Im Schweizer Kanton Sankt Gallen haben sich die Bürger vor kurzem bei einer Volksabstimmung mehrheitlich für ein Burka-Verbot ausgesprochen. Auch in Deutschland wird die Frage diskutiert, ob wir die Vollverschleierung von Frauen zulassen wollen oder nicht. Man mag dies für ein Randthema halten. Tatsächlich handelt es sich dabei aber um keine Nebensächlichkeit. Sondern es geht hier um die oft beschworenen, aber selten konkretisierten westlichen Werte, die es zu verteidigen gilt.
Was symbolisiert das von muslimischer Seite geforderte Tragen des Kopftuchs, dessen gesteigerte Variante die Verhüllung des Gesichts der Frau mittels Burka oder Niqab darstellt? Das Kopftuch und natürlich erst recht die völlige Verhüllung von Frauen dienen dazu, den männlichen Blick auf die weiblichen Reize zu verhindern. Das Verhüllungsgebot hat also einen rein sexuellen Hintergrund. Nun kann man argumentieren, dass fast alle Religionen in die Sexualmoral der Gläubigen einzugreifen beanspruchen; das ist auch im Christentum der Fall. Eine ungezügelte Sexualität ist etwas Antispirituelles, die Religion will den Menschen von einer Fixierung auf seine animalische Seite lösen.
Doch zwischen der christlichen und der muslimischen Regulierung der Sexualmoral bestehen entscheidende Unterschiede. Das Christentum erwartet von beiden Geschlechtern ein geläutertes Verhalten zu ihrer Sexualität. Im Islam hingegen soll sich die Frau verhüllen und sich damit in der Entfaltung ihrer Personalität einschränken, um dem Mann die Anstrengung zu ersparen, sich selbst zu beherrschen. Schon hier zeigt sich eine Ungleichbehandlung der Geschlechter, die mit unseren Menschenrechten – die Rechte für den Menschen und nicht für ein Geschlecht sind – unvereinbar ist. Der mitunter gezogene Vergleich zwischen islamischem Kopftuch und der Bekleidung von Nonnen geht völlig fehl. Nonnen stellen eine kleine Minderheit von Frauen dar, die selbst entscheiden, ihr Leben ganz Gott zu widmen. Das bedeutet: Sie entsagen allem Weltlichen, allem irdischen Schmuck und auch der Sexualität, weil sie völlig im Geistigen beziehungsweise Geistlichen leben möchten. Das ist eine Abkehr von irdischer Eitelkeit, die sie ganz für sich selbst vollziehen, ohne Bezug auf Dritte. Der Verzicht auf Sexualität steht dabei nicht im Mittelpunkt, sondern ist Folge der geistigen Orientierung.
Ein Kopftuch oder eine noch weitergehende Verhüllung sollen nach streng islamischen Maßstäben hingegen alle Frauen tragen. Sie werden dazu gezwungen, es ist keine freie Entscheidung. Der Grund dafür ist nicht das Leben im Geistigen, sondern das exklusive Zugriffsrecht des Ehemannes, das durch Verschleierung gegenüber anderen Männern gesichert wird. Die Frauen entsagen also keineswegs der Sexualität, sondern behalten diese nur dem eigenen Mann vor, der seine Frau vor den Blicken der anderen Männer abschirmt.
Verinnerlicht: der Männerblick
Die Frau gilt als Besitz des Mannes, und sein Zugriffsrecht ist laut Koran uneingeschränkt. Die Rechtsauffassung, dass es Vergewaltigung in der Ehe geben kann, wird man vor einem solchen Verständnis des Geschlechterverhältnisses schwer durchsetzen können. Erzwungene Verschleierung und Verlust der sexuellen Verfügungsfreiheit in Bezug auf den eigenen Körper verstoßen aber offensichtlich gegen das individuelle Selbstbestimmungsrecht, das Grundlage unserer Verfassungsordnung ist.
Wenn Frauen nun behaupten, das Kopftuch oder den Schleier von sich aus tragen zu wollen, haben sie ganz offenbar den männlichen Blick verinnerlicht. Denn warum fühlen sie sich „reiner“ oder „anständiger“, wenn sie außerhalb des Hauses ihre Haare oder ihr Gesicht verbergen, während sie sich innerhalb des Hauses im Spiegel ganz bestimmt ohne moralische Skrupel betrachten? Um es auszuhalten, sein ganzes Leben so eingeschränkt führen zu müssen, bleibt wahrscheinlich nichts anderes übrig, als sich einzureden, man selbst wolle es so – der letzte Rest an Selbstbestimmung, der dann bleibt.
Die Frauenverachtung, die in dem islamischen „Vermummungsgebot“ liegt, macht zudem vor den nichtmuslimischen Frauen nicht halt. Wenn eine „anständige“ Frau sich verhüllt, müssen alle unverhüllten Frauen als unanständig gelten. Es ist dann kein Wunder, wenn sie als Freiwild betrachtet werden. Eine unerträgliche Verharmlosung stellt es in diesem Zusammenhang übrigens dar, wenn – durchaus auch von Feministinnen! – darauf verwiesen wird, dass es auf dem Oktoberfest und ähnlichen Veranstaltungen auch Übergriffe auf Frauen gebe, über die sich aber niemand besonders aufrege. Das verkennt den gewaltigen Unterschied zwischen dem Zugriff aus Begehren und dem Zugriff aus reiner Machtdemonstration, der den anderen restlos zum verachteten Objekt degradiert.
Wiegt all dies bereits schwer genug, so hat die Totalverschleierung eine ganz unmittelbar politische Dimension: Sie verbannt die Frau aus dem öffentlichen Raum. Wenn Demokratie nicht zuletzt das freie Handeln im öffentlichen Raum bedeutet, so wird die verhüllte und das heißt auch die entpersonalisierte Frau dieses Rechts beraubt. Die Frau als Person existiert dann nur im Privaten. Das widerspricht unserem grundlegenden demokratischen Selbstverständnis, das demokratische Teilhabe an Individualität bindet, die als solche auch sichtbar ist. Es widerspricht ebenfalls einem Rechtsverständnis, das sich nicht auf das Geschlecht, sondern auf personale Identität gründet.
Gegen eine Totalverschleierung der Frau mögen auch Sicherheitsbedenken geltend gemacht werden. Noch viel grundlegender aber ist, dass in ihr ein Angriff auf unser Verständnis von Personsein liegt. Können wir das Tragen des Kopftuchs schon nicht verhindern – was möglicherweise schlicht Ausdruck einer zu weit gehenden Toleranz ist –, so sollten wir die Totalverschleierung auf keinen Fall akzeptieren. Und wenn das mit dem Recht auf Religionsfreiheit kollidiert? Eine Kollision von Grundrechten ist etwas durchaus Normales. Wir sollten sie aber so auflösen, dass wir nicht den Boden gefährden, auf dem diese Grundrechte überhaupt nur gedeihen können.
Lesen Sie zu diesem Thema auch: Die Verhüllung von Johannes Röser.