Das christliche Abendland gegen Fremdes zu verteidigen, scheint manchen Zeitgenossen ein besonderes Anliegen zu sein. Die Anhänger eines solchen Projekts sollten sich dabei allerdings nicht auf die Bibel berufen. Dies macht Johann Hinrich Claussens sehr persönlicher und nicht minder theologisch fundierter Blick auf die Bücher des Alten und des Neuen Testaments unmissverständlich klar. Das Grunddokument des vermeintlich Eigenen ist ein Buch der Fremden, denn das Abendland stammt aus dem Morgenland – so lautet die Hauptthese des Kulturbeauftragten der evangelischen Kirche. Dieses Thema wird in vierzig verschiedenen Variationen beleuchtet.
Um die Tür zur Bibel zu finden, brauche man eine eigene Fragestellung, und seine, so der Autor, sei die Frage nach den Menschheitserfahrungen von Flucht und Vertreibung. Diese durchaus subjektive Hermeneutik führt zu interessanten Erkenntnissen – wie zum Beispiel derjenigen, dass der Polytheismus, also die Verehrung vieler Götter, eine Religionsform für verwurzelte Völker ist: „Vielleicht ist dies ein gemeinsames Kennzeichen der drei monotheistischen Weltreligionen, dass sie von Flüchtlingen und Heimatlosen ausgingen.“ Hier hätte sich der Leser einen Exkurs zum Monotheismus des Pharaos Echnaton gewünscht. Auch die Auseinandersetzung mit Jan Assmanns Monotheismuskritik erscheint eher halbherzig: Was als Intoleranz wahrgenommen werde, „ist bei Licht betrachtet seelischer Widerstand gegen die Imperien dieser Welt und ihrer Götter“. Dabei blendet Claussen aus, dass die drei monotheistischen Religionen in ihrer jeweiligen Geschichte durchaus Züge imperialer Unduldsamkeit ausbildeten.
Obwohl es Claussen bewusst nicht um Religionsgeschichte geht, sondern um die Erfahrung von Heimatlosigkeit und Ausgeliefertsein und um die Antworten, welche die biblischen Autoren auf sie gefunden haben, zeigt seine Herangehensweise eine besondere Sensibilität für kulturgeschichtliche und religionswissenschaftliche Fragen, etwa wenn er die prophetische Rede bei Amos und Jeremia als „Übersetzung von Trauma in Schuld“ deutet und somit als Mittel der Überwindung eines blinden Fatalismus. Wer sich selbst als schuldig und also verantwortlich erfährt, „der kann das Geschehen in einen Zusammenhang stellen, es deuten, darüber sprechen, eine Geschichte dazu erzählen“. Allerdings ist manchmal, etwa wenn sich der Autor mit Paulus’ „Flucht nach vorn“ beschäftigt, nicht ganz klar, ob er die selbstgewählte Heimatlosigkeit desjenigen, der sich zur Mission berufen fühlt, nicht mit dem Heimatverlust derjenigen verwechselt, die auf der Flucht vor Krieg und Gewalt sind.
Es wird aber immer wieder deutlich, dass Heimatlosigkeit, wie auch immer sie zustande kommt, den Menschen daran erinnert, dass wir zwar in dieser Welt leben, aber letztlich nicht in ihr „aufgehen“ – oder wie Claussen mit Blick auf den ersten Korintherbrief sagt: „Deshalb sollen wir in dieser Welt leben, als ob wir schon nicht mehr in ihr lebten“ (7,29–31). Wer seinen Alltag als gesichert erfährt, so Claussen, kann sich dies angesichts der biblischen Tradition immer wieder bewusst machen, und dann können die, die von Flucht und Vertreibung betroffen sind, auf die biblischen Gebote von Solidarität und Empathie hoffen. Indem er Jesu Worte „Nichts kann den Menschen unrein machen, was von außen in ihn hineingeht“ aus dem Markusevangelium zitiert, macht Claussen in letzter Konsequenz deutlich, dass mit der Bibel und dem Verweis auf das christliche Abendland keine Aus- und Abgrenzung gegenüber Fremden zu rechtfertigen ist.