Theologe und Dichter zugleich, gibt Christian Lehnert schon im Titel dem Poeten christlicher Mystik aus dem 17. Jahrhundert Resonanz: Angelus Silesius mit seinem „Cherubinischen Wandersmann“, Pfarrer auch dieser. Klassisch sind dessen paarweise gereimte Alexandriner, diese „Sinnsprüche“, die das mystische Paradox ganz im Sinne Meister Eckharts und Johannes Taulers ausloten.
Die Lehnert’schen Doppelverse freilich kommen „aus einem Wörterbuch der natürlichen Erscheinungen“. Da ist von Schnee und Frost die Rede, von Sonnenuntergängen und Feuerkäfern. Und im dritten Teil der grandiosen Sammlung geht es um Baumgespräche wortwörtlich, mit kräftiger Präsenz des vulkanischen Mystikers Jakob Böhme.
Christian Lehnert gelingen lebendige „Naturaufnahmen“ zum Beispiel von Tieren wie dem Bachneunauge oder der Gabelweihe. Ihr lateinischer Fachname im Titel signalisiert den wissenschaftlichen Blick, und am Schluss steht der Bezug auf den biblischen Psalm: eben cherubinisch trotz allem.
Gerade in einer immer mehr digital werdenden technischen Welt sind es die „natürlichen“ Dinge, die noch und wieder sprechen, die durchaus romantisch „etwas“ zu sagen haben – und dieses „etwas“ ist „nichts“ im Vergleich zu allem sonst. „Es gibt nicht ,Gott‘, es spricht ein unentwegtes Geben, / in dem Er selber wird, in Dasein und Entschweben.“
Nicht zufällig ist die Metapher vom „Riss“ oft präsent. Zu vielen Gedichten gehört die genaue Orts-, ja Zeitangabe. „Staub“ zum Beispiel hat angesichts des Wütens des Islamischen Staats einen schrecklich genauen (Un-)Sinn, und die „Elegie an den Baal von Palmyra“ zeigt es.
Sehr oft sind biblische Sprach- und Bildwelten präsent, etwa Jakobs Überlebenstraum von der Himmelsleiter: „Die Öffnung, Nadelstich, noch immer brennt es weiter. / Ich weiß nicht, was es ist: Zu steil ist diese Leiter.“
Ein kleiner Zyklus spürt unbekümmert dem alten Motiv von den verehrten Wunden des Gekreuzigten nach. In der Hommage an die drei Könige heißt es von dem einen, und es könnte ein Motto des Ganzen sein: „Er hatte es satt, dass geschähe nur, was er verstünde.“ Immer also das Ausloten der „Grenzen der Syntax“: „Der Gott – Subjekt im Satz? Zuviel wird ER gesetzt, / zuviel gehegt, gehetzt. Das Schweigen birgt IHN jetzt.“
Welch ein Resonanzraum zum Innehalten, welch ein Vademecum zum genaueren Sehen und Sprechen!