesamthäresie namens „Modernismus“: Agnostizismus, Immanentismus, Symbolismus oder Evolutionismus. Das Klima des Verdachts und der Denunziation hat die Kirche bis ins 20. Jahrhundert blockiert.

Was der eine Papst verurteilt, kann aber ein anderer Papst später in anderem Licht erscheinen lassen. Schon daran zeigt sich, dass auch das päpstliche Lehramt gewissen Wandlungen unterliegt. Pius X. verurteilte Theorien der Dogmenentwicklung als Modernismus. Der Antimodernisten-Eid, der bis 1967 von allen Klerikern geleistet werden musste, schloss die Absage an „die häretische Erdichtung von einer Evolution der Glaubenslehren“ ein.

Seewald weist darauf hin, dass ausgerechnet Pius XII. eine Evolution des Dogmas vornahm, als er 1950 die leibliche Aufnahme Mariens in den Himmel definierte. Dieses Dogma lässt sich mit neuscholastischen Methoden nicht rechtfertigen, es hat keinen direkten Anhalt in den Offenbarungsquellen und kann daher nicht durch „theologische Schlussfolgerung“ abgeleitet werden. Man muss, um es zu rechtfertigen, auf ein Mittel zurückgreifen, das noch vor Kurzem tabuisiert war: die Entwicklung des Dogmas.

Dogma im Vorläufigen

Während sich Karl Rahner noch intensiv um eine Erläuterung des Dogmas der leiblichen Aufnahme Mariens mühte, war der junge Joseph Ratzinger weniger zurückhaltend. Er lehnte den verengten Offenbarungsbegriff Pius’ X. offen ab. Die Offenbarung sei nicht mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossen, sie müsse vielmehr dynamisch als Begegnungsgeschehen gedeutet werden, das sich überall da ereigne, wo Menschen im Glauben auf das Nahekommen Gottes antworten. Die Dogmen sind nachgeordnet, sie sind nicht selbst Offenbarung, sondern haben eine die Offenbarung erläuternde und schützende Funktion. Walter Kasper unterstrich die eschatologische Vorläufigkeit der Dogmen.

Seewald sieht mehr Deutungsspielraum im Umgang mit Dogmen, die er als „Gewordenes im Werden“ verstanden wissen will. Die Offenbarung sei weiter als das, was in und durch Dogmen über sie ausgesagt werden kann. Das ist richtig. Sie sind aber zugleich inhaltliche Punktsetzungen und Wegmarkierungen, hinter die man nach einem Wort Rahners nicht zurück-, über die man allenfalls hinausgehen kann. Die Arbeit am Dogma besteht darin, den Sinngehalt der Lehraussagen, der an historische und kulturelle Kontexte gebunden ist, genau herauszuarbeiten und für die Gegenwart neu zu erschließen.

Die Geschichte des Ringens um eine Theorie der Dogmenentwicklung, die Seewald nachzeichnet, zeigt mit der Wandelbarkeit dogmatischer Ausdrucksformen zugleich die vielfältigen Bemühungen, diese zu verstehen. Die inhaltliche Bestimmtheit des Dogmas mag provozieren, und sie verlangt gewiss immer neue Bestimmungen, aber sie entspricht der Tatsache, dass Gott sich selbst als ein menschenfreundlicher Gott bestimmt und kundgetan hat. Dass es sich lohnt, darüber in einer dogmenmüden Zeit neu nachzudenken, auch das hat Michael Seewald durch seine eindrückliche Studie in Erinnerung gerufen.

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Seewald, Michael

Dogma im WandelWie Glaubenslehren sich entwickeln

Verlag Herder, Freiburg 2018, 334 S., 25 €

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